Ohne mich

von 
Essay
zuerst erschienen 2014 in Zeit Magazin Nr. 50
Eine Berlinerin jüdischer Abstammung zieht nach Israel. Wegen der Liebe. Das hören die Menschen gerne. Leider gibt es noch einen unangenehmeren Grund.

Warum ich nach Israel gehe, fragen mich die Menschen, und dabei gucken sie komisch. Immer anders komisch. Manche gucken irritiert, manche angegriffen, und wieder andere schauen verängstigt. Aber immer auf eine sonderbare Weise. Sie reagieren niemals normal irritiert oder normal angegriffen oder normal verängstigt. Und wenn ich ihnen dann antworte, dann tue ich das genauso sonderbar wie sie. Nie gewöhnlich, sondern immer außergewöhnlich. Ich antworte außergewöhnlich beruhigend. Außergewöhnlich angstnehmend. Und außergewöhnlich entschärfend.

Ich sage als Erstes, dass ich aus verschiedenen Gründen nach Israel gehe. Ich fange mit den verständlicheren an, weil ich hoffe, dass ich dadurch Empathie erzeuge. Ich sage, ich gehe nach Israel, weil dort ein Teil meiner Familie lebt und wegen der Liebe. Und daraufhin entspannen sich allmählich ihre Gesichter.

Dann sage ich, ich habe im Sommer den Mann meines Lebens kennengelernt. Ich sage, wir heiraten im Juni in Israel. Und dann kann ich in den Gesichtern so etwas wie Hoffnung entdecken, und wenn die Gesichter dann weich und voller Hoffnung sind, offen und warm, dann sage ich, dass diese Gründe aber nicht die einzigen sind, sondern dass ich nach Israel gehe, weil ich den Antisemitismus in diesem Land nicht mehr ertrage, dass der Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist und dass ich nicht mehr mit diesen komischen Gesichtern konfrontiert werden will, wenn ich sage, dass ich nach Israel gehe, oder wenn ich sage, dass ich in Israel war, oder wenn ich sage, dass ich jüdische Wurzeln habe. Dann verschwinden sofort die Hoffnung und die Sehnsucht und die Weichheit aus ihren Gesichtern, und diese drei Emotionen werden von Härte und Abwehr abgelöst.

Aber nicht nur die Gesichter verändern sich, sondern auch die Stimmen der Menschen. Sie werden tief und distanziert. Und die Menschen sagen, dass das doch Blödsinn sei, und fragen mich, wie ich auf so etwas überhaupt komme. Dann erzähle ich jedes Mal von einem Vorfall, immer von einem anderen. Einfach weil es in den letzten zehn Jahren so viele antisemitische Vorfälle in meinem Leben gegeben hat und weil ich ein bisschen Abwechslung in meine eigene Geschichte bringen will. Sonst fange ich noch an, mich mit mir selbst zu langweiligen.

Letztens erzählte ich also einem Arbeitskollegen, der am liebsten Acne-Jeans trägt, während er auf seinem Eames-Stuhl in seiner Wohnküche in Mitte sitzt, dass ich vor einem Jahr ein Date mit einem deutschen Schauspieler hatte und dass ich dann dieses Date beenden wollte, ohne mit diesem Schauspieler Geschlechtsverkehr zu haben. Und dass dann dieser Schauspieler begann, mich zu beschimpfen, weil ich nicht mit ihm in seine Eigentumswohnung kommen wollte, die man schon beim Promi Dinner bewundern durfte. Er dachte, diese doofe Journalistin will doch bestimmt auch mal in meine tolle Promi Dinner- Wohnung, aber das wollte ich eben nicht. Und weil ich mich für seine Promi Dinner- Wohnung nicht interessiert habe, hat er mich als dreckige, hässliche Jüdin bezeichnet. Mitten in einer verkehrsberuhigten Zone in Prenzlauer Berg, in der sonst Kinder Bionade trinken und Skateboard fahren.

Nachdem ich mit meiner Geschichte fertig war, antwortete mir der Arbeitskollege, dass dieser Schauspieler doch gar kein Antisemit sei, sondern nur enttäuscht gewesen sei. Gekränkte Männlichkeit, sagte der Arbeitskollege. Und als ich ihn dann fragte, ob es auch gekränkte Männlichkeit wäre, wenn er mich als dumme Negerschlampe bezeichnet hätte, sagte er, nein, das wäre natürlich Rassismus. Verstehe, antwortete ich. Ich antworte „verstehe“, weil ich es wirklich tue. Ich verstehe, dass sie nicht anders können, weil es eben keinen Antisemitismus geben darf. Nie wieder Antisemitismus – das haben die Deutschen jetzt 70 Jahre lang gelernt. Und weil es keinen Antisemitismus geben darf, gibt es eben auch keinen. So einfach ist das für die Menschen.

Manchmal sagen sie sogar, aber Mirna, selbst die Israelis verlassen ihr Land und kommen nach Berlin. Selbst die Israelis! Und das machen die Menschen ja gerne, Israelis und Juden für ihre argumentativen Zwecke benutzen. Sie haben ja auch im letzten Sommer während des Gazakrieges am liebsten Gideon Levy und Amira Hass zitiert, zwei sehr, sehr linke Journalisten aus Israel, die die Besatzung und die israelische Regierung aufs Schärfste kritisieren. Die Menschen haben gesagt, die Israelis selbst kritisieren den Umgang mit den Palästinensern, dann muss ich das ja wohl auch dürfen, dann kann das unmöglich Antisemitismus sein, wenn ich das tue.

Ich rolle dann immer mit den Augen und sage, ja, ich weiß. Ich weiß, dass mittlerweile mehr als 20 000 Israelis in Berlin leben. Ich weiß, dass es diese Facebook-Seite Olim le Berlin gab, die von einem in Berlin lebenden Israeli gegründet wurde und nicht nur als Plattform diente, junge Israelis dazu aufzurufen, nach Berlin zu gehen, sondern vor allem, um die sozialen Bedingungen in Israel zu kritisieren. Und ich weiß, dass sie es toll finden, dass der Schoko-Sahne-Pudding in Berlin billiger ist als in Tel Aviv. Aber welcher normale Mensch kauft hierzulande diesen schrecklichen Schoko-Sahne-Pudding für 19 Cent? Den isst hier doch niemand, sage ich. Ich sage auch, dass ich die Israelis verstehe, genauso wie ich die Deutschen verstehe. Ich verstehe, warum sie nach Berlin kommen. Ich verstehe, dass es verschiedene Gründe dafür gibt. Genauso wie es bei mir verschiedene Gründe dafür gibt, nach Israel zu gehen. Sie kommen zum Beispiel nach Berlin, um die israelische Regierung zu verletzen, weil sie wütend sind. Verständlicherweise. Aber das ist eben wie in einem Rosenkrieg. Sie haben nach der Scheidung bei der Mutter gelebt, die den Vater sehr kritisch sieht, und weil die Mutter Regeln aufstellt, nach denen sie sich nicht mehr richten wollen, haben sie ihre Koffer gepackt, vor den Augen der Mutter, und haben gesagt, wir gehen jetzt zum Vater. Seitdem schicken sie ihrer Mutter täglich Handyfotos davon, dass sie bis Montagmorgen im Berghain tanzen, ohne dass der Vater sie ausschimpft, oder dass sie billiges Junkfood essen dürfen, ohne dass der Vater es verbietet. Das tut der Mutter natürlich weh.

Ich verstehe natürlich auch, dass die Israelis vor dieser existenziellen Bedrohung fliehen wollen, aber sie tun das, indem sie in ein Land gehen, das überhaupt erst dafür gesorgt hat, dass das jüdische Volk auf einem Flecken Erde leben muss, wo es tagtäglich existenziell bedroht wird. Und das ist natürlich verrückt. Sehr sogar.

Ich verstehe auch, dass viele von den in Berlin lebenden Israelis einen deutschen Pass haben, weil ihre Großeltern Deutsche waren und Deutschland ungewollt verlassen mussten. Keiner von ihnen wollte nach Palästina, in diese farblose Steinwüste. Keiner von ihnen wollte die schöne Altbauwohnung in Charlottenburg verlassen. Ich verstehe, dass die Israelis einer Sehnsucht nachgehen, die sie von ihren Großeltern kennen, und dass sie vielleicht für ihre Großeltern zurückgehen, unabhängig vom Schoko-Sahne-Pudding und vom Berghain.

Warum ich in ein Land gehe, in dem es Krieg gibt und wöchentlich Anschläge, fragen mich die Menschen, und dann antworte ich ihnen, dass diese existenzielle Bedrohung eben auch Leben bedeutet. Das verstehen die Menschen überhaupt nicht, und dann versuche ich, es besser zu erklären. Ich sage dann, da, wo es noch so etwas wie Reibung gibt, ist Leben, weil Leben eben nicht glatt ist, sondern rau. Ich sage, dass Deutschland abgeschliffen wurde. Glatt gehobelt. Das Böse sollte weg, und dann hat man zusammen mit dem Bösen auch das andere, das Kantige, das Unangepasste, weggeschmirgelt. Jetzt bestimmen nur noch der Tatort und die Maut und das Opening eines Pop-up-Stores die tägliche Debatte in Deutschland.

Und daraufhin schütteln die Menschen den Kopf und gehen.