Mother Tongue

von 
Interview
zuerst erschienen im Juli 2002 in Alert Nr. 7, S. 8-14

Als die kalifornische Psychedelik-Rockband Mother Tongue 1994 für einige wenige Auftritte nach Deutschland kam, ging die Rechnung ihrer damaligen Plattenfirma Epic nicht auf: Zwar gab die Gruppe wilde, energiegeladene Konzerte, unter anderem im Vorprogramm von The Cult, doch ihr enormes Album „Damage“ blieb, allem Kritikerlob zum Trotz, wie Blei in den Regalen liegen. Mother Tongue lösten sich 1996, zurückgekehrt in ihre Heimatstadt Los Angeles und ohne Aussicht auf einen neuen Plattenvertrag frustriert auf. Ausgerechnet ein deutsches Schallplattenlabel hat nun eine entscheidende Rolle gespielt, dass es Mother Tongue wieder gibt. Das kürzlich auf Nois-O-Lution erschienene Comeback-Album „Streetlight“ dokumentiert auf die spannendste Weise Mother Tongues Unbeirrbarkeit in der Wahl der musikalischen Ausdrucksmittel: An ihr Debüt anknüpfend, spielt die Band einen wütenden, stark von Jimi Hendrix und Black Flag beeinflussten Gitarrenrock. Als sich David Gould, Bryan Tulao, Christian Leibfried und Chris Cano im Mai für Verhandlungen und Showcases eine Reihe von Tagen im frühsommerlichen Berlin aufhalten, ergibt sich die Möglichkeit für ein abendfüllendes Gespräch, das in einem indischen Restaurant beginnt und anschließend in einer Jugendherberge am Görlitzer Bahnhof, in der Mother Tongue residieren, fortgeführt wird. Interviewer war Max Dax, und fotografiert hat Heiko Laschitzki wenige Tage später im angrenzenden Görlitzer Park bei Kaiserwetter.

Erzähl mir die Geschichte Deiner Davidstern-Tätowierung!

David Gould: Sowohl Chris, Bryan als auch ich haben Tätowierungen; Bryan und ich haben mittlerweile sogar den gleichen Tätowierer. Ich schätze seinen Stil: traditionell Schwarzweiß. Das ist die Art, wie in Gefängnissen tätowiert wird.

Warst Du jemals im Gefängnis?

DG: Ich bin nie im Gefängnis gewesen. Mein erstes Tattoo habe ich mir nach meinem ersten Nervenzusammenbruch machen lassen. Meine Freundin hatte mich damals gerade verlassen, und ich war noch immer verliebt in sie. Ich war damals sehr melodramatisch. Ich dachte damals tatsächlich, dass ich mich nie wieder verlieben könnte. Ich habe mir das Wort „Suffer“, also „leiden“, tätowieren lassen und darüber den Davidstern, weil ich David heiße. Außerdem gefiel mir die Idee, mein Jüdischsein durch eine Tätowierung nach außen zu kehren. So, wie man sich durch seine Tattoos als Mitglied einer Gang ausweist. Viele Gangs definieren sich über ihren ethnischen Background. Mein Bruder, der in einer Gang war, hat sich am ganzen Körper mit jüdischen Symbolen tätowiert.

Gibt es in Los Angeles jüdische Gangs?

DG: Nicht direkt. Mein Bruder ist Biker. Und viele Biker haben Tattoos, etwa: „White Power“-Tattoos oder Hakenkreuze. Mein Bruder hat sich stattdessen jüdische Motive tätowieren lassen. Ich habe mir das „Suffer“-Tattoo später übrigens wieder weglasern lassen, weil ich immer wieder von KZ-Überlebenden in L.A. angesprochen worden bin. Sie fragten mich: „Warum trägst Du das? Uns hat man damals gegen unseren Willen Nummern eintätowiert. Juden tragen keine Tätowierungen.“ Mir wurde damals bewusst, wie selbstmitleidig ich war, der ich doch nichts vergleichbar Schlimmes in meinem Leben erlebt hatte.

Den Davidstern aber trägst Du heute noch.

DG: Ganz genau. Ich habe nämlich auch andere Erfahrungen gemacht, mit jüngeren Juden, die mich gleichfalls auf mein Tattoo ansprachen. Die sagten: „Great, man! I like your tattoo!“ Als ob ich ihnen Mut machte. Ich bin ein sehr konfrontativer Mensch. Als ich damals, vor acht Jahren zum ersten Mal nach Deutschland kam, habe ich jedem, dem ich auf der Straße begegnete, meinen Judenstern gezeigt, weil ich dachte, [10] die Deutschen, das sind alles Nazis. Denn so, wie ein Deutscher vielleicht denkt, alle Amerikaner sind in Gangs, so wird Dir in Amerika vermittelt, alle Deutschen wären Skinheads. Es war gut, dass ich hier war, denn ich habe auf diese Weise erleben können, dass dem keinesfalls so ist. Die Skinheads, die ich in Deutschland gesehen habe, waren Gay-Techno-Skins - das komplette Gegenteil von Nazi-Skins. Ich gebe zu: Ich war damals sehr melodramatisch.

Hat Dich Deine Davidstern-Tätowierung jemals in Schwierigkeiten gebracht?

DG: Ich habe kürzlich meinen Bruder in der Wüste besucht, und wir alle, also auch meine Frau und meine drei Kinder, sind zu einem Schwimmbad gefahren, um zu baden. Auf dem Gelände trugen alle Badehosen, man hat also alle Tätowierungen mühelos sehen können. Und auf der Suche nach einem Platz, wo wir uns hinsetzen können, begegnen wir diesen beiden riesigen Kerlen, die beide riesige Hakenkreuze auf ihre Brust tätowiert haben. Einer von ihnen hatte sogar ein „Arian Brotherhood“-Tattoo… Wir gehen also an den beiden vorbei, und ich bin innerlich darauf eingestellt, dass es gleich eine Schlägerei geben könnte: Ich schob den Kinderwagen und malte mir aus, wie diese Schlägerei ausgehen könnte. Völlig krank. Aber nichts dergleichen passierte. Meine Kinder freundeten sich mit den Nazikindern an. Am Ende haben wir zusammen Wasserball im Pool gespielt. Die Kinder, die Hakenkreuz-Typen und ich. Es war schon seltsam.

Bist Du selbst jemals Mitglied einer Gang gewesen?

DG: Ich wollte immer Mitglied einer Gang sein. Ich habe auch immer wieder behauptet, ein echtes Gang-Mitglied zu sein, obwohl ich nach den ehernen Statuten nie vollwertig war. Ich bin nichtsdestotrotz einmal nach einer Schlägerei ins Krankenhaus eingeliefert worden, weil ich zum Umfeld einer Gang gehörte. Das reichte als Grund aus, zusammengeschlagen zu werden.

Wie verletzt warst Du?

DG: Mein Kiefer war gebrochen, ich hatte Wunden am Kopf. Ich bin von Gangs immer sehr fasziniert gewesen, schon als ich klein war. Mein zweitältester Bruder war in einer Gang. Ich habe zu ihm aufgeschaut.

Wie kommt man als Jude in eine Gang?

DG: Ich bin der Sohn eines jüdischen Arztes. Wie bin ich in diese Kultur geraten? Vielleicht, weil ich ein gewalttätiger Mensch bin, und das ist vielleicht auch der Grund, warum ich gewalttätige Songtexte schreibe.

Stimmt, in dem Song „Trouble Came“ etwa singst Du: „Trouble came in the form of a glock / And it was cold and chrome, I wanted to hear it talk / But it would only yell and then the bodies fell“. Du bist Familienvater - wie geht das zusammen?

DG: Was ich in diesem Song versucht habe darzustellen, war die Anatomie einer Aggression. Erste Strophe: Provokation. Zweite Strophe: Gewalt. Dritte Strophe: Drogen. Vierte Strophe: Innehalten, aus Liebe zu einer Frau. Ich muss vielleicht erwähnen, dass ich sehr unterschiedlich auf Menschen reagiere. Es kommt immer darauf an, wie man mir begegnet.

Was macht eine Mitgliedschaft in einer Gang so erstrebenswert?

DG: Das erste Mal, dass ich Gangs geil fand, war, als meine Eltern sich gerade geschieden hatten. Unsere Familie war ziemlich kaputt. Ich lebte die eine Nacht bei meiner Mutter, und die andere Nacht bei meinem Vater. Die Zeit der Scheidung war extrem. Sie haben sich gegenseitig zu zerstören versucht. Meine beiden älteren Brüder verfielen sehr, sehr schlechten Dingen. Wir drei Brüder haben uns aufgrund unseres unterschiedlichen Alters unterschiedliche Ventile gesucht. Mein ältester Bruder gehörte der ersten Generation von Punk-Rock-Gangs in Los Angeles an. Die Gefahr, die darin verborgen lag, war Drogenmissbrauch, und das tat er in vollen Zügen - ich rede von Heroin. Mein zweitältester Bruder war auch in einer Gang. Ich sah meine Brüder in ihren bösartigen Umfeldern und war fasziniert und eingeschüchtert zugleich. Ich sah, wie sie meinen Bruder versuchten zu töten, und ich sah, wie sich mein ältester Bruder fast selbst umbrachte mit Heroin. Statt es ihnen gleichzutun, transformierte ich diese Faszination in die Texte von Mother Tongue.

Du sagst: Wie sie Deinen Bruder versucht haben zu töten. Warst Du nicht schockiert?

DG: Schockiert und fasziniert. Mein mittlerer Bruder war für mich James Dean. Er war dieser hübsche Junge, der keine Angst hatte. Er ließ sich von nichts beeindrucken und von niemandem einschüchtern. Und alle Mädchen fanden ihn toll, weil er gefährlich war. Ich fand es attraktiv, so zu sein wie mein Bruder. Das liegt wohl in der menschlichen Natur. Ein Rebell ohne Furcht - ich wollte es ihm gleichtun. Und sei es in der Musik. Sich zu Gangs zusammenzuschließen war damals ein soziales Phänomen in Los Angeles, das sich quer durch alle Einkommens- und Altersschichten zog. Bryan hatte auch Freunde, die in Gangs waren. Es gab vom Valley bis zum Strand in jedem Viertel Gangs. Von Hollywood bis Compton. Überall. Jeder, der irgendwie interessant war, war in einer Gang oder suchte zumindest deren Nähe. Selbst wer keiner Gang angehörte, versuchte sich so zu kleiden, als ob er einer Gang angehörte. In unserer Schule war es genauso: Acht Schüler schließen sich zusammen, kleiden sich ähnlich, scheren sich die Haare, erfinden Rituale - eine kleine Gang. In meiner Gegend begann alles mit den Punk-Rock-Gangs.

Wie hat man sich Punk-Rock-Gangs vorzustellen?

DG: Entscheidend war, dass die Punk-Rock-Szene gefährlich war - das machte sie attraktiv. Ich verkehrte mit den „Suicidals“, denn mein mittlerer Bruder war bei den „Venice Suicidals“, und das bedeutete, dass, wann immer ich auf Punk-Rock-Konzerte ging, ich mit den Jungs der „Venice Suicidals“ dorthin ging.

Und was war der Unterschied zwischen einem normalen Konzert, das man sich anguckt und einem Konzert, zu dem man mit einer Gang ging?

DG: Konzerte, zu denen man mit seiner Gang ging, endeten in Blutbädern. Es ging um Zerstörung. Schon als ich zwölf Jahre alt war, trugen alle meine älteren Freunde stets Messer bei sich. Eingewickelt in Tücher, die [12] sie in ihren Stiefeln trugen. Und es gab Speed. Das machte aggressiv. Punk-Rock-Gangs gab es in Hollywood, im Valley und in Venice. Und wenn sie aufeinandertrafen, wurde geprügelt. Aber ohne Pistolen, nur Fäuste und Messer. Als ich dann älter war, ging es mir nicht mehr spezifisch darum, einer Punk-Rock-Gang anzugehören, alleine in einer Gang zu sein war schon geil genug.

Kann eine Rockband auch eine Gang sein?

DG: Jeder Bund trägt Züge einer Gang. Die Loyalität, die unter den Mitgliedern einer Rockband herrscht, gibt es auch in einer Gang. Mother Tongue hat einen Song, „Caspar“, der von einem Freund handelt, der in einer Gang war. Wir haben zusammen Baseball gespielt, und irgendwann wurde er erschossen. Das war eine ziemlich ernüchternde Erfahrung, denn mein Freund war mir sehr ähnlich - nur dass er vollwertiges Gangmitglied war, und ich nur davon träumte.

Sind die Texte, die Du singst, generell Aufarbeitungen von solcherart Erlebtem?

DG: Die Songs handeln von Geschichten, die wir in L.A. auf der Straße erlebt haben. Unser Album heißt „Streetlight“, und als es Gestalt anzunehmen begann, wurde uns mehr und mehr klar, dass wir auf unsere Weise Los Angeles erforschten. Unsere Stadt bei Nacht.

Ein älterer Song von Euch trägt den Titel „Burn, Baby, Burn“ - das war der Schlachtruf der Randalierer in Watts, als es in Los Angeles die ersten Krawalle gab. Die Leute haben randaliert, ihr Stadtviertel angezündet und „Burn, Baby, Burn!“ gerufen.

DG: Das muss eine spannende Zeit gewesen sein, damals. Eine explosive soziale Stimmung, die da in der Luft lag. Ich meine, die haben ihre eigenen Häuser angezündet! Bezogen auf Amerika im Allgemeinen, war das die Zeit der großen Attentate: die beiden Kennedy-Morde und der Mord an Martin Luther King.

Verbindest Du aus heutiger Sicht etwas Romantisches mit der Gang Culture?

DG: Es ist einfach etwas sehr Typisches, nicht Wegzudenkendes aus Los Angeles. Und es gibt Gangs ja in jeder Schattierung: sozusagen als kulturelle Interessengruppe, oder aber als schlagende Verbindung. Die Surfer gehören zu den Ur-Gangs. Sie hatten ihr Territorium, ihre Meriten und ihre Musik. Irgendwann gab es Streit mit den Jungs aus dem Valley, und im Laufe der Jahre hat man sich daran gewöhnt. Sogar an die Toten.

Ich erinnere mich, dass Du vor acht Jahren, kurz vor dem zwischenzeitlichen Split von Mother Tongue, bei den Worten „You gonna die / And you gonna die, too“ auf Personen im Publikum gezeigt hast. Diese Leute im Publikum haben versucht, Deinem Blick und Deinem Finger, der auf sie zeigte, auszuweichen. Überschreitest Du da nicht eine Schwelle?

DG: Ich erinnere mich. In dem Song ging es um AIDS, und als ich den Song geschrieben hatte, war AIDS die große, schreckliche, geheimnisvolle Krankheit, für die es kein wirksames Gegenmittel gab. Ein Freund von mir war HIV-Positiv [sic], und es war ein Drama. Eine Geißel. Damals hat man versucht, AIDS als Schwulen- und Drogenabhängigenkrankheit zu benutzen. Dass ich auf die Leute im Publikum gezeigt habe, war aus dieser Hilflosigkeit entstanden, dass eine Menge Leute niemals an AIDS erkrankt wären, wenn man sie rechtzeitig aufgeklärt hätte - und nicht die Krankheit als politische Stimmungsmache gegen bestimmte Gruppen missbraucht hätte. Für mich ist Musik immer das Ventil gewesen, wo ich all das, was mich emotional berührte - die Scheidung meiner Eltern, die Gangkarriere meines Bruders, die Drogenabhängigkeit des anderen Bruders, die Krankheit meines Kumpels - transformieren konnte in positive Energie.

Knapp sechs Jahre lang gab es Mother Tongue nicht. Wie hast Du es ohne dieses Ventil so lange ausgehalten?

DG: Damals, als die Band sich auflöste, gab es viel Unzufriedenheit, und jeder in der Band machte seinen Vorwürfen gegen jeden von uns Luft. Für keinen von uns erschien es damals als erstrebenswert, in dieser Band zu bleiben. Energetische Musik auf Bühnen zu spielen, dafür beklatscht zu werden - es war irgendwann keine schöne Erfahrung mehr, einfach, weil wir uns untereinander nicht mehr verstanden. Als es schließlich darum ging, ein neues Album aufzunehmen, wurde uns allen klar, dass wir uns auseinandergelebt hatten. Für mich persönlich war die Zeit nach dem Ende von Mother Tongue der erklärte Versuch, mich künstlerisch auszuverkaufen.

Warum will man sich künstlerisch ausverkaufen?

DG: Ich sage Ausverkauf, weil ich kommerziell als Musiker erfolgreich sein wollte. Mother Tongue ist eine sehr erfolglose Band gewesen. Das hat mich wahnsinnig gemacht, und meine Wut habe ich an die anderen weitergegeben. Als wir uns im Prozess der Auflösung befanden, erwartete meine Frau gerade unser erstes Kind. Ich war nervös, hatte Zukunftsangst und rebellierte innerlich gegen die Musik, die Mother Tongue spielte, weil sie so unkommerziell war. Interessanterweise war ich nicht mehr so nervös, als das Kind dann da war. Normalerweise arrangiert man sich als Einzelperson mit dem Leben. Man nimmt die Dinge, wie sie kommen - auch als junge Eltern. Was mich fertiggemacht hatte, war einfach diese Ungewissheit, nicht zu wissen, wie sehr das Kind mein Leben verändern würde. Meine Wut auf die Erfolglosigkeit meiner Band steigerte sich einen Moment lang gewissermaßen ins Unermessliche.

Wie alt warst Du damals?

DG: Ich war 23. Und ich war am Rande eines erneuten Nervenzusammenbruchs. Christian hat immer wieder gesagt, dass Mother Tongue unsere Identität wäre. Jeff hingegen, unserer damaliger Drummer, war nie wirklich von unserer Musik begeistert gewesen. Jeff und ich hatten ein besonderes Problem: Er mochte nicht, wie ich mich auf der Bühne bewegte, welche Geschichten ich erzählte und wie ich sang. Und ich wollte Erfolg haben. Wir aber waren sehr grün hinter den Ohren. Wir haben uns mit jedem angelegt, der uns reinreden wollte. Wir dachten: Das ist das Wesen einer Rockband. Anders sein, sich durchsetzen, überall anecken. Eben so, wie es unsere rebellischen Vorbilder auch getan haben. Wir mussten allerdings im Nachhinein feststellen, dass unsere rebellischen Vorbilder zumeist nur auf der Bühne rebellisch gewesen waren, im Geschäftlichen aber das Spiel mitgespielt haben.

[14] Bryan Tulao: Unsere Musik konnte man nicht im Radio spielen. Unser Album „Damage“ war Low-Fi, auch wenn es vielleicht das teuerste Low-Fi-Album gewesen ist, das die Epic je hat finanzieren müssen. David und ich haben abwechselnd eigene Songs gesungen, es gab in diesem Sinne nicht die eine wiedererkennbare Stimme von Mother Tongue, sondern derer verwirrende zwei. Unsere Songs hatten keine geraden Rhythmen, wir mochten keine Hooks, wir versuchten die klassische Aufteilung von Vers und Refrain zu durchbrechen. Schließlich hatten unsere Live-Auftritte wenig mit der Musik auf dem Album zu tun. Wir waren wirklich sehr unkommerziell.

DG: Das Absurde war doch: Wir lebten dort, wo auch das Biest wohnte, in Los Angeles - der Hauptstadt der Musikindustrie, dem Sitz der großen internationalen Musikkonzerne. Chris und ich begannen also mit einem neuen Projekt. Ich dachte: Dieses Mal machen wir es anders. Dieses Mal schreibe ich eingängige Refrains. Die Band brach ohne jeden kommerziellen Erfolg nach nur wenigen Monaten auseinander. Also gründeten Bryan und ich eine neue Band. Dieses Mal lautete der Reformansatz: Vielleicht liegt es daran, dass ich nicht melodisch singen kann. Wir suchten uns einen Sänger, der melodisch singen konnte. Ein wirklich talentierter Mann. Die Band brach nach wenigen Monaten auseinander. Alle meine Illusionen, die ich mir gemacht hatte, was eine erfolgreiche Band ausmachen würde, lösten sich in Nichts auf. Und vielleicht war es ein Zufall, dass ich Christian genau zu dieser Zeit über den Weg lief. Wir erinnerten uns an Mother Tongue, und wie gut es uns doch letztendlich ergangen war.

Wie hast Du in der Zwischenzeit überlebt?

DG: Ich habe jeden Job angenommen, der mir angeboten wurde. Wenn mich einer fragte: „Kannst du das auch?“, sagte ich ja, ohne es zu können. Ich fotografierte ohne Film in der Kamera, wie man so schön sagt: Ich strich weiße Wände weiß. Ich wurde interessanterweise immer ausgeglichener, als meine Frau zwei weitere Kinder bekam. Ich verbrachte mehr und mehr Zeit zuhause, kümmerte mich um die Kinder und wurde in diesem Sinne zu einem Hausmann. Zu Hause habe ich angefangen Drehbücher zu schreiben - und damit habe ich dann mein Geld verdient. Die Entscheidung, wieder gemeinsam Musik zu machen, war eine Entscheidung, die viele Opfer erforderte: Jeder von uns muss den ganzen Tag arbeiten, um sein Leben zu finanzieren. Danach erst kommt die Musik.

BT: In Los Angeles kann man leicht sehen, dass es auch andere Lebensentwürfe gibt. Es gibt viele Stadtviertel, gerade die ärmeren Viertel, in denen die Leute Pit Bulls besitzen und ihr kleines Territorium mit Glasscherben abgrenzen, die sie auf die Mauern betonieren. Das ist sehr amerikanisch: Der eigene Grund und Boden ist heilig. Betrittst du jemandes anderen Territorium ohne zu fragen, kann es dir passieren, dass du einfach erschossen wirst. Es gab Mitte der Achtziger eine Zeit, in der Drive-By-Shootings sehr in Mode waren. Da haben Gangs die Leute aus dem Auto heraus abgeknallt und die Leichen anschließend auf ihr Grundstück geschafft, so dass sie sagen konnten, sie hätten diese Typen auf ihrem Grundstück erschossen, beim Übertreten der Grenze sozusagen.

DG: Los Angeles ist ein sehr extremer Ort. L.A. ist eine extrem schöne Stadt, in der sehr schöne Menschen leben. Man kann in Los Angeles sehr gut leben - wenn man es sich leisten kann. Man kann auch sehr schön sein - wenn man es sich leisten kann. (lach, lach). Meine Frau und ich, wir haben viele Freunde aus der Filmszene: Schauspieler, Produzenten, reiche Leute. Manchmal passiert es, dass meine Kinder auf dem Cover einer Illustrierten oder im Fernsehen die Person wiedererkennen, die am Tag zuvor bei uns zum Abendessen war. Das ist manchmal sehr surreal und vielleicht typisch für Los Angeles. Für mich als Vater, der drei Kinder großzieht, ist es sehr wichtig, dass ich meinen Kindern beibringe, dass sie selbstbewusst werden, dass sie merken, dass sie einzigartig sind. Dass sie auf das Berühmtsein scheißen.

Weil Du nicht berühmt bist?

DG: In unserer Gesellschaft werden Celebrities wie Götter behandelt. Wenn du dir eine Ausgabe vom „People“-Magazin holst und dir durchliest, wie berühmte Menschen darin beschrieben werden, dann denkst du, du würdest einen religiösen Text lesen. Das liest sich dann so: „Das Haar fiel in goldenen Kaskaden über Meg Ryans elfenhafte Wange“. Es ist sehr bizarr. Meine Frau arbeitet für Patricia Arquette. Patricia ist die Patentante meines Sohnes. Wir kennen sie seit Jahren, und ohne sie gäbe es heute Mother Tongue nicht, denn sie hat uns immer unterstützt. Man muss sich das einmal vor Augen führen: Wenn du mit Patricia Essen gehst, dann wirst du wie ein Adliger behandelt, dann stehen dir sofort drei Kellner Spalier, die dich zum besten Tisch führen - und alle Leute starren auf dich und tuscheln. Es gibt etwas sehr Interessantes in Bezug auf Berühmtheit: Die meisten Rockstars oder Filmstars wissen noch ganz genau, wie es war, als sie wenig Geld hatten. Du erinnerst dich an deine Wünsche, die du damals hattest: Du hast dir coole Klamotten oder eine geile Gitarre gewünscht - aber du konntest sie dir nicht leisten. Bist du aber erst einmal berühmt, bekommst du alles umsonst. Du kommst umsonst in den Club und musst noch nicht einmal anstehen. Du bekommst die Gitarre geschenkt, die du immer schon haben wolltest. Sie bezahlen dich sogar dafür, dass du ihre Designer-Klamotten trägst. In Los Angeles gibt es Millionen von Menschen, die von nichts anderem träumen, als einfach nur berühmt zu sein und diese Vorteile zu erleben. Sie arbeiten als Kellnerinnen oder als Lehrer, und sie hassen ihren Job, weil sie denken, dass ihre eigentliche Bestimmung doch Filmstar ist. Denn wenn du berühmt bist, dann ist es scheißegal, wer du bist: Dir werden die Schlüssel zur Stadt überreicht. Jemand wie Ice Cube oder Ice-T, das waren knallharte Gang-Mitglieder… Seit sie aber berühmt sind, ist ihre kriminelle Vergangenheit praktisch reingewaschen. Sie werden hofiert und hängen mit anderen berühmten Leuten ab. Vielleicht werden sie eines Tages sogar dem Bürgermeister von Los Angeles auf einem Benefiz-Dinner vorgestellt.

Ich glaube, mir gefällt die Stadt.

DG: Bist du allerdings nicht berühmt, dann bist du in L.A. nicht willkommen.