Meine Tugend und meine sittliche Verwilderung

Feuilleton
zitiert nach: Hans Bender [Hrsg]: Klassiker des Feuilletons, Stuttgart 1967. S. 109-114.

Daß ich mir in den letzten Monaten des Jahres 1908 so höchst tugendhaft vorkam, bis dann plötzlich ein Vorfall meine im geheimen fortwuchernde sittliche Verwahrlosung in wahrhaft erschreckender Weise an den Tag brachte, daran war eine von Conrad Ferdinand Meyer in einem Briefe an Adolf Frey hingeworfene Äußerung schuld. Er schrieb dem jungen Freunde (im Zusammenhang mit dem Gedanken, wie schwer es doch dem Dichter falle, verständnisvolle Rezensenten zu finden) wörtlich: „Die Sache ist die, daß von den namhaften Schriftstellern jeder so voll von sich selbst ist, daß ihm jedes liebevolle oder auch nur gerechte Eingehen auf Fremdes eine schmerzhafte Bewegung ist.“

Als ich diese, weiß Gott! nur allzu wahren Worte las und über sie nachdachte, konnte ich mich auf einmal der Wahrnehmung nicht entziehen, daß ich die von Meyer als schmerzhaft charakterisierte Bewegung nun bereits seit achtundzwanzig Jahren in mein literarischen Berichterstattung tagtäglich ausführte. Berufsmäßig, aber dabei auch gerecht, ging ich auf Fremdes ein und vertiefte mich, namentlich in den letzten drei Jahren, unter Verzicht auf alles, was ich an Eigenem gern geschafft hätte, in die Werke der zahllosen anderen mit solchem Eifer, daß man auf mich - da Rezensenten ohnehin Hunde sein sollen - das bekannte Sprichwort mit der kleinen Variante hätte anwenden können: „Viele Hasen sind des Hundes Tod.“

Indem ich dergleichen Erwägungen, da sie auf Tatsächlichkeit beruhten, nicht wohl abweisen konnte, erwachte in mir eine gefährliche Selbstgerechtigkeit. Herrgott! fing ich an mir vorzusagen - du übst ja seit mehr als einem Menschenalter die Krone aller Tugenden, die Selbstüberwindung. Wie ein Kaminfegerjunge in die Schornsteine, kriechst du in die Seelen und in die Gehirnwindungen aller möglichen schriftstellernden Damen und Herren hinein und bist bei dir selber gar nicht mehr zu Hause. Deine Entwürfe, an denen dein Herz hängt, lässest du in einer Truhe modern, die du nie öffnest, an der du dich wie an einem Sarge scheu vorbeidrückst; aber was alle die anderen ausspekuliert haben, das nimmst du wichtig, in das vergräbst du dich. Wenn du von Natur ein Teufel gewesen wärest - und du warst es vielleicht -, bei diesem Leben, bei so fortgesetzt altruistischem Tun mußt du nach und nach der reine Engel geworden sein.

Es fehlte nicht viel, so hätte ich mich vor einen Spiegel gestellt und in heller Selbstbewunderung die Worte ausgerufen, die ich einmal in einem englischen Kinderbuche unter dem Bild eines sein Butterbrot verzehrenden, kleinen dicken Buben las: What a good boy I am! Und dabei gab ich mein Butterbrot anderen!

Durch ein liebliches Erlebnis, das mir an einem schönen Oktobersonntag auf dem Burghügel hinter Sarnen im Obwaldnerländchen beschieden war, wurde dieses Tugendbewußtsein noch gesteigert. An jenem 18. Oktober war ich, nur von meinem Hündchen begleitet, über den Brünigpaß marschiert und hatte am späten Nachmittag da, wo einst die Burg des Landvogts Landenberg gestanden, mich auf eine der Ruhebänke niedergelassen, die auf dem mit hübschen Bäumen bepflanzten Hügelplateau stehen. Die Ortschaft Sarnen hat man zu Füßen. Der Platz dient auch als Versammlungsort der Landsgemeinde, für die im Halbkreis steinerne Sitzreihen übereinander ganz in der Art eines antiken Amphitheaters angebracht sind.

Über diese Stufen herab, mir gerade gegenüber, kamen auf einmal vier kleine Mädchen, die irgendwo in der Nähe mochten gespielt haben; die kleinste etwa fünf, die größte höchstens zehn Jahre alt. Anden Händen hielten sie sich angefaßt und hüpften über die Stufen leicht und sicher. Jetzt erblickten sie den Fremden und sein Hündchen. Und da dieses ein Tierchen ist, dem man die Zutraulichkeit von weitem ansieht, konnten sie der Versuchung nicht widerstehen, sich näher heranzumachen und das zu meinen Füßen ruhende Hündchen, das an solchen Tribut schon gewöhnt ist, zu tätscheln und zu streicheln. Da war nun aber die Zehnjährige, ein blondes Kind in weißem Kaschmirkleidchen, ein Wesen von solcher Edelrasse der feinen, zarten und doch stolzenZüge, ja von solch blendender Schönheit, daß ich mir im stillen sagte, wenn in irgendeiner Königsfamilie eine solche Prinzessin existierte, wie würde die Welt von der Bewunderung des herrlichen Geschöpfes erfüllt sein. Innerlich beglückt, daß es so was gibt und ich es zu schauen bekam, aber auch mit der scheuen Andacht, mit der man ein lebendiges Märchen, eine entzückende Elfe betrachten würde, sah ich nach dem holden Kinde. Und nun hatte die Kleine, was mir übrigens selbstverständlich war, zu allem noch den feinen Herzenstakt, den man an einer Prinzessin als angeboren bezeichnen würde. Sie fand es nicht richtig, wie ihre kleinen Gespielinnen sich nur mit dem Hündchen beschäftigten, ohne dessen Herrn begrüßt zu haben. So trat sie an mich heran, grüßte mich mit freiem Anstand und zugleich mit jener Zurückhaltung, die auch in einem schönen Kinde bereits als natürliche Schutzwehr gegen allfällige zu dreiste Annäherung aufgerichtet ist. Meine Rede zu ihr war denn auch in Ton und Sinn behutsam, wie wenn es gälte, einen Schmetterling, der sich neben mir niedergelassen, mit keiner falschen Bewegung zu verscheuchen; mit Schillers Mädchen aus der Fremde hätte ich nicht ehrerbietiger sprechen können, wenn es mir erschienen wäre. Vom Hündchen war die Rede, wo es zu Hause, daß es heute schon über einen großen Berg gegangen sei, im Lungern- und Sarnersee geschwommen habe, daß man seine Rasse Ayrdaleterrier nenne usw. Was das Kind antwortete, da war jedes Wörtchen anmutig, klug, fein und taktvoll. So auch, wie sie Abschied nahm. Ein Wink den Gespielinnen - „wir wollen den Herrn nicht länger stören“ - ein liebliches Kopfneigen, ein freundlicher Blick aus den heiter strahlenden blauen Augen und - verschwunden war die Erscheinung. Ich weiß heute noch nicht, wer das Kind war, wie sie hieß. Um den Namen zu fragen, war ich alter Herr zu blöde; man ermesse danach den Eindruck, den die Kleine auf mich machte. Aber eines bildete ich mir nachher ein, daß sie mir gesandt war, daß sie mir den Gruß der kleinen Obilot aus Wolfram von Eschenbachs Parzival brachte, die seit Jahren in meinen Gedanken umgeht - eine geheimnisvolle, nur mir verständliche Mahnung.

Wenn ich nun in all den vielen Wochen seit diesem holden Abenteuer, statt an die kleine Obilot vom Landenberghügel in Sarnen denken zu dürfen, in jeden neuen Roman mich einspinnen mußte, den Tag für Tag die Post mir ins Haus schleppte, wenn dann, je mehr es auf Weihnachten ging, in langer Reihe die Werke jener vielen fleißigen Literaturverfertiger anlangten, die, so sicher wie das brave Huhn täglich sein Ei legt, Jahr für Jahr ihr Buch schreiben und die schöne Selbstwiederholung bei blühender Gesundheit in kommenden Zeiten mit Ausdauer fortzusetzen versprechen, da mußte das Gefühl der Selbstverleugnung, die ich mir fortwährend abgewann, naturgemäß ganz besonders stark in mir an schwellen und mir meine entsagende Tugend beinahe im Lichtglanz eines Heiligenscheins zeigen. Bis dann am 3. Dezember ein sehr trauriger Vorfall die elende Scheinheiligkeit dieser mühselig geübten Tugend auf einmal aufdeckte. An diesem Morgen nämlich las ich, wie alle Welt in der Zeitung, daß in Genf Frau Frapan-Akunian, die beliebte Verfasserin von mehr als zwanzig Romanen und Novellenbüchern, auf die bekannte erschütternde Weise aus dem Leben geschieden sei, indem sie, an einer als unheilbar erkannten Krankheit leidend, sich erschießen ließ von einer heroischen Freundin, die hierauf sich ebenfalls tötete. Zuerst war ich starr vor Schreck und Mitleid. Dann aber sprach’s irgendwo an der dunkelsten Stelle meines verruchten Herzens: „Doch eine weniger!“ - denn offenbar würde, wer bei einem so tragischen Ereignisse so was denkt, den ganzen Kürschnerschen Literaturkalender ohne sonderliche Gemütsbewegung zum Orkus hinabfahren sehen - an diesem ungeheuerlichen Zynismus erkannte ich, daß das 28 Jahre lang betriebene Geschäft des literarischen Altruismus mich durchaus nicht gebessert hat, daß ich keineswegs tugendhaft geworden bin, daß vielmehr meine sittliche Verwilderung gerade unter dem Zwang dieser anhaltend geübten Selbstüberwindung schauerliche Fortschritte gemacht hat, man steinige mich! Aber den ersten Stein soll ein Berufskritiker aufheben, der selbst auch Dichter ist.