Nach der Innovation

Essay
zuerst erschienen 2007 in springerin Nr. 2/07

Auf dem abendlichen Jungfernstieg stemmen sich Gestalten gegen den Wind, so als gehörten sie zu einer versprengten Gruppe von Fragezeichen, denen der Wind die Worte weggerissen hat. Einige der Gebeugten flüchten vor dem Regen in ein weißes Haus, welches für nordische Verhältnisse dick aufträgt. Nicht, weil ich mich für ein verlorenes Wort halte, folge ich ihnen, sondern da es sowieso in meinem Plan steht, auch dort hinzugehen. Im Vorraum nimmt mir ein auf Butler getrimmter Herr meinen klitschnassen Mantel ab und sagt, das macht doch nichts. Im Licht fühle ich mich, in meinem bisher als sündhaft teuer angenommenen Anzug erbärmlich. Hier kauft keiner von der Stange.
Eine blonde Dame an der zweiten Tür prüft, ob sich mein Name auf der Liste zu ihren Fingern findet. Sie braucht dafür eine Ewigkeit. In meinem Plan steht, ein freundlicher Mensch, der um mein spezielles Interesse weiß, hätte mir für diesen Abend einen Passierschein in den exklusiven Club Hamburger Kaufleute besorgt. Doch jetzt dauert es immer länger, und ich glaube, die Person hat mich vergessen oder der Plan spinnt. Alles wird immer peinlicher, und ich will schon gehen, als ihre tiefgekühlten Augen meine vier Buchstaben finden.
Im Raum hinter der strengen Tür sind die meisten älter als ich. Nicht dass ich jung wäre, aber die Mehrheit dürfte den letzten Weltkrieg noch miterlebt haben. Ein Projektionsapparat wirft das Thema des heutigen Abends zwischen Seestücken auf die Wand: „Tomorrow’s drugs today“. Es ist rappelvoll, und ich staune, wie die Interessengruppe für jüngste Drogen aussieht, oder Menschen, welche die Zukunft schon jetzt haben wollen, und setze mich hin. Auf die Minute wird die harte Tür abgesperrt und nicht mehr geöffnet, obwohl draußen immer noch die Glocke schellt. Ein jovialer Grauhaariger, welcher sich als Präsident des Clubs vorstellt, eröffnet den Abend, gibt ein paar Gedanken zwischen Ethik und Alzheimer zum Besten, um anschließend an den Referenten zu übergeben. Der Manager einer einschlägig bekannten Firma aus dem Avantgardesegment der Gesundheitsindustrie, dem, was sich auch Biotechnologie nennt, stellt sich lieber als Vertreter der »Lebensindustrie« vor.
Er tut erstmal so, als ginge es hier um Forschung. Dann zeigt er farbenfrohe Gewebe, welche im Nervensystem aufgenommen wurden. Es kommen immer mehr Bilder, und dazu sagt der ins Ergriffene schmelzende Lebensindustriemanager, für ihn seien diese zauberhaften Geflechte wie Kunst. Um mich herum gibt das an deutschen Informel, Pollock und Warhols Pissbilder gewöhnte Publikum ein bejahendes Raunen von sich. Der Lebensindustriemanager überbaut das zu Kunst erklärte Leben noch einmal mit ein bisschen Wissenschaft, um sich dann schnell wirtschaftlichen Fragen zuzuwenden. Im Publikum steigt die Aufmerksamkeit. Hier sitzen Leute, die wollen, dass es zur Sache geht, und ihre Sache ist Geld. Dies nicht unter den Tisch zu kehren, gilt in diesen Kreisen als gradlinig. Bald ist klar, der Lebensindustriemanager ist hierher gekommen, um Klinken zu putzen, also InvestorInnen für seine Firma einzusammeln. Die braucht nämlich viele davon, um in dem als Kunst dargestellten Leben die heile Welt zu erhalten, welche Gesundheit genannt wird. Da es hinter den Klinken um Millionen geht, wird der putzende Auftritt nicht als unfein erlebt, vielmehr fühlt man sich geschmeichelt, gebraucht zu werden, beim großen Spiel der Lebensindustrie.
Einsatzmöglichkeiten gibt es bei den ZuhörerInnen reichlich, dank einem geografischen Zufall. Wer hier sitzt, saß zum richtigen Zeitpunkt an einen Drehpunkt zwischen West und Ost, was denen, die über den Hamburger Hafen Kapital für sich arbeiten ließen, unglaubliche Zuwachsraten bescherte und sie als Bezwinger der Globalisierung dastehen ließ. Es hieß, Geld mit dem zu verdienen, womit man immer Geld verdient hatte. Es wurde sozusagen in eine Möglichkeit gestolpert, um in die Zukunft zu kommen und dabei den Fortschritt zu vermeiden. Schiffe und Kräne werden zwar auch mal verbessert, aber es lässt sich meist darauf verzichten, diesen Entwicklungen allzu große Aufmerksamkeit zu widmen.
Da der Nahrungserwerb selbst bei Übersättigung das Bewusstsein bestimmt, leiten die ehrbaren Kaufleute daraus ab, man brauche sich für das Fortschreiten oder die Veränderung der Kultur nur bedingt zu interessieren, das Leben ginge auch so weiter, womit sie ein dankbares Publikum für den Lebensindustriemanager sind. In Phasen der extremen Anhäufung von Geld, die sich einfach nicht mehr in sicheren Anlagen wie noch mehr Containerschiffen, Immobilien in Dubai oder Shanghai parken lassen, tritt jedoch gelegentlich eine halbseidene Lust am Poker mit der Zukunft auf den Plan. Damit hatten die Veranstalter sie gelockt, zu den Darstellungen der dritten Industriellen Revolution am heutigen Abend. Ob die radikale Umwälzung der Produktionsbedingungen, wie sie die angeblich von der Lebensindustrie angetriebene dritte Revolution verspricht, vielleicht gar nicht stattfindet, spielt in dunkelbraun getäfelten
Kammern zunächst nur eine untergeordnete Rolle. Die aus ihren Kontoren durch den Regen herbeigeströmten Kaufleute wollen zunächst nur einen kleinen Kitzel, so als ob sie mit abgezähltem Geld ins Kasino gehen. Möglicherweise reicht es auch gar nicht für mehr, weil die Lebensindustrie sich hinter den Schatten großer Ereignisse, welche die Zukunft bringen soll, in einem seltsam statischen Zustand befindet, um nicht zu sagen, sie kriecht schlaff, gerade noch gebeugt. Was Zukunftsgläubige erschüttern mag, ist für die anwesenden Kaufleute aber gerade eine interessante Verengung des Angebots, weshalb das dankbare Publikum des sich realistisch gebenden Lebensindustriemanagers immer interessierter wirkt.
Zunächst hatte der Redner aber ausgeholt und erklärt: Für EndverbraucherInnen bedeutet das Produkt Droge, weiterhin die wichtigste Warenform der Gesundheitsindustrie, zunächst eine schnelle Lösung von Problemen oder zumindest ihren Aufschub. Im deutlichem Widerspruch zu dieser hohen Geschwindigkeit steht, dass es sich bei der Entwicklung von Drogen um ein träges und massenhaft Kapital verschlingendes Gewerbe handelt. Acht bis elf Jahre und durchschnittlich 800 Millionen US-Dollar, so die Faustregel, benötigt die Entwicklung eines innovativen Präparates derzeit, und die Zahlen steigen noch. Eine solche Neuerfindung kostete 1975 gerade einmal 150 Millionen Dollar.
Erstaunlicher ist, dass die Innovationen immer seltener werden. Die Zahl neuer Präparate hat sich in den letzten zwanzig Jahren mehr als halbiert. Dem ist nicht etwa so, weil sich niemand mehr den Aufwand leisten könnte, im Gegenteil, aber der Aufwand kommt nirgendwo mehr an. Fast scheint es so, als seien die Zugänge zur Innovation verstopft.
Kommt bei einem Entwicklungsprozess doch noch einmal mehr heraus als die leicht verbesserte Wiederholung einer längst erfundenen Droge, muss das seltene Wunder einer Innovation superintensiv vermarktet werden, um die hohen Entwicklungskosten sowie zahllose in den Sackgassen der Labors verendete Anstrengungen wieder einzuspielen. Das Produkt muss dabei nicht nur am Markt einschlagen, sondern auch extrem langfristig ausgewertet werden. Deshalb wird das Alte unter wechselnden Namen für wechselnde Anwendungsgebiete noch nach Jahren oder Jahrzehnten immer wieder neu aufgelegt.
Diese Situation spitzt sich aktuell zu, da im Jahr 2007 zahllose Pharmapatente auslaufen und nicht mehr durch Neuentwicklungen ersetzt werden können. Deshalb hat die forschende Pharmaindustrie schon seit einigen Jahren begonnen, die von ihr bisher als leidige Parasiten dargestellten Hersteller von Nachahmerprodukten mal mehr, mal weniger diskret aufzukaufen, um sich in diesem Geschäft einzunisten, also ihr eigener Parasit zu werden. Man lebt auch in der Lebensindustrie nicht mehr von Innovationen, sondern von Renditen.
In dem, was sich als postinnovativer Kapitalismus beschreiben lässt, richtet man sich in einer Art andauernder Kreislaufwirtschaft des vergangenen Fortschritts ein. Doch auch in die verbleibenden Hoffnungen auf auswertbare Neuerungen investiert sich Kapital, anstatt tot rumzuliegen, als säße es an einem Roulettisch. Die Lebensindustrie, mit ihren besonders träge aus der Umlaufbahn des Kessels fallenden Kugeln, bietet dabei eine Option mit besonderem Reiz. Und findet die Kugel nach Jahren des Wartens mal eine Zahl, sehen beeindruckende Kaufpreise wie der von Google für YouTube hingeblätterte bescheiden aus.
So zahlte GlaxoSmithKline Ende letzten Jahres nicht etwa für eine ganze Firma, sondern gerade mal für die Rechte an einem einzigen Produkt mit dem klangvollen Namen HuMax- CD20 sechshundert Millionen Dollar an die kleine dänische Firma GenMab. Vorgebliches Motiv ist, die mangelhaften Ergebnisse der eigenen Forschungsabteilungen auszugleichen. Vielleicht geht es aber schon länger nicht mehr darum, das eigene Überleben in der Lebensindustrie durch Fortschritt zu sichern? Es geht einem ja goldig, mit den Entwicklungen aus der Vergangenheit. Und ob meinetwegen HuMax-CD20, wenn daraus überhaupt jemals ein relevantes Mittel gegen Leukämie werden sollte, das zwei Milliarden jährlich einspielt, wie GenMab prognostiziert, ist möglicherweise gar nicht so wichtig. Das verbrannte Geld taugt für Abschreibungen, selbst wenn die Droge von morgen bloß eine Wiederholung in den Spiralen der Erinnerung bleibt.
Vorstellbar wäre hingegen, dass die Innovation für InvestorInnen überhaupt nur noch als Illusion eine Rolle spielt, fast so, als würde rituell das Vergangene wiederholt. Die Investitionen in Innovation wäre dann zuerst als hypermoderner Potlatch zu verstehen – ein Opfer, das erbracht wird, um den Aufschub einer Erneuerung beschwören.
Diese Überlegungen hatte der Lebensindustriemanager nicht mehr angestellt, obwohl sie im Überseeclub vielleicht auf verständige Ohren gestoßen wären.