Martin Kippenberger (Der Verriss)

Porträt
erschienen im April 1989 in Wiener
neu durchgesehen
ER ist ein Ekel. Er säuft, furzt und sagt zu jeder Frau „Fut“. Aber er ist wahrscheinlich der größte deutsche Künstler seit Beuys. Joachim Lottmann zeigt Martin Kippenberger, wie Sie ihn nie zu sehen wünschen

Wenn es in meiner Jugend ein IDOL gegeben hat … gewiß, Willy Brandt kniete vor Polen, David Bowie schrieb Let’s Dance, Desirée Nosbusch moderierte in fünf Sprachen … Erich Mende trug öffentlich das Eiserne Kreuz … nein, mein IDOL war vom siebzehnten Lebensjahr an: Martin Kippenberger. Das war ein Berserker, vor dem sich alle Jugendgangs fürchteten, ein aufgedrehter, wirrer Monomane, der 700 LSD-Trips in Folge schluckte, tagsüber. Nachts nahm er Captagon, um keine Sekunde an den Schlaf zu verschenken. So viele Trips in Folge er nahm, so viele Mädchen hatte er auch. Er saugte das ganze Mädchenmaterial einer ganzen Großstadt ab …

Er liebte es, sich zu raufen. In Berlin geriet er in eine Schlägerei mit achthundert Konzertbesuchern. Von der acht Meter hohen Bühne war er mit einem Schrei des Entzückens direkt in die brodelnde Menschenmenge gesprungen. Sein Vater war Künstler, seine Mutter war Künstlerin, er selbst verachtete das alles und schuf eine Kunstrichtung, die allen bisherigen „Kultur“-Ansätzen diametral entgegensteht. Er ist seit Beuys’ Tod der wichtigste Mann in Deutschland, vielleicht ganz Europas.

Doch soviele Millionen er auch verdient – seine spezielle Form der rasenden Konsumption und Konsumzerstörung treibt alle Konten ins Minus und seine Milliarden Gläubiger zur Verzweiflung. Er fällt tagtäglich in die Einkaufspassagen der deutschen Städte ein, mitsamt seinen Elefanten wie Hannibal, also mit seinen „Burschen“, den zahllosen Assistenten, Bewunderern, Kollegen, Frauen, Kindern, Polizisten, kommunalen Parlamentariern, dem Hund von Albert Oehlen und dem Berichterstatter vom WIENER. Er zieht mit einem Clan von Ausstellung zu Ausstellung wie Muhammed Ali von Kampf zu Kampf. Er treibt tiefe Schneisen in die Geschäftsviertel. Da, wo er war, gibt es anschließend nichts mehr zu kaufen.

ER – so wollen wir Martin Kippenberger abkürzungshalber in den kommenden Zeilen nennen (ER selbst hat es so gewollt) – ist die Zusammenfassung aller kraftgenialisch-deutscher Phantasien von Zuckmayer, Stefan George und Wolf Wondrascheck bis Boris Becker und Georg Baselitz heute. Der letzte große Mann, Siegfried mit dem Schwert, ein potentieller Reichsgründer, größer als Bismarck, der Künstler als Genie, der Charismatiker, der Unwiderstehliche, der Führer, der hardcore Baghwan. Einer wie er könnte Khomeini das Fürchten lehren. Neun Schwestern hat er gehabt. Sie haben ihn über alles geliebt, den einzigen Jungen in der Familie.

Seit einer Woche wohnt er im Hotel Chelsea. Ich sehe ihn jeden Tag. Die Crew hat tiefe Ringe unter den Augen. Eigentlich wollte ich ihn nicht interviewen, aber es ist unmöglich, IHM zu entgehen. Ich muß über IHN schreiben. Ich muß es endlich loswerden. Ich will wieder frei atmen.

Sie trinken Tag und Nacht. Sie spielen „Offizierskasino“: Ein Stuhl wird auf den Tisch gestellt, auf den Stuhl eine Flasche. Alle steigen über Tisch und Stuhl, trinken aus der Flasche, bis sie tot umfallen. Der letzte Überlebende hat gewonnen.

Sie trinken immer, morgens, mittags, abends. Wenn sie nicht „Offizierskasino“ spielen oder einkaufen, sitzen sie um IHN herum, grinsen, schweigen, hören zu. ER spricht. ER spricht und spricht und spricht und spricht und spricht. ER hört nie auf.

„… Förg. Das Beleidigungsprogramm. Der beleidigt alle, der Förgi, aber rucki-zucki, ha ha ha! Den Bruder von Ascan Crone. Der hat die Binationale gemacht. Wenn es um Juden geht, dann sagen wir dem schon, dem Güntherchen: Hey, sag’ alles, mach’ ihn fertig, aber mach um Gottes Willen nicht deine blöde Heil-Hitler-Nummer. Hält er sich auch dran. Ganz erstaunlich, acht Promille, und trotzdem. Wir kennen das ja, das Beleidigungsprogramm. Wir wissen ja, was kommt. Naja, und wenn’s ein Schwuler ist, sagen wir: Gut, Förgilein, mach’ ihn alle, aber sag’ nicht schwule Sau zu ihm. So war das. Hat sich auch dran gehalten. Und er macht ihn fertig, aber wirklich das volle Rohr, und da hängt so ein Gerhard Richter an der Wand, genau hinter dem Crone. Fängt der an, der Förg. Sagt der: ‚Stehen Sie sofort auf!‘ Sagt der zum Crone, dem Kunsthallen- und Sonstwas-Chef. ‚Sehen Sie sich dieses Richter-Bild an. Treten Sie fünfzehn Meter weg und sehen Sie noch mal drei Sekunden lang hin. Und dann HÄNGEN SIE ES SOFORT AB!! Diesen Scheiß!! Diese Wichse!!‘ So fängt der an, der Förg. Und wir wissen schon, was kommt. Und der macht ihn fix und fertig. Scheißt ihn total zusammen. Das gute alte Beleidigungsprogramm. Den ganzen Abend. Crone sitzt kalkweiß da, tut so, als könne er’s lustig nehmen. Und wir fragen uns schon: Warum sagt der überhaupt nicht ‚schwule Sau‘? Der Crone ist ja schwul. Das wär’ der Genickschuß. Aber er sagt’s nicht. Sehr diszipliniert, der Förgi. Kann kaum noch aus den Augen gucken. Ist ja so, mit dem Beleidigungsprogramm: erst scheißt man sie zusammen, dann versöhnt man sich, und dann stellen sie einen aus, die Schweine, fressen einem aus der Hand … so macht’s der Günter, ich nicht. Ich hab’ nichts gegen Menschen, erst recht nicht gegen Galeristen. Ich hab’ kein Feindbild. Aber der Förgi, der macht das so. Diesen Leuten, Museum hier, Kunsthalle da, Direktorenposten dort, denen alle in den Arsch kriechen, denen sagt der Förgi auch mal ein paar andere Wahrheiten, ha ha ha. Da steht der nicht so drauf, aufs Geschleime. Na ja, also er sagt nicht ‚schwule Sau‘ zu ihm, und dann, ganz am Ende, als alle fertig sind, beugt der sich vor und flüstert: ‚Du bist so dumm wie Du schwul bist.‘ Sagt es DOCH. Und der Mann bricht ein, das Gesicht fällt runter, Ende von allem, der is’ hin. Und rennt zum Telefon und spricht erst mal ‚ne Dreiviertelstunde mit einem Schwulifreund. Und kommt wieder, immer noch leichenblaß, versöhnt sich mit Förg, macht auf lustig, so gut er eben noch kann. Seitdem: Alles paletti. Förg hat einen neuen Förderer, lebenslang. So läuft das da. Das Beleidigungsprogramm. Ich find’s toll. Immer erfolgreich. Ich glaub’, ich mach’ das auch mal…”

Beifälliges Gegrunze. Das sind die Geschichten, die die Clique gerne hört, sogar der Berichterstatter vom WIENER. Also gehen sie so weiter, gehen sofort über in die nächste Anekdote, man kann es unmöglich alles aufschreiben. Um meinen Auftrag ordnungsgemäß abzuwickeln, stelle ich IHM gleich zu Anfang zehn stinknormale Reporterfragen. Sie seien wiedergegeben.

Wie finden Sie den Künstler Markus Lüpertz?

„Ein ganz Lieber, wenn man mit ihm alleine ist. Der kriegt einen Sarg beim Begräbnis. Der kriegt kein Sartre-Begräbnis.“

Wie finden Sie Andy Warhol?

„In Kindesaugen habe ich Altersschwäche gesehen. Trifft auch für Gerhard Richter in höherem Maße zu. Der hat sich auch nie geopfert. Der Richter. Der kennt keinen Altar, der kennt nur Techniken.“

Seltsam, diese Abneigung gegen diesen großen deutschen Künstler, dessen Gemälde bald die Millionengrenze erreichen werden, die Schallgrenze. Woran liegt es wirklich? An der Baader-Meinhof-Ausstellung letzte Woche?

„Die Baader-Meinhof-Bande: lächerlich! Und das heute! Spielt nachträglich den Revoluzzer! Will plötzlich was zu SAGEN haben!“

Wie finden Sie Joseph Beuys?

„Er hat uns Walter Dahn geschenkt. Alles andere ist unwichtig.“

Wie finden Sie den denn, Dahn?

„Das ist das Kunst-Ottoversands-Paket. Ich wünsche ihm alles Gute für die Tokio-Tournee, wo alle Deutschen geliebt werden.“

Walter Dahn gilt als der einzige ernstzunehmende radikale Gegenentwurf zu Ihrer Kunstauffassung und -praxis heutzutage. Viele meinen, Dahns Arbeit spiele bereits im 21. Jahrhundert, während ihre Arbeiten die Lebensumwelt der 70er Jahre reflektieren würden. Was sagen Sie dazu?

„Nicht alt sei es, nicht neu sei es, gut sei es.“

Dahn erzielt schon jetzt höhere Preise als Sie. Die Menschen lieben ihn. Er ist freundlich und vorurteilslos zu jedermann. Einen Großteil seines Geldes gibt er dafür aus, armen Künstlerkollegen zu helfen, sie zu beschäftigen, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Er ist glücklich verheiratet, hat mit dem Saufen aufgehört, lebt am Tag, schläft in der Nacht. Hassen Sie ihn?

„Es ist wirklich so: Ich habe kein Feindbild. Das unterscheidet mich von allen anderen Menschen. Ich kenne nicht einen einzigen schlechten Menschen. Es gibt nämlich keine. Es gibt keine guten und keine schlechten Menschen. Sie sind immer beides zugleich.“

Warum umgeben Sie sich mit so einem Haufen dahergelaufener Claqueure? Wollen Sie unbedingt geliebt werden? Können Sie nicht alleine sein?

„Sehen Sie – SIE sind es, der zwischen guten und schlechten Menschen unterscheidet. Ich habe wirklich keine Feinde …“

Oh doch!

„… natürlich gibt’s ein paar Arschlöcher, Vermieter und so Leute, Immobilienmakler, klar, aber das macht mir nichts, mir reicht eine Einseitigkeit. Man muß die Sache nicht genauso ähnlich sehen wie ich. Auch Dummheit kann ja zur Kunst werden.“

Dennoch haben Sie Legionen von Feinden.

„Die strengen sich nicht genug an. Das ist deren Problem, daß sie mich zum Feind machen. Interessiert mich einfach nicht.“

Möchten Sie Professor an der Kunstakademie Düsseldorf werden?

„Ich unterrichte lieber Rechtsanwälte.“

Wie wird die Zukunft aussehen?

„Ich werde 72, bekomme vier Kinder, die haben alle Mädel zu sein. Wenn’s Jungs sind, werden sie auf die Straße gesetzt, mit einem Schild um: Bitte nicht nach Hause schicken. Natürlich warm eingepackt.“

Haben Sie sich schon einmal mit dem Faschismus beschäftigt?

„Ich werde mich hüten. Ich kann mich doch nicht mit der ganzen Welt auf einmal abgeben.“

Überwiegt nicht bei manchen Menschen das Gute, bei manchen das Schlechte, etwa bei Nazis?

„Nein, niemals. Ist immer in Balance. Die Welt ist es, die die Nazis macht, nicht umgekehrt. Man muß die Welt erklären.“

Fühlen Sie sich einsam?

„Für einen Familienmenschen gibt es keine Einsamkeit.“

Sie reißen gerne Konventionen ein?

„Das ist doch keine Anstrengung. Das ist wie Zigaretten ziehen.“

Betrügen Sie Frauen?

„ ‚Betrug’ gibt’s in dem Bereich doch nicht. Ist doch ganz ehrlich da, im Bett und so. Es gibt Leute schlecht behandeln, das auch noch erzählen, das öffentlich machen, also weh tun.“

Es heißt, Sie haben vier Frauen, die gleichzeitig Kinder für Sie austragen. Wie geht das?

„Den Plan hatte ich durchaus. Aber jetzt lasse ich lieber per Suchanzeige alle schon bestehenden unehelichen Kinder aufspüren. Die erben dann meine Schulden. Ich will ja nicht, wenn ich nach Hause komme, einen Fernseher aus dem zweiten Stock auf den Kopf bekommen. Die Kopfaußenhaut ist zu sensibel.“

Soweit meine Fragen. Während er mir antwortete, hatten sich die „Burschen“ an einen langen Tisch verzogen. Nun, da ich das offizielle Interview in der Tasche hatte, konnte ich mich entspannt dem Zirkus anschließen und einfach mitfeiern. Ich mußte fortan nichts mehr sagen. NICHT EIN WORT, es wäre nur als Störung empfunden worden. Champagnerselig schunkelte ich mit den anderen um IHN herum. 72 Stunden lang dröhnte ich ab, mit den Burschen, von Bar zu Bar. Ich lernte jeden Winkel der hippen Kunstszene Deutschlands kennen, jede Espressomaschine, jeden Privatkellner, jedes Art-Groupie.

Im Rathenau, im Belgischen Viertel, es ist „erst“ drei Uhr nachts. Der Abend beginnt. Alle sind schon schrecklich besoffen. Kippenberger hat ein kleines Mädchen auf dem Schoß. Das kleine Mädchen hat aber einen kleinen Freund, der sitzt ängstlich am Nebentisch, harrt aus, will nicht gehen. Die Clique ist auf zwanzig Mann angewachsen. Aber Kippi will eine Frau. Von den zwanzig „Burschen“ haben nur zwei eine Frau mitgebracht, nämlich Daniel Bettermann und noch einer. Letzterer hat eine hässliche Figur dabei, aber die langjährige Freundin von Daniel Bettermann, die ist wunderschön: blauschwarze, seidene Haare, rote Lippen, heller Teint. Nur ist Daniel einer der „besten“ Freunde des Meisters, sozusagen ein Oberbursche. Früher war er ein Schüler, dann Meisterschüler, dann Assistent bei Kippenberger, Assistieren tut er heute noch, aber wie weit geht das?

„Ich bin so geil, so irr-sin-nig SCHARF …“ sagt Kippi schon den ganzen Tag. Das kleine Mädchen springt ihm vom Schoß. Er greift unbeholfen nach ihr.

„Komm her, Püppi … bleib jetzt hier … gib mir einen Kuß.“

Er hat seine besoffenen Männerarme um ihre kindliche Taille geschlungen. Sie ist höchstens 17.

„Zwanzig ist sie!“, ruft er. Sie ist blond, hat blaue, grün schimmernde Augen, schimmernd wie große Glasmurmeln, dazu ein niedliches, ovales Gesicht. La belle et la bête. King Kong und das weiße Mädchen. Sie wiegt höchstens vierzig Kilo, Kippenberger hundertvierzig.

Ein neuer Bursche tritt an den Tisch, Unruhe entsteht, das Vögelchen will wieder wegfliegen. Kippenberger küsst sie auf die Lippen. Der Bursche benimmt sich beim Hinsetzten so ungeschickt, daß Kippenberger die Hände hochnehmen muß. Flatter-flatter! Weg ist er, der kleine Rauschgoldengel. Das Mädchen ist entwischt. Aber der Meister will „Fut“ haben. „Ich sehe den ganzen Tag nur Titten und Ärsche! Ich dreh‘ noch durch! Ich hab‘ mir schon zwei blasen lassen, aber ich bin GEIL … Blasen gut und schön, aber ich will ficken.“

Er guckt sich um. Die Bedienung! Noch frisch, noch jung, noch kräftig, und prächtige, überproportional große Titten. Er winkt sie heran. Die Clique schmunzelt, gluckst. Ein paar halten bereits ein vorgezogenes Nickerchen, sind ganz allein mit ihrem bayerischen Bierglas und ihren infantilen, präpotenten Tagträumen. Der Kippi, der macht das alles für sie. Sie selbst kennen Frauen nur aus den Wichsmagazinen, aber der Kippi, der hat dafür gleich in jeder Nacht mehrere. Der macht das stellvertretend, der wird besser fertig mit dem anderen Geschlecht …

Er redet mit der Bedienung, faßt sie an. Gott, sie hat wirklich Holz vor der Hütte. Drall und drahtig ist sie, keine vierundzwanzig, Hakennase, blitzende Augen, Haß. Ein elektrischer Schlag, wieder nichts! Bei der kommt er nicht an. Er pöbelt herum. Er ist so geil! Alle verstehen ihn. Geil ist er, der Arme, das kennt man, das ist jedem schon mal passiert!

Nun wirft er sich auf die funkelnde, noch unbeschädigte Freundin seines „Freundes“ Daniel Bettermann.

„Hey, du siehst so aus, als ob ich dich gleich vergewaltige.“

„So?“, sagt diese Frau in einem der Burschenrunde unbekannten Tonfall, so seltsam aufrichtig. „Ich bin noch nie vergewaltigt worden und werde auch nie vergewaltigt werden.“

„Du wirst es jetzt schon!“, faucht der alte Monsterich.

„Das kann ich so nicht finden. Inwiefern denn?“ Ein Aussehen wie Schneewittchen, aber eine Stimme wie eine SPD-Bundestagsabgeordnete.

„Wir werden heute nacht ins Bett gehen, das steht jedenfalls schon fest, ha ha ha. Darauf kann sich hier jeder im Saal verlassen. Du weißt es ganz genau, ha ha ha.“

„Ja, gewiß, sicherlich, ich wollte nur betonen, daß…“

Sie verheddert sich. Der SPD-Tonfall rutscht ihr irgendwie an die falsche Stelle. Daniel beginnt zu zittern. Er versucht, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Kippenberger wirft sich mit aller Kraft auf die Frau, geht sie frontal an, kümmert sich um nichts anders mehr, starrt sie mit weit aufgerissenen Augen an, greift sie am Oberarm, unglaublich fest, so daß es blaue Flecken gibt, steht auf, zerrt sie zur Seite, führt sie ab. Sie wehrt sich, zappelt, aber er führt sie aus dem Lokal wie ein US-Polizist eine aufgegriffene illegale Nutte. Die Burschen schlagen sich auf die Schenkel. Was für eine Szene! Mal wieder unschlagbar, der Kippi, filmreif! Brüllend lustig! Wenn DER geil ist, dann IST der auch geil, ho ho ho … man wartet ab, bis er zurückkommt, der gute Kippi, und die nächste Gaudi liefert!

Unendlich viele Biere, Moet & Chandons, Tequilas und Lokale später, Stunden später (Tage?), im Alten Spitz in der Mittelstraße (Kölner Innenstadt): Kippenberger lacht, er verklärt sich. Er ist Baal. Seit drei Stunden erzählt er Witze. Neidlos muß ich anerkennen – das perfekte Unterhaltungsprogramm. Besser noch als Förgs Beleidigungsprogramm. Er steht auf dem abgedunkelten Tresen (Man kann nur noch ahnen, wieviele Nasen noch zugucken von der Clique) und läßt die Hosen runter.

„Glühwürmchen, Glühwürmchen, glühe …“ Er ist ein guter Tänzer, ob mit oder ohne freiem Ding. Er wiegt sich hin und her, stößt mit dem Becken in Richtung einiger anwesender „Fut“. Das Wort Frauen haßt er. Es sind neue „Fut“, eine blonde und eine dunkelhaarig brünette Frau, beide gutaussehend. Die Brünette lacht manchmal kleinmädchenhaft auf, die Blonde ist nachdenklich, wirkt leicht deprimiert. Kippenberger läßt sich eine Zeitung geben, knüllt sie in der Mitte, spitzt sie an, steckt sie sich in den Hintern und zündet sie an. Großes Gejohle, Rockkonzert, dummdeutsche Rufe: „Jeii!“

Wieder runter, wieder Gebrabbel, Witze, Angebereien, Gospel. Wer ist der tollste, größte Künstler auf der ganzen Welt?

„Der Kippi!!!“

Jeii! Und schon wieder ist er so menschlich-allzumenschlich „geil“ … und eine der beiden Frauen muß dran glauben … aber es dauert so lange … und ich bin wieder dabei, und tue so, als wäre alles heiter.

Der letzte Tag. Vierzig Leute essen auf Kippis Kosten. Er hat eine Party arrangiert. Er hat Geburtstag. Er darf sich alles wünschen. An seinem Geburtstag darf eine Frau ihm nichts abschlagen. Einige erzählen, er sei gar nicht so ungestüm, wie man vermute. Es stimme nicht, daß er nachts nicht schlafe. Am Ende der ewigen Show breche er zusammen wie einst Onkel Adolf nach einer 5-Stunden-Rede im Bürgerbräukeller, versinke in traumlose verzweifelte Ohnmacht, da gingen alle Lampen aus, da sei nur noch Wimmern und Schlafen angesagt. Das sagen einige Frauen. Andere sagen etwas anderes. Ich sage: der Mann verbrennt, und die Kunst, die dabei entsteht, ist phantastisch. Als Künstler ist er mit Abstand das Beste, was wir in Europa haben, zusammen mit Walter Dahn. Was ist selbst ein Albert Oehlen dagegen, der ja auch nicht schlecht ist: brotlos, ein Mann ohne Thema. Kippenberger bringt den Wahnsinn des ausgehenden Jahrhunderts auf den Punkt. Dahn ahnt das kommende Jahrhundert genial vorweg. Das muß einmal gesagt werden. Daß die KUNST des Herrn K. über jeden Zweifel erhaben ist. Wir wollen nicht NUR lästern, nicht NUR über die „Fut“ schreiben. Wir sind nicht NUR Klatschreporter. Und wir wollen auch der hämisch denunzierten Clique zugute halten, daß die einzelnen Leute WISSEN, wie gut die KUNST des Martin Kippenberger ist, daß sie DESWEGEN das Kasperletheater dulden, zumindest AUCH deswegen. Viele werden sich vielleicht auch ganz einfach amüsieren. Werden die stressy show goutieren. Josef Strau: „Unterhaltung, aber vom Feinsten. Da geht nix drüber. Da bin i ganz staad. Da will i net störn!“ Er hat glänzende Augen. Niemand pfuscht dem Kippi in die tägliche One-man-Performance hinein, ist doch logo!

Dennoch stört mich das andauernde Besudeln und Abschleppen von Frauen, pardon, „Fut“, einigt man sich auf „Art-Groupies“, lieber Leser, verehrte Leserin? Das sind sie dann wohl doch oder? Vielleicht die Hälfte? Die andere rutscht zufällig in diese schiefe Rutschbahn. Auch an diesem Geburtstag. Da sitzen sie wieder in Reihe, die Hühner. Vor ihnen tanzt ALF, der Außerirdische. Alle sehen ALF. Alle sind sie erst acht Jahre alt. Alle wohnen in prolly Vorstadthäuschen und starren in die Video-Glotze.

Der Mann ist ein Kind. Die ist gut, aber dieses Kind ist eine Katastrophe. Es ist nicht zum aushalten. Er protzt wieder wie ein Weltmeister. Die Blonde hat er schon gehabt, jetzt kommt die Brünette dran, heute, am Ende der Reise. Ich will einmal den Helden spielen, wg. Rushdie. Kampf den Mullahs! Sollen 500 Jahre europäische Geistesgeschichte umsonst gewesen sein? Sollen die Frauen wieder verschleiert gehen? Ich nehme mir vor (Es ist zwei Uhr nachts), die Brünette zu beschützen. Ich stelle plötzlich das weitere Trinken ein, ganz unbewußt. Ich denke an Martin Luther, an Erasmus von Rotterdam, an Lessing, an Marx und an Thomas Bernhardt. Sollen diese vortrefflichen Menschen alle umsonst gelebt haben? Mein Herz beginnt zu rasen. Kippi erzählt gerade eine Geschichte, wie er kürzlich eine bekannte Schweizer Sammlerin zwei Tage ununterbrochen abgefüllt und angebaggert hatte, bis sie endlich kaufte. Diese elende Fotz’ war der härteste Brocken, den er je hatte! Die hat sich gesträubt wie nichts Gutes! So eine Zicke! Sowas Widerspenstiges! So eine kranke Tante! Er schüttelt sich vor Abscheu.

Dann kommen wieder Witze dran. Ich kenne sie inzwischen auswendig. Am Tisch sitzen nahezu alle hochkarätigen Persönlichkeiten der Kölner Gegenwartskunstszene. Ich nenne keine Namen, diese Reportage wird mich ohnehin aus der Szene katapultieren. Man wird ein Kopfgeld auf mich aussetzen. Ich bin Rushdie. Aber vorher muß ich noch diese Brünette retten. Ihr anfängliches Kleinmädchenlachen ist längst selten geworden. Ich bin mir über vieles im Unklaren, aber eines weiß ich mit Gewißheit: Das Erlebnis, daß dieses Mädchen mit Kippenberger haben würde, wäre scheußlich für sie.

Aber ich werde schwach. 72 Stunden Saufen. Mir wird weich in den Knien. Er ist doch auch ein Mensch, der Kippi. Er hat etwas Dämonisches. Die Faszination des Dämonischen, der wir Deutschen so oft erliegen. Aber es ist doch nur Schwäche, so zu denken. Alles Unsinn. Dämonen gibt’s nicht. Faule Ausreden.

Kippi hottet über Teller und Gläser, tanzt den Verrückten-Shuffle, zerbeißt das Glas der Rotweinkelche, springt an den Kronleuchter, läßt sich wie ein Stein zu Boden fallen, knöpft die Hose auf, züngelt mit der Zunge herum wie einst Gene Simmons von der Gruppe Kiss. Er babbelt und sabbelt, nuschelt, ist der verwegene Anarchist, wie die bourgeoisen Weinkeller-Galeristen ihn sich erträumen. Seit hundert Jahren derselbe Traum. Die einen Träumen, die anderen machen ihren Beruf. Was ist daran auszusetzen?

Nichts. Man entferne nur die Opfer. Ich habe das Mädchen nach draußen geführt, was gar nicht so schwer war. Wahrscheinlich hat sie sich ein kleines bißchen erleichtert gefühlt, aber das kann man nur mutmaßen – gezeigt hat sie es nicht. Ich hatte eher das Gefühl, daß sie es schon im Taxi bereuen würde.