Reifeprüfung

Essay
zuerst erschienen im Februar 1997 im jetzt-Magazin, S. 6-12
Im Internat lernt man, sich zu wehren: Gegen Lehrer, Mitschüler, sogar das Mittagessen. Dieses große Leben im kleinen kann einem sehr viel beibringen.

Wie ich lernte, eine Teeeinladung anzunehmen

Einer sagte: „In Frankfurt sind die Mädchen gut. Die hier sind irgendwie nicht so geil.” Er grinste. Er trug eine Chevigon-Jacke. Er hatte eine ziemlich dicke Nase und, alle Achtung, einen Bierbauch. Vielleicht war’s aber auch nur die Jacke. Er sagte noch: „Hehe”, aber es war zu spät. Er sagte es. Schon gab’s nichts mehr zu lachen. Ein anderer sagte: „Ich vermisse die Michaela. An Stuttgart werde ich hauptsächlich meine Freunde vermissen.” Der Spruch war okay, kein Volltreffer, aber nahe dran. So war der Typ auch angezogen: Jeans, dazu die Turnschuhe Adidas Allround. Der dritte Junge hatte eine grüne Fliegerjacke an. Das war leider nichts. Deshalb sagte der Typ auch nichts. Und da war noch einer. Er selber oder eine Person, die sich noch zeigen mußte, hatte ihm das Recht gegeben, nichts zu sagen. Auf seinem T-Shirt stand „Survival of the Fittest” und „Daytona Beach 1985‘s Harley Davidson Gathering”. Er trug das Gegenteil von einem Haarschnitt und eine Zigarette hinterm Ohr.

Die Flügeltüren der Aula gingen auf und gaben den Blick frei auf die Hundertschaften der Schüler, die nach den Sommerferien zur ersten Stunde in die Klasse gehen. Da steckte dieser Junge sich die Zigarette in den Mund und nahm ein Mädchen in Empfang. Das saß. Wir versuchten irgendwas, bloß nicht diesen Jungen, mit dem ein Mädchen redet, anzuschauen. Der Junge gab ihr Feuer, erst dann steckte er sich seine Zigarette an. Das Mädchen hatte riesige blaue Augen und riesiges blondes Haar. Seine Jeans saß eng wie eine Strumpfhose. „Gehen wir”, sagte der Junge und ging dann ohne das Mädchen zu seinen Freunden, die „Hallo” sagten und sich gegenseitig ihre Zigaretten ansteckten. „Und ihr?” fragte das Mädchen. „Kommt ihr in der Mittagsruhe zu mir zum Tee?” Der Bierbauch, der Stuttgarter, die Fliegerjacke, wir glotzten uns an. Die spinnt, dachte ich. Dann dachte ich: Die hat sich ihre Jeans enger genäht. Wir brauchten ein bißchen – die Zeit, die kleine Jungs brauchen, um Freunde zu werden und praktisch mit dem Rauchen anfangen. Dann sagte einer: „Ja.”

Wie ich lernte, eine politisch korrekte Diskussion zu führen

Der Bierbauch Stephan roch nach Van Cleef & Arpels, der Stuttgarter Christian nach Farenheit, die Fliegerjacke Bernhard – wir nannten ihn Bertram – nach nichts. Das war sein Fehler. Mein Fehler war der, daß ich Unterhosen statt Boxershorts trug. „Bist du schwul? Bist du eine Dose? Hast du Angst, daß deine Maschine explodiert?” Das war Stephan. Er benutzte das Duschgel von Van Cleef & Arpels. Das machte ihn so stark wie die Duftschwaden, die aus seiner Duschkabine krochen: Stefan war stark. So mußte man ihn auch nehmen. Bertram duschte deshalb im Schneidersitz. So konnte er stundenlang sitzen, den Kopf nach vorne über dem Ausguß baumelnd, und hoffen, daß man ihm die Rolle des Depressiven abnahm. Ich hatte keine Rolle. So stand ich morgens also mit einem Handtuch um die Hüften gewickelt zwischen den besetzten Duschkabinen da. „Na, du Schwuler?” Stephan schäumte seine Riesenmaschine mit einer Extraportion Duschgel ein. Ich sagte: „Wußtest du, daß dein Freund Helmut Kohl eine fieser Schwuler ist?” Das fand Stephan noch lustig. Politiker fertigzumachen war im Internat ein todsicheres Ding. Stephan schäumte. Er sagte: „Kleiner Schwuler…” Ich sagte: „…wie überhaupt alle Dickbäuche Schwule sind, weil sie nur Dosen zum Heiraten finden.” Mein zweiter Spruch lag nicht halb so sicher auf der tödlichen Seite wie der erste. Ich grinste. Stephan machte einen Schritt neben den Duschstrahl und hielt seine Maschine fest. Er sagte: „Ich glaube nicht, daß du so über Schwule reden darfst. Ich glaube nicht, daß der Kanzler schwul ist.” Am nächsten Tag blieb das Van-Cleef-&-Arpels-Gel in der Duschkabine stehen. Bertram erschien mit Handtuch um die Hüften. Unser Politiklehrer, den wir Öko nannten, beschwerte sich, in unserer Klasse röche es wie in einem orientalischen Puff.

Wie ich lernte, daß Intelligenz eine abstrakte Größe ist

„Sie müssen verstehen, daß Licensed to ill und Sign’o’the Times die besten Platten des Jahres sind!” Leider sagte ich das zur falschen Person. Auf dem Bett saß Christian, ein Mathebuch auf den Knien. In der Tür stand Plessing, Internatsleiter und Hauserwachsener in einer Person, und mein Mentor – der Lehrer, der einem Taschengeld gibt und auch sonst für gute Gespräche da ist. Es war Arbeitsstunde, die Zeit zwischen fünf und sieben, in der alle Schüler Hausaufgaben machen und nur die Dummen laut Musik hören. Wir hatten voll aufgedreht und dafür unseren 2x220-Watt-Verstärker von Sherwood beim Direktor abgegeben. „Wir hätten dem den Radiowecker mitgeben sollen”, sagte Christian. „Den kann kein Lehrer von einer Stereoanlage unterscheiden.” Er hielt noch immer das Buch auf den Knien, ein Kugelschreiber lag zwischen den Seiten. Ich sagte: „Das Ding ist doch, daß sich die Beasties mit Prince bedingen.” Der Spruch gab keinen Sinn. Christian sagte trotzdem: „Klar.” Er schraffierte die Rübennase des Mathematikers Russell schwarz. Ich sagte: „Nach No Sleep till Brooklyn gehört sich einfach ein Klassestück wie The Cross.” „Klar.” Christian kritzelte Kleinzeug in sein Buch, dazu bewegte er seine Lippen. Ich wurde ungeduldig: „Alles klar. Du bist entweder Fan oder du bist ein Mathe-Willi. Was willst du sein?” Christian sagte: „2,71828 ist der natürliche Logarithmus der Basis e.” Am nächsten Tag, in der großen Pause, zwang ich meinen Zimmerkameraden, mir den Unterschied zwischen Prince und den Beastie Boys zu erklären. „Da gibt’s keinen”, sagte Christian und ging dann kopfschüttelnd in seine Matheklausur.

Wie ich Hockeyspielen lernte

Ich schrie Daniel, einen kräftigen Berliner, der gerne auch mal mit Haschisch rummachte, an: „Achtung! Kopf runter! Da fliegt der Puck!” Da flog er aber nicht. Daniel warf den Schläger weg, trat zu mir rüber und semmelte mir eine rein. Er sagte: „Damit macht man keine Witze!” Es tat voll weh. Ich sagte: „Entschuldigung.” Und: „Okay.” Dann sollten alle trainieren, wie man den Torwart austrickst. Ich stand im Tor. Ich sagte: „Nicht so fest. Bitte nicht.” Ich bekam immerhin zwei Knieschoner. Der erste Schuß zerschmetterte fast das Schienbein. Nach dem zweiten Schuß durfte ich mich zu Schwester Brieder auf die Krankenstation abmelden. Ich humpelte noch zu Daniel rüber. Der rief gerade „Gesperrt!” und legte den Puck für den Freistoß auf. Alle Gegenspieler gingen in die Abwehr. Ich sagte: „Ey! Das nächste Mal, wenn du kiffen gehst, möchte ich aber dabei sein.” Er sagte: „Nicht hier. Nicht jetzt. Schau mal, ich spiele gerade Hockey.” Ich sagte: „Okay.”

Wie ich lernte, mich zu integrieren

Mittagessen. Stephan sagte: „Nasi-Goreng. Meine Eltern zahlen hier dreitausend Mark im Monat, damit ich anständige Schnitzel kriege, und die servieren mir hier diesen Nasi-Schlamassel aus Indien.” Er haute den Löffel in die Sojasprossen. „Paßt mal auf: Bald gibt’s hier Scheißi aus Peking. Oder Otzi-Kotzi aus Bangladesh.” Christian sagte ziemlich mutig: „Du bist ein elender Nasi-Goreng-Nazi.” Bertram sagte: „Mir schmeckt’s.” Da haute Stephan einem Winzling, der an seiner Stuhllehne vorbei mußte, den halbvollen Topf gegen die Brust. Das bedeutete: nachholen. Also vorlaufen zu den Küchenfrauen und mit vollem Topf zurückkommen. Bei dem Winzling handelte es sich um den Fünftkläßler und Externen Johannes Schweikle. Der trug eine vierfarbige Brille und war fürs Cellospielen bekannt. Er sagte: „Ihr habt alle ein gutes Selbstbewußtsein. Jetzt lernt noch, euch in die Gemeinschaft zu integrieren.” Zum Nachtisch gab es erstklassigen Wackelpudding mit Milch.

Wie ich lernte, auf dem Glatteis nicht das Gleichgewicht zu verlieren

Wir knutschten. Dann taten wir das Ding, das im Internat verboten ist. Die Hauserwachsene, Frau Roski, klopfte und trat, nachdem sie „Nein!”, „Nicht stören!” und „Draußen bleiben!” gehört hatte, ein. Sie sagte: „Zehn Uhr. Ende der zweiten Arbeitsstunde, Ende der zweiten Freizeit. Du gehst bitte in dein Haus zurück.” Ich sagte „Ja” und „Jajaja”, bis die Hauserwachsene wieder draußen war. Dann zog ich meine Jeans an und legte mich unters Bett. Das war so üblich: Kein Junge hätte eine brenzlige Aktion in einem Mädchenhaus ohne seine Jeans gestartet. Da lag ich, während die Bettruhe draußen die Lichter löschte, und hörte mir die folgende Mädchenunterhaltung an. Roya: „Ich bin gegen plastische Chirurgie.” Lara: „Ich nicht.” Roya: „Würdest du deinen Busen größer machen lassen?” Lara: „Weiß nicht. Jungensköpfe sind immer kleiner als eine Mädchenbrust.” Später mußte ich noch durchs Klofenster, und Herr Bier, der zweite Hauserwachsene, schrie mir „So hüpft der Hase, bevor er abgeschossen wird!” hinterher. Draußen war Schnee gefallen. Ich breitete die Arme aus und flog. Ich schaffte den Weg, von der „Wolfsburg” bis ins „Haupthaus”, ohne einmal hinzufallen.

Wie ich lernte, weniger zu trinken als ich eigentlich kann

Stiefeltrinken im „Zartenbach”. Da saßen die hundsgemeinen Hunde aus der Klasse 12. Jörg Zöffles Vater hatte einen Elektrogroßhandel in Lahr, Dirk Duffel angeblich mit Mirka, dem Bedienungsmädchen, geschlafen. Und Manni Menden hatte einen Irokesenschnitt. Mit Pitbullterriern, die getrunken haben, dachte ich, spielt man nicht. Zöffle sagte: „Stiefelrunde, die zehnte, und weg.” Stephan saugte an, wischte sich den Mund ab, setzte ab. Christian saugte, aber er vergaß das Mundabwischen. Duffel sagte: „Wir sind hier nicht zum Spaß.” Stephan antwortete: „Logisch nicht. Deshalb haben wir in der Mittagsruhe einen Schnaps weggezogen.” Ich ging schnell an die Theke und spülte mir den Mund mit einem 0,1-Liter-Fläschchen Schwarzwaldbirne aus. Dann sagte ich: „Jungs, ich kann nicht mehr.”

Wie ich lernte, mich gewählter auszudrücken

Herr Plessing fragte: „Bist du letzten Montag den Sonnenbühlweg von der Ahorn-Apotheke ins Internat gegangen?” Ich sagte: „Weiß nicht.” Die Sonne schien. Das Lehrerkollegium hatte sich zur Disziplinarkonferenz hinter Glasbausteinen an einem Tisch versammelt. Zwei Schüler fungierten als Pflichtverteidiger. Ein Opi, zu alt, um Schüler zu unterrichten, noch jung genug, um sie zu bestrafen, prustete: „Weiß nicht! Weiß nicht! Der muß doch wissen, was er tut, der Junge!” Plessing wiederholte: „Kennst du die Ahorn-Apotheke?” Ein Schülerverteidiger sagte: „Die kennt er nicht.” Ich sagte: „Nein.” Plessing fragte: „Demnach kann es nicht sein, daß du dem Apotheker Ahorn auf dem Sonnenbühlweg begegnet bist, worauf er grüßte, worauf du versucht hast, ihm seine Mütze vom Kopf zu klauen?” Ein Lehrer räusperte sich. Einer schlug seine Faust auf die Tischplatte. Ich pustete die verbrauchte Luft der Wahrheit, die sich in mir angestaut hatte, raus. Dann sagte ich: „Ich war das nicht.”

Wie ich einmal fast nichts lernte

Christians Bettlaken hatte Mirakoli-Flecken. Da lag noch Disney’s lustige Taschenbücher Band No. 219, den kannte ich schon. Ich sortierte also meine Bücher neu, Hesse hinter Böll, weil H nach B kommt. Ich fragte mich, wie lange es dauern würde, bis ich ein erwachsenes Bücherregal zusammenhaben würde. Ich schob meinen Plattenstapel mit den Schuhen zusammen, es sollte keine Hülle höher stehen als eine andere, dann war es still. Irgendjemand lief eine Treppe rauf, bediente eine Glocke, und lief sie wieder runter. Der Trockner der Waschmaschine ging. Es passierte nichts. Dann nochmal nichts. Draußen sagte Frau Plessing: „Hör mal, du kannst nicht einfach mit Marmeladenbroten rumwerfen.” Unter meinem Kopfkissen fand ich ein Stück Nudel.

Wie ich lernte, einen Freund zu trösten

Das Zimmer war geschrumpft. Das lag auch daran, daß wir zu viert dasaßen und der Morgen einer sechsstündigen Klausur aufging. Stephan hielt eine Ginflasche in der Hand und heulte. Diesmal war er richtig fertig. Er heulte wie ein kleiner Junge, den seine Eltern verlassen haben: „Ich will nicht mehr, ich kann nicht mehr, ich brauch‘ nicht mehr. Das kann niemand von mir verlangen!” Stephans Art war es, auch unter Tränen zu schimpfen: „In Frankfurt sind meine Freunde, mein Auto… und was ist hier? Schnee und Leberwurstbrote, Kühe und Spülwasser, und wenn ich ein Mädchen will, dann sagt ein Lehrer, Licht aus und Ruh!” Bertram nahm Stephan die Ginflasche weg. Pablo grinste. Ich versuchte, mir etwas anderes vorzustellen als unser Internat. Stephan brüllte: „Da draußen zieht das Leben an euch vorbei.” Christian steckte sich etwas aus dem Aschenbecher in den Mund. Er sagte: „Feuer?” Dann sagte er: „Stimmt so nicht. Hier drinnen lernst du fürs Leben.”