Mirna Funk fährt mit dem Zug

von 
Essay
zuerst erschienen am 19. September 2015 auf Welt Online

Ich sitze im Moment sehr viel in Zügen. Durchschnittlich vier Stunden am Tag. Und mit diesen Zügen reise ich durch die Schweiz. Ich habe einen Job als freie Autorin übernommen und interviewe Schweizer Hotelgrößen. Dafür bin ich nicht nur in Zügen, sondern auch jede Nacht an einem anderen Ort. Eine Woche lang. Wenn ich also von Lugano nach Lausanne und von Lausanne nach Zürich und von Zürich nach Arosa fahre, schaue ich sehr viel aus dem Fenster und denke nach, und ab und zu klicke ich noch auf Amazon, um das Verkaufsranking meines Romans Winternähe zu checken. Im Buch geht es um eine deutsche Jüdin, die in Berlin Antisemitismus erlebt und daraufhin nach Tel Aviv geht. Dort tobt aber der Gaza-Krieg – auf dem Boden und in den sozialen Netzwerken.

Es fühlt sich an, als sei es eine Ewigkeit her, dass das Buch erschienen ist, dabei sind es nur sieben Wochen. Damals, zur Veröffentlichung, klickte ich noch ungefähr dreißig Mal täglich auf Amazon, bis mein Mann irgendwann zu mir sagte: „So geht das nicht. Nur zweimal am Tag. Morgens und abends. Okay?“ Und ich antwortete „Okay!“

Letztens lagen wir im Bett, mein Kopf auf seiner Brust, und ich erklärte ihm, wie viel schrecklicher das jetzt alles wäre, wenn es ihn nicht gäbe. Weil irgendwie ist das alles natürlich furchtbar schrecklich. Selbstverständlich neben all den furchtbar schönen Dingen. Schrecklich ist, wie im Zusammenhang mit dem Roman so selten Fragen gestellt wurden, ob in den Medien, oder in den Gesprächen, die ich hatte. Dabei geht es im ganzen Buch darum, erst einmal Fragen zu stellen, bevor man sich eine Meinung bildet.

Es gibt dieses dringende Bedürfnis, doch auch mal was zum Thema Antisemitismus oder dem Israel-Palästina-Konflikt zu sagen. Und man muss diese Dringlichkeit ununterbrochen, dafür aber anonym als Kommentar unter Online-Artikeln über Israel entladen. Oder, wenn Didi Hallervorden einen selten dämlichen Post auf seiner Facebook-Wall schreibt, obwohl er vor wenigen Tagen noch als KZ-Überlebender in einer gefeierten TV-Produktion auftauchte. Oder eben, wenn man eine echte Deutsche mit jüdischen Wurzeln vor sich hat, die einfach behauptet, es gäbe Antisemitismus in diesem Land, und die Deutschen dürften Israel nicht kritisieren.

Viele von diesen sonst so anonymen Meinungsträgern wurden in den letzten sieben Wochen sichtbar für mich. In your face, Frau Funk. Mit hochrotem Kopf saßen sie da oft vor mir oder sagten in E-Mails: „Warum darf ich als Deutscher denn Israel nicht kritisieren? Ist das nicht gerade meine Verantwortung? Als Deutscher?“ Und, wenn ich dann antwortete, sehr ruhig und sehr blass: „Die einzige Verantwortung, die man als Deutscher hat, ist eine den Palästinensern gegenüber, schließlich ist man an deren Schicksal nicht ganz unbeteiligt. Oder: Ich besuche Israel seit zwanzig Jahren, würde mir aber nicht herausnehmen, die Situation dort zu kritisieren, weil sie eindeutig zu komplex ist“, dann wurde der Kopf noch röter, diesmal aber aus Scham. Und dann wurden sie wieder ganz still und kleinlaut und entluden ihre Meinung lieber anonym unter einem Hallervorden-Facebook-Post, als in einen Dialog zu treten.

Zu oft erschien ein Interview mit mir in den letzten sieben Wochen, und das große, offizielle Schweigen ging weiter, während inoffiziell laut gebrabbelt wurde. Wie als würde eine verspiegelte Murmel über einen Tisch rollen, eine schwere, laute Murmel, die die Gesichter der Anwesenden reflektiert, und alle atmen extrem kräftig und so unauffällig wie möglich in Richtung Murmel aus, damit diese Scheißmurmel auch ja vom Tisch kullert und ruckzuck unter einer Bank oder einem Stuhl verschwindet, damit man ungestört weiter brabbeln kann.