Oskar Roehler – Der Berührbare

Interview
in englischer Übersetzung erschienen im Frühling in Zoo Magazine Nr. 34
vom Autor neu durchgesehen
Oskar Roehler – groß, hager, gut gekleidet und mit durchleuchtenden Augen – wirkt auf den ersten Blick exzentrisch. Er spricht viel, laut und von interessanten Dingen. Man merkt sofort: Dieser Mann hat keine Angst davor, sich selbst Fragen zu stellen. Der 53-Jährige ist einer der aufregendsten Regisseure Deutschlands. Er hat Michel Houellebecqs „Elementarteilchen“ verfilmt, sein berühmtester Film „Die Unberührbare" handelt von den letzten Tage seiner Mutter, die ihn umbringen wollte. In seinem Buch „Herkunft" verarbeitet er autobiografisch die grausame Verwahrlosung eines Jungen durch seine 68er-Eltern, Zeiten der Idylle beim Nazi-Opa und lange Jahre der Einsamkeit. Aus diesem Stoff hat er nun einen Film gemacht, der im Sommer in die Kinos kommt. Ein Gespräch über die Kunst zu Überleben, die Idee des Selbstmords und den Sex von Magda Goebbels

Herr Roehler, würden Sie sich als glücklichen Menschen bezeichnen?

Nein. (überlegt) Nein. (Pause) Nein.

Würden Sie trotzdem einmal versuchen, die Schönheit der Welt zu erklären? Warum lohnt es sich, hier zu sein?

Weil es die Poesie gibt.

Im Leben oder in der Kunst?

Das eine ist vom anderen abhängig. Wenn ich morgens aufwache und ein tolles Gedicht im Kopf habe, dann macht mich das in dem Moment glücklich. Wenn mein Denkapparat schöne Sätze und Dinge ausspuckt, geht es mir gut. Und wenn ich das Schlechte abwehren kann, was täglich auf einen zukommt, dann geht es mir auch gut. In diesen Momenten bin ich glücklich und davon bin ich komplett abhängig, das ist mein Lebenssaft.

Sie haben aus der Katastrophe ihrer Kindheit den Stoff für ihr erstes Buch, den Ende 2011 erschienenen Familienroman „Herkunft“ gemacht, den sie nun unter dem Titel „Die Quellen des Lebens“ verfilmt haben. Ihre Mutter, die Schriftstellerin Gisela Elsner, wollte Sie erst abtreiben und ließ Sie dann mit drei Jahren sitzen. Später lebten Sie bei Ihrem Vater, der Autor und Lektor Klaus Roehler, ein Freund von Günther Grass und Rudi Dutschke. Er ließ Sie erst beim Sex zuschauen und schickte Sie dann zu den Großeltern. Der Film soll recht komisch sein, was mich ein bisschen überrascht. Verwandelt sich sogar eine so düstere Kindheit im Schimmer der Erinnerung in etwas Positives, etwas, über das man lachen kann?

Meine exzentrische Mutter war halt eine Verrückte, eine begabte Künstlerin, eine fanatische Feministin. Kinder waren für sie das Letzte. Sie sagte immer wieder: Ich hasse meinen Sohn. Sie ist 1992 gestorben, für mich war das eine totale Erleichterung. Dann habe ich 1998 „Die Unberührbare“ geschrieben und gedreht, indem ihre letzten Tage beschrieben werden, und dachte, damit hätte ich dieses Kapitel abgeschlossen. Das war aber nicht so, denn ich stieß immer wieder auf Äußerungen, in denen sie etwa davon spricht, das sechs Monate altes „Balg“, wie sie es nannte, mit Zigaretten und Alkohol ins Jenseits zu befördern. Das Buch und der Film boten mir jetzt die Möglichkeit meine eigene Geschichte aufzupolieren. Das heißt, ich kann mich plötzlich daran erfreuen, ich kann nun posthum diesem kleinen Jungen genau das Szenario geben, das ich mir vielleicht damals gewünscht hätte.

Indem Sie es auf das Terrain der Kunst heben, wo es für sich selbst neue Blüten treibt?

Auf jeden Fall. Der eigentliche Prozess der Läuterung, also der Katharsis, der setzte im Grunde genommen schon beim Schreiben ein. Ich würde mich nie hinsetzen um zu schreiben, weil dann schmerzhaften Erinnerungen hochkommen, so masochistisch bin ich nicht. Eigentlich ist genau das Gegenteil der Fall: Du drückst dem Ganzen deine eigene Wahrheit auf. Dadurch dass du das alles durchlitten hast und plötzlich reflektieren kannst, bist du in dem wunderbaren schöpferischen Status eines Demiurgen. Du kannst im Grunde genommen die Richtung neu bestimmen und rückblickend sagen: „Wow, dieses krasse Ding hast du überlebt?“

Ihr autobiografischer Roman verknüpft die Geschichte der Schlüsselkinder von ‘68, die unter den Emanzipationsbewegungen der Eltern leiden, mit der Verlorenheit der Kriegsgeneration. Sind Sie damals einfach zwischen die Fronten geraten?

Ich hatte das Privileg, nicht so stereotyp aufzuwachsen, wie viele Leute in meiner Generation – Lehrerehepaar, dann macht er mit 18 Abitur und dann studieren oder irgendeinen anderen Scheiß. Ich bin hin- und hergeworfen worden zwischen gesellschaftlichen Klassen. Da war einmal so ein Künstlerehepaar, das einen vollkommenen Enfant-Terrible-Status hatte, und auf der anderen Seite diese ganz patriarchalischen, kleinbürgerlichen, archaischen Strukturen meiner Großeltern, die auf dem Dorf in Süddeutschland gelebt haben. Mein Großvater war ein Nazi und hat mit der Produktion von Gartenzwergen ein Vermögen gemacht. Die Oma hockte da und hat Strümpfe gestopft. Da wurde nie geredet beim Abendessen. Andererseits fand ich dort fernab der Eltern auch kurzfristig ein Idyll. Wenn du ein Kind bist, kriegst du alles ab. Was das Erzählerische angeht, ist die Zeit, bevor sie dich aus der Haft der Familie entlassen, in der Erinnerung die stärkste. Ich bin mir wirklich über Jahre hinweg selbst überlassen worden. Der Vorteil daran war, dass mit dieser Muße bei mir eine starke Reflexion einsetzte. Die Meinhof-Kinder oder der Sohn von Gudrun Ensslin, die haben jetzt auch alle Bücher geschrieben. Das waren im Grunde die Sprösslinge der damaligen geistigen Elite. Wenn du in Frankreich aufwächst und dein Vater ist ein berühmter Schriftsteller, musst du ihn mit sechs oder sieben Jahren siezen und redest immer nur mit den Gouvernanten. Wir waren aber arm, wir waren irgendwie Straßenkinder. Brigitte Meinhofs Tochter mutmaßte ja, dass man sie im Untergrund umbringen lassen sollte, damit sie nicht zur bürgerlichen Gesellschaft überwechselt. Diese Destruktion und den Nihilismus in der Gesellschaft, gegen die man damals ankämpfte, gibt es heute so nicht mehr.

Welche Bedeutung hat das Wort Familie für Sie?

In allen wichtigen Romanen, die ich gelesen habe, war die Familie immer die pure Katastrophe. Vielleicht schreiben auch nur Leute, die das so erleben. Warum solltest du in einer glücklichen Familie schreiben? Es sei denn, es ist ein Glück, das sich letztlich als komplette Lüge herausstellt. Als ich vier Jahre alt war, hat meine Mutter ihren Vorbildcharakter für mich verloren. Mein Vater, dann in der Phase, als er ich mich seinen ständigen Alkoholexzessen ausgesetzt hat, bei denen er am nächsten Tag immer im Koma lag.

Es gibt die schreckliche Schilderung, wie Sie als Sechsjähriger nachts aufwachen, niemand ist zuhause und Sie über den Ku‘damm rennen und Ihren Vater suchen.

Heute würde so etwas vielleicht gar nicht mehr passieren, aber Mitte der 60er Jahre war Berlin eine Stadt, die voll war mit ominösem Gestalten, mit alten verrückten Omas, mit Leuten, die nicht richtig sprechen konnten, keine Zähne im Mund hatten und gestunken haben, die Spielplätze waren voll mit Päderasten. Während mein Vater mit den wichtigen Literaten über die Zukunft der Literatur diskutiert hat, saß ich im kriminellen Berliner Hinterhofproletariat. Für das Selbstbewusstsein ist das brachial, an bestimmten Punkten hast du einfach überhaupt gar keins. Auch heute noch. Es ändert sich ja an so essenziellen Sachen im Prinzip nichts.

Dachten Sie als Kind und auch später an Selbstmord?

Klar. Aber Selbstmord ist immer ein Thema, weil es so eine romantische Idee ist, sich von der Welt zu verabschieden. Ich finde Selbstmord als Verzweiflungstat eigentlich problematischer.

Sie sind eher Romantiker des Selbstmordes?

Im Grunde ja. Die Idee, sich aufgrund seines eigenen Willens aus dem Leben zu verabschieden, hat etwas für sich. Ich kann auch absolut verstehen, dass man sich unter bestimmten Umständen umbringen muss – jeder Mensch, der Schmerzen hat, der in einer ausweglosen Situation ist, der nicht weiter weiß, hat meiner Meinung nach das Recht, sich umzubringen. Manchmal finde ich es allerdings auch vermessen. Warum? Aus Eitelkeit? Damit Andere einen Nachruf auf dich schreiben, bevor du vergessen bist? Das ist natürlich völliger Schwachsinn. Trotzdem lebt man eben in einer Tradition von Selbstmördern. Meine Mutter hat sich umgebracht, die Schwester meiner Mutter, die besten Schriftsteller, die meine Mutter gelesen hat – Kleist, Artaud – viele haben sich das Leben genommen. Man kann das nicht komplett ausklammern.

Wie lebt es sich in so einem Zustand: Man ist zwar kein glücklicher Mensch, bringt sich aber doch nicht um? 

So lange das ganz schön ist, genieße ich es hier. Wenn es warm ist, gehe ich gern im Meer baden. Ich finde es ganz toll, wenn ich im Mai ins Mittelmeer steigen kann. Dann jauchzt mein Herz und ich fange an, Glückstränchen zu vergießen. Solange ich solch ganz naive Sehnsüchte und Träume habe, ist mein Leben nicht verdorben. Ich habe weder Krebs noch AIDS noch sonst irgendwas. Menschen, die sehr stark sind, könnten mit so einer Krankheit und dem Schmerz leben. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie stark ich bin.

Wie würden Sie sich umbringen?

Wenn ich jetzt narzisstisch wäre, würde ich ein Fallbeil konstruieren lassen. Eines, das aussieht wie ein Kunstwerk. Ich würde erzählen, es sei ein symbolisches Fallbeil von einem berühmten Künstler. Und jeder, der keinen Bock mehr hat, kann sich drunter legen.

Sie meinen eine große Guillotine?

Ja, die Köpfe legt man in dieses ausgehobelte Ding, jemand muss auf einen Knopf drücken und die Klinge schnellt von oben runter und trennt Körper von Kopf, was ich eh eine geile Vorstellung finde. Körper und Kopf zu trennen, das finde ich fantastisch.

Können Sie eigentlich gut mit Menschen? 

Ich weiß es nicht. Nicht auf gleicher Ebene. Ich möchte mich nicht demokratisch mit Leuten in Situationen auseinandersetzen, in denen jeder eine Stimme hat. Ich kann immer mit Leuten, die mir sympathisch sind. Es gibt Leute, die mag ich wirklich gerne und die können alles von mir haben. Weil ich sie toll finde, als Künstler oder als Persönlichkeiten. Und die können mir auch etwas zumuten und haben meinen höchsten Respekt. Wenn das aus irgendeinem Grund nicht klappt, ist es auch schwer mit der Toleranz.

Wie wichtig sind Ihnen Erfolg und Ruhm?

Vom Ruhm haben wir immer geträumt in den 80er Jahren – das ist einer der Schlüsselsätze. Dass man von den Außenseiterpositionen wieder die Gesellschaft dominiert. Geld und kommerzieller Erfolg haben uns nicht interessiert, wir waren alle irgendwie größenwahnsinnig.

Und Sie persönlich?

Früher hat mich Geld auch nicht interessiert, mich hat auch der Ruhm als erstes gepackt. Ich habe mich allerdings auch oft für Sachen geschämt, die offenbar überlebenswichtig waren. Nämlich den Rest an Bürgerlichkeit und Häuslichkeit, Ordnungssinn, Kleinlichkeit, eine Übersicht über die Finanzen, die manchmal an Geiz grenzte. Das waren erziehungstechnische Maßnahmen meines Großvaters, genauso wie meine Frühsportübungen, die mache ich bis heute. Die waren so ungeheuer prägend, weil es sich um die kurzen Momente der Erziehung im Leben eines erziehungsfreien Kindes handelte.

So etwas lässt sich nicht austreiben, oder?

Nein, ich bin heute aber auch stolz darauf. Dass man sich im Winter die Brust kalt wäscht, damit man abgehärtet ist und nicht krank wird. Ich schmeiße auch kein Brot weg. Ich bin auf jeden Fall ein Luxusmensch und meine Frau und ich geben gerne viel Geld aus. Aber sobald ich allein bin und mit meinen Sachen beschäftige, ernähre ich mich wieder komplett von einer Essenz aus Tomaten in Konserven, Schmalz, Brot und ein paar Bier im Kühlschrank - that‘s fucking it. Das macht auch meine Moral als Künstler aus, dass ich meine Kindheit auf dem Land bei diesen Großeltern verbringen konnte. Sonst hätte ich kein Glück erlebt. Und worüber soll ein Künstler schreiben, wenn er nicht so eine rückwärtsgewandte Utopie von Glück hat? Was mich eigentlich bewegt hat, den Roman zu schreiben: Ich wollte dieses lange zurückliegende Glück wieder hervorholen. Das hat mir die Kraft gegeben, zu überleben. Die Tatsache, dass ich diese Lebensform immer aufrecht erhalten habe, hat mich in Beziehung zu anderen sperrig und auf eine merkwürdige Art und Weise altklug, verschroben und konservativ gemacht. Ich habe im Grunde nach dem Muster meines Großvaters gelebt. Als er aus dem Krieg zurückkam, hatte er in der Fabrik ein Arbeitszimmer mit einer Glühbirne, einem Schreibtisch und einer Pritsche. Da hat er dann neun Stunden in der Produktion gestanden und neun Stunden mit der Buchhaltung am Schreibtisch gesessen, und sich dann hingelegt und gepennt. Reduktion aufs Minimum.

Sie sind praktisch als Spießer durch die hedonistischen 80er in Berlin gewatet und haben versucht, zwei Lebensmodelle überein zu kriegen?

Das sagt meine Frau auch: „Du bist ein echter Punk-Spießer, du hast beide Seiten.“ Die 80er waren eine coole Splendid-Isolation-Zeit, du hast Drogen genommen und standest halt allein am Tresen, warst eigentlich komplett für dich und musstest gar nichts machen. Du hattest deine Sonnenbrille auf und hast Musik gehört, wie in einem schwarzen Loch. Wenn da 20 Menschen um dich herumstanden, war es dir auch egal. Das war total okay für mich. Schwieriger war die Zeit, wo alle ganz viel zusammen gemacht haben, das war echt eine Herausforderung.

Wünschen Sie sich manchmal, weniger empfindsam zu sein?

Mit Sicherheit. Man möchte empfindsam sein, aber nur denen gegenüber, die es verdienen. Aber das geht ja jedem so, jeder ist im Grunde wahnsinnig empfindlich.

Braucht gute Kunst eine Form von Katastrophe?

Selbst wenn etwas völlig harmoniegesättigt ist – wenn nicht die Abgründe darunter hervortreten, kann es nur vollkommen langweilig sein. Die Herausforderung ist, dem Zuschauer oder dem Leser die Schönheit dieser Abgründe zu präsentieren. Das haben sie in Deutschland beim Filmemachen nicht so richtig kapiert, dass der Zuschauer das ja auch mögen und gerne sehen muss, was man erzählt. In Deutschland fehlt da ein ästhetisches Bewusstsein für die Sinnlichkeit.

Haben Sie schon Ideen für kommende Projekte?

Ich würde gerne einen Film über Magda Goebbels machen. Eine Frau Anfang der 40er Jahre, die hingebungsvoll, vaginal, uterusmäßig an das Tausendjährige Reich glaubt und im Bett liegt mit ihrer Whiskeyflasche und mit einem totalen Sadisten zusammen ist, und total in Hitler verknallt ist. Da fällt mir ganz, ganz viel zu ein, weil ich durch die Recherche zu meinem letzten Film Jud Süß viel aus der Zeit kenne. Magda Goebbels hat ja immer nur von dem „Führer“ gesprochen, das ging dem Joseph Goebbels auch wahnsinnig auf die Nerven. Ich würde gerne eine Kulturgeschichte kolportieren und der Frage nachgehen, was in denjenigen Frauen erotisch und phantasmagorisch ablief, die in ihrem Glauben an den Führer und dieses Tausendjährige Reich bereit waren, alles zu opfern. Es wäre eine Mischung aus trivial-komischer Oper, Sexploitation, krasser Wahnvorstellung und verklärtem Romantizismus.

Weiß man eigentlich, wie viel Sex die Goebbels hatten?

Man weiß gar nichts, kann sich aber viel vorstellen. Die hatten nicht wenig Sex, glaube ich. Die hatten sechs Kinder. Aber immer nur Töchter, einen Sohn dann irgendwann. Der Goebbels ist schier ausgeflippt, weil sie ihm lange keinen Nachfolger geboren hat. Der hat sie aufs Übelste ignoriert und bestraft, monatelang nicht mit der geredet, Drohanrufe geschickt und ihr berichten lassen, was mit ihr passiert, wenn sie das nächste Mal wieder keinen Thronfolger zur Welt bringt. Und sie ist darauf eingestiegen, mit Schuldkomplex und allem Drum und Dran.