Requiem für Muhammad Ali

Reportage
erschienen im Mai 1971 in Twen
Chronik eines Untergangs

„Ist mir egal, ob er Clay oder
Ali heisst. Auf jeden Fall wird
er verlieren.“
Joe Frazier

„Gott ist in deiner Ecke,
Champ!“
Drew Bundini Brown,
Alis Medizinmann

Miami Beach in Florida hat viel Platz zum Sterben. Auf den Bänken am Meer und in den Coffeeshops sitzen Pensionäre, die sich längst überflüssig fühlen. Sie him­meln Muhammad Ali an, als wäre er ein Gott, der sie besucht. Die Leute auf der Collins Avenue, in den 1000-Zimmer-Hotels entlang der längsten Hotelfront der Welt, glauben nicht an Comebacks, sondern an Untergänge. Die weißen alternden Frauen, die sich ruhe­los auf den Terrazzo-Terrassen um die Swimming-pools bräunen, haben Gesichter wie gepflegte Gräber. Miami Beach ist ein New Yorker Altersheim mit hunderttausend Insassen, die im Sonnenschein ihren Tod abwarten und für Israels Phantom-Jäger spenden. Im Playboy-Club an der Plaza tritt Marlene Dietrich auf, eine tragische alte Frau mit einem Tick für falsche Wimpern und teure Rosensträuße, die ihr abends auf die Bühne gereicht werden. Es ist kein Geheimnis, dass sie sie selbst bezahlt.

Ende Februar, zwei Wochen vor seinem Kampf gegen den Titelverteidiger Joe Frazier, ist Muhammad Ali der einzige junge schöne Mann in Miami Beach. Von den Zeitungsständen leuchtet sein nackter, goldbrauner Ober­körper wie eine Ikone. Was wollen diese alten Leute von Ali, warum warten sie immer geduldig auf ihn, bis er die schmierige Treppe seines Trainings-Camps herunterkommt?

Greisinnen in chemisch blonden Perücken betteln um ein Auto­gramm vom Größten. Um ein Stückchen seiner schwarzen Prinzenschönheit, ein bißchen soul aus seinen Augen, einen wilden Spruch von seinen Lippen. Irgendetwas, das sie vernichtet und demütigt wie eine Rede von Malcolm X, der nun tot ist und dieselbe Treppe hinunterstieg, damals, als Cassius Clay hier 1964 für den Kampf mit Sonny Liston trainierte. Im Jahr darauf wurde aus Cassius Clay Muhammad Ali. Ein Black Muslim, der den Kriegsdienst verweigerte und dem die gereizte Nation wegen seines Ungehorsams den Weltmeisterschaftstitel nahm. Nun ist Ali wieder da und quält mit seinem Anblick das patriotismustrunkene weiße Amerika, das an die Gerechtigkeit seiner Kriege glaubt. Der Schwergewichtschampion ist immer noch das Symbol der Männlichkeit in den USA, und Alis Anwesenheit im Paradies der siebzigjährigen Pensionäre beweist, was Elijah Muhammad und Eldridge Cleaver predigen: daß die Weißen eine sterbende Rasse sind, unfähig, mit schwarzer Intelligenz und schwarzer Beauty zu konkurrieren.

Gegen zwölf erscheint Ali zum Training. Die Halbtoten um ihn herum klatschen. Ali liebt dieses fürchterliche Miami Beach und seine aufdringlichen Greise. Er mag alte Leute, und er mag Kinder. „Do you box?“, fragt er einen weißen Jungen. „Was boxt du, Orangen oder Pam­pelmusen, oder was? Zeig mir deinen linken Haken!“

Zu Erwachsenen und zu Reportern ist er immer gleich kühl. Längst hat er den bevorstehenden Kampf zum größten Ereignis in der Geschichte des Planeten Erde erklärt. Die Reporter, die in sein Trainings-Camp strömen, sind zahlreicher als die amerikani­schen Berichterstatter in Vietnam.

In Laos beginnen die Amerikaner einen Helikopter-Krieg. Ali hat noch nie etwas vom Ho-Tschi-Minh-Pfad gehört. Leutnant William L. Calley tritt in Fort Pherson in den Zeugenstand. Er bekommt mehr Liebesbriefe und Heiratsanträge als Ali. Flugge­sellschaften lassen ihn umsonst oder Erster Klasse fliegen. „Wer ist der Mann?“ fragt Ali. Dann erinnert er sich. „Der von My Lai.“

In einem existentiellen Sinn ist Ali der unschuldigste Mann in Amerika („I ain’t get no quarrel with them Vietcong“, das hat er nicht bloß dahingesagt.)

Morgens um halb fünf steigen die Reporter verschlafen aus ihren Betten, um Ali bei seinem Morgenlauf zu begleiten. Sie spenden den ersten Applaus, singing his glory. Um diese Tageszeit ist Ali noch umgänglich.

In seinem schwarzen Fleetwood läßt er sich zum

Golfplatz fahren und läuft eine Meile, dann stoppt er plötzlich zwischen den nassen Büschen und unterhält sich mit den Reportern. Er erklärt ihnen das Firmament. Er will das Universum zum Zeugen. Die Fixsterne werden sich bewegen, wenn er in den Ring steigt. Alles was existiert, ist auf seiner Seite. Alle guten Leute sind verloren, wenn er verliert. Die Beatles haben nichts mehr zu singen.

„Er erträumt sich selbst jeden Morgen von neuem“, meint Hugh McIlvanny fast traurig. Hugh ist vom Observer in London, ein streitlustiger Schotte, der sich seit sieben Jahren mit diesem neurotischen hochmütigen Kind identifiziert, das es ablehnt, erwachsen zu werden. Mcllvanny ist eine Respektsperson unter den Sportjournalisten. Er hat Joe Frazier beim Training gesehen und hat Angst vor dem Fall seines Idols („weil Schotten es immer mit den Göttern und Poeten halten“).

Es ist kalt auf dem Golfplatz, alle frösteln. Hugh sucht Streit, („weil die ganze Welt schon voll ist von Realisten und Ingenieu­ren“). Frazier, wer ist Frazier, ein Ingenieur! Am Boxsport sei all das interessant, was den Sport transzendiert, meinen die Literaten unter den angereisten Reportern. Das Blut, die Wunden, der Mann, der hilflos durch den Ring taumelt und seine Würde verliert, die kollektiven Erlösungsschreie der Masse, die Sympathien, die das Publikum auf seine Favoriten verteilt, wenn Schön gegen Häßlich kämpft und Satan gegen Gott. Der Schmetterling gegen den Bullen, der Boxer gegen den Schläger, das Ego gegen die Kriegsmaschine. So lauten die manichäischen Schlagzeilen vor diesem Kampf. Gut gegen Böse. Es gibt keinen Berichterstatter, der sich diesem Schema nicht fügt.

Ali ist ein Meister im Aufbau dieses psychologischen Dramas. Er entwickelt die Dramaturgie, erschafft die Gegensätze, dosiert die Ekstasen des Vorspiels, immer an der Grenze zwischen Spaß und Killen, und wenn es sein muß, wenn es das Stück, das er im Kopf hat, verlangt, schnappt er auch über. Seine Hysterie kennt keine Grenzen. Er macht alle zu Opfern seiner Einbildungkraft, seiner Rollenverteilung. Ali ist Living Theatre alle Tage. Sobald der Kontrakt für den nächsten Kampf unterzeichnet ist, beginnt er den Kriegstanz.

Es sei alles instinktive Strategie. Profiboxer seien nicht anders als Profischreiber, ereifert sich Norman Mailer, unermüdlich sich selbst mit dem Kämpfer vergleichend. Wahrscheinlich würde Norman Mailer gern Ali sein, der klassische naive junge Held, bei dem Körper und Intelligenz einander nicht entfremdet sind. Mailer dagegen war nie ein Held, sondern nur ein Exzentriker, der sich in seinen Büchern Körper und Ich eines Hünen erfindet.

Für einen Nachmittag taucht Mailer in Miami Beach auf. Er ist ein unauffälliger kleiner breiter Mann mit einer Menge grauer Locken auf dem Kopf, von einem fast biedermeierlich wirkenden pyknischen Aussehen. Die Daumen unter die Weste seines Nadelstreifenanzugs geklemmt, steht er da, ohne Notizen zu machen. Die Zeitschrift LIFE hat ihn um 5000 Wörter über den Kampf gebeten. Er bleibt nur zwei Stunden, um „nicht zu sehr stimuliert zu werden“ und gibt anderen Reportern Ratschläge. „Glauben Sie einfach daran, daß das, was Sie sehen, wahr ist, bezweifeln Sie nie Ihre eigenen Beobachtungen.“ Ali ist sein Idol. Er nennt ihn das größte Ich des 20. Jahrhunderts, den König von Amerika. Mailers Alter Ego.

Ali stimuliert sich auch in Mailers Anwesenheit weiter in Kampfstimmung hinein, singt und zwitschert seine kindlichen Verse. „It might surprise and amaze ya, but Ali will destroy Joe Frazier.” Längst hat er es fertiggebracht, seinen Namen in so legen­däre Höhen emporzuschwindeln, dass niemand ihn aufzufangen vermag, wenn er abstürzt. Die Frage ist nur, ob er danach ins Irrenhaus kommt, sich erschießt, oder normal wird. Wenn einer sagt, dass er der Größte ist, kann er eine Weile gewinnen, aber er hat sich dazu bestimmt, zu verlieren. Seine Hinrichtung ist nur eine Frage der Zeit.

Den „Größten“ hat es in Amerika immer schon gegeben. Lange vor Muhammad Ali erfand Amerika den „number one“, machte aus seinen Schauspielern, Intellektuellen und Künstlern lauter menschliche Bestseller. Marilyn Monroe nahm Tabletten, und konnte dem Fall entgehen. Mae West behauptet, siebzigjährig, immer noch, dass Mae West die unwiderstehlichste Frau Amerikas ist. Für Norman Mailer kann man nur hoffen, dass er eines Tages den Nobel-Preis bekommt, damit seine Number-One-Herrschaft über Amerikas Reporter gesichert ist.

Der Größte ist einer, der so blind in seinem Ego schwimmt wie ein Embryo im Fruchtwasser. Jeder Selbstzweifel wäre für Muhammad Ali eine Infektion mit tödlichem Ausgang. Genau­sogut könnte er aus dem Fenster im 15. Stock des achteckigen Hochhausturmes springen, in dem er sich ein­quartiert hat. Der Kampf gegen Joe Frazier ist Alis letztes, sein definitives Rendezvous mit der dunklen Voodoo-Macht des Schicksals. Er brennt so sehr darauf, die Wahrheit über sich selbst zu erfahren, als gehe es dabei darum, sich einem Lügendetektor zu stellen. Der Kampf mit „Smokin‘ Joe“ beantwortet ihm alle Fragen seines Lebens. Nie hat ein Mann mit soviel Genie, mit soviel Talent für  Show seine eigene Apotheose inszeniert. „Schaut die Queen auch zu?“ fragt er einen Sportreporter vom BBC. „Sagt ihr, es gibt etwas Bess’res zu sehn als Dracula. Taste the blood of Joe Frazier!“

Er thront auf der Spitze seiner Selbstherrlichkeit, als Jerry Penchio mit einem Kamera-Team nach Miami Beach kommt. Jerry Penchio, ein Hollywood-Agent, repräsentiert die neue Mafia. Auf seinem angenehm verlebten Jungengesicht liegt eine gefährliche Freundlichkeit, und er kultiviert seine euro­päischen Manieren. Oberhemden trägt er nur mit Monogramm und geht mit der Mentalität eines mittelalterlichen Abdeckers an diesen Kampf heran, bei dem nichts unverwertet bleiben darf. Selbst die Boxhandschuhe und die durchgeschwitzten Hosen der Kämpfer will er als Reli­quien versteigern lassen, je mehr Blut dran ist, desto mehr werden sie bringen.

Sein Kamera-Team soll Alis Privaträume filmen, Jerry Penchio hat ein Ali-Woodstock geplant. Aber Ali erteilt ihm eine knallharte Lektion, fordert von Penchio und seinen Kamera-Leuten denselben devoten Sicherheitsabstand wie von allen anderen, die er nicht an sich heran läßt. Sie dürfen nicht mal in seine Wohnung. Es gibt nur einen Weltmeister, einen Champ, und Allah ist sein alleiniger Manager, Trainer, Promoter.

Selbst Angelo Dundee hat nicht mehr viel zu sagen. Dundee hat sieben Weltmeister trainiert – jetzt steht er bei Alis Training herum wie eine Attrappe. „Philly“, sagt Angelo über seine Heimatstadt Philadelphia – die Stadt, in der Joe Frazier trainiert, „Philly ist keine Stadt. Philly ist ein Dschungel. Sie haben keine Boxhallen dort, sie haben Zoos. Und in den Zoos keine Sparring-Runden, sondern Kriege.“ Das ist Joe Fraziers Background. „Ich bin die Wahrheit“, verkündet Ali, „kann ein Home-Made-Champion wie Joe Frazier gegen die Wahrheit gewinnen? Niemals. Auch wenn er sich seit Monaten das Gesicht mit Salz einreibt, um sich gegen meine Japs abzuhärten.“

Angelo Dundees ganze Philosophie besteht darin, einen bösen Schlag in einen guten umzuwandeln. Er ist ignorant, er ist pettybourgeois, aber er baut, wenn Ali zerstört, immer wieder auf. Drew „Bundini“ Brown, Alis mysteriöser Medizinmann, steht einmal in der Ecke, ganz allein, ganz starr. Ich sehe ihn weinen. Angelo, der seine Augen überall hat, ist sofort da.

Ali schiebt Bundini weg, wenn er ihm die Hände bandagieren will. Ein Ty­rann. Bundini kämpft um sein Überleben. Ali hat ihn von Sugar Ray Robinson übernommen, wie man einen Butler von einem Vorgänger erbt. Bundini kann Dinge tun, die andere nicht können. Bundini ist Voodoo, Hypnotiseur, er bespricht Alis Seele, er sagt ihm, daß „shorty“ - so nennt er Gott - bei ihm ist.

Er legt seine Hand auf die schweißige Schulter seines Champs, um zu probieren, ob der Schweiß salzig genug ist, und dann, im Moment wenn die Ringglocke wieder läutet, läßt er ihn wissen, „Gott ist in deiner Ecke, Champ.“ Bundini ist Alis Johannes der Täufer. Er verbringt den Nachmittag damit, in einer Talmud-Ausgabe die Stelle zu suchen, die von ihm, dem schwarzen Juden und von Ali, dem schwarzen Muslim handelt, und wie am Ende Juden und Muslime zusammenkommen. Die Stelle will er den Journalisten zeigen.

Chris Dundee’s 5th Street „Gym“, ein Turnsaal, an der Ecke der Fünften Straße und der Washington Avenue. Hier trainiert Ali. Der Laden ist jetzt schon so was wie ein Museum. An den Wänden die gelbschwarzen Plakate lang vergessener Nächte, in denen Champions entthront wurden. In ein paar Jahren, wenn Ali hier nicht mehr trainiert, wenn der ameri­kanische Boxsport endgültig tot ist, wird man diesen Ort vielleicht unter Denkmalschutz stellen. Everyone will remember what happened there. Das „Gym“ ist ein Tempel, ein Heiligtum, in das Frauen eigentlich keinen Zutritt haben sollten. Aber die einzige Toilette im „Gym“ ist ein Ladies room.

Nebenan, ein Stockwerk tiefer, ein schmuddeliger Drugstore, in dem weiße Taxifahrer bei einem Pappbecher Pepsi über den Wehrdienstverweigerer schimpfen. („Erst die Flagge beleidigen, und nun noch das große Geld kassieren!“) Weiter unten an der Washington Avenue sind die koscheren Restaurants und die billigeren Hotels für die Rentner, die einen Dollar zahlen, um Ali beim Training zu sehen.

Das Publikum bricht bei jeder Bemerkung, die Ali über Frazier macht, in Dauergejohle aus. Weiße und schwarze Proletarierge­sichter neben den Freundinnen der Boxer, Foxes in gemäßigtem Afro-Look. Eine Verkäuferin aus Philadelphia, die Alis wegen ihren Ur­laub hier in Miami verlebt, führt eine Pistole in der Hand­tasche mit sich - für den Fall, daß er verliert, und zeigt sie herum. „I’ll shoot myself“, sagt sie. Niemand glaubt, daß sie es nicht ernst damit meint.

Auf der anderen Seite, durch ein Seil getrennt, die Boxer und die Reporter, Kameramänner, Fotografen mit ihren Stativen, Beleuchter. Die Prominenten, die täglich eintreffen. Sänger, Schauspieler, Fernsehansagerinnen, LeRoy Neiman, Amerikas bekanntester Sportzeichner, zusammen mit einem Bunny vom Playboy Club, die ihm die Farbstifte und die Tasche trägt, Burt Lancaster und Patrick O’Neill, Budd Schulberg, Verfasser des berühmten Boxerromans „Schmutziger Lorbeer“ und Don Donphy und Howard Cosell, die Carusos unter den amerikanischen Sportkommentatoren. Zu Zeiten wirkt das „Gym“ wie das Wahlkampf-Hauptquartier eines Bobby Kennedy. Lauter good-minded people, weiße Liberale, die dem Guten, Wahren, Schönen in Gestalt eines Boxers zum Sieg verhelfen wollen. „Burt is full of shit“, diese Bemerkung Joe Frazier’s wird reihum kolportiert. Burt Lancaster ist jetzt siebenundfünfzig und wirkt schon ein bißchen träge, ein Mann mit einer feisten Wampe, dessen Haar sich lichtet und dessen Gesicht in unzusammenhängende Teile zerfallen erscheint, Ergebnis von zuvielen Drinks. Er soll zwischen den Runden den Kampf für die Fernsehzuschauer kommentieren und nimmt seinen Job sehr ernst. Abends im Playboy Club starrt er unbeteiligt in sein Whiskyglas, sobald das Gespräch das Thema verläßt. „Mich interessiert nur noch der Kampf“, wiederholt er stereotyp.

Am nächsten Mittag dasselbe Schauspiel im „Gym“. Nach zwei Stunden Training stinkt es hier wie in einem testosteronimprägnierten Käfig. Verdunstender Schweiß, angequalmte Zigarren.Und manchmal ein süßher­bes Parfüm, nach dem man sich schnuppernd umdreht.

Ali’s Agent Clyde Atkins ist aufgetaucht und verbreitet seine Duftmarken. Er ist PR-Manager und kommt aus Chicago, ein Ex-Ehemann von Sarah Vaughan, der riecht, als ob er in einer Eau-de-Cologne-Flasche aufgewachsen wäre. Die Umstehenden spotten und lästern über sein königsblaues Jackett und seinen pfauenhaft leuchtenden königsblauen Racketeer Hut. Atkins ist der einzige schwarze Dandy von Format, der sich in diese Welt von Dreck, Müll, Schweiß und Fußarbeit hineinwagt. Der einzige, der diesen Kosmos aus Männerschweiß und Testikeln ab und zu in Gedanken verläßt; einmal spricht er davon, was man tun könnte, tun müßte für Angela Davis –- irgendwann, wenn Ali einmal zuhören wird…

Ein gewaltiger Spuckeimer, in dem eine schaumige Bouillon von Mikroben brodelt, steht neben dem Ring. Die Luft ist zum Umfallen. In halbvollen Pappkarton liegen gebrauchte Bandagen, Zigarettenstummel, Kaugummi und undefinierbarer Abfall. In die dreckigen Fensterscheiben hat jemand mit dem Finger ein Friedenszeichen gemalt.

Die Geräusche in diesem Saal bleiben sich immer gleich: der ehemalige Weltmeister Jimmy Ellis, von Frazier letzten Februar geschlagen (Frazier kann einen Bullen töten, sagt man), Jimmy Ellis schlägt langsame Gerade in den zweihundert Pfund schweren Punching-Sack. Ali veranstaltet ein Maschinengewehrfeuer am speed-bag. Gemurmel am Telefon, die Ringglocke, die alle drei Minuten bellt, selbst wenn niemand im Ring ist. Und immer wieder bei allem, was er macht, Beifall für Ali. Manchmal wird es für Sekunden ganz still, dann hört man nur noch das Pfeifen der Luft durch die gebrochene Nase von Luis Rodriguez. Ein schwarzer Kubaner, ehemaliger Weltmeister im Mittelgewicht, ein „has-been“. Er atmet schnaubend durch das, was von seiner Nase übriggeblieben ist – stecknadelgroße Nüstern. Ali, der im Ring mit seinem Sparring-Partner Rufus Brassell herumtändelt statt zu boxen, läßt die Luft zornig aus seiner Nase entweichen wie Kohlensäure aus einer Coca-Flasche.

Ali’s frühere Freunde sind vollzählig wieder da und ein paar neue Parasiten dazu, in zumeist undurchsichtigen Funktionen. Hauptsache, sie lassen keine Einsamkeit aufkommen. Jeder dieser Freunde, inzwischen Barbesitzer in Harlem, Hustler oder professionelle Golfspieler, versucht irgendwann, Geld aus den anwesenden Journalisten herauszupressen.

Smokey der Bär, ein bekannter Ringer und Ticket-Hustler, ein Gebirge von einem Mann mit Zähnen wie ein Wolf, hält die Fans hinter dem Seil zurück, regelt Autogrammwünsche, läßt kleine Jungen der Reihe nach durchschlüpfen, damit sie ein Foto von Ali machen können. Smokey ist kein Black Muslim, aber er war immer dabei, wenn Ali kämpfte. Er war auch dabei, als Malcolm X im Ballsaal Audubon in Harlem erschossen wurde, die Anrede „My Sisters and Brothers“ noch auf den Lippen. „Ich habe jede Menge Blut aus seinem Mund kommen sehen, Honey, und das war alles, jede Menge Blut, mehr kann ich Dir davon nicht erzählen.“

An der Tür ein Unikum, ein alter Mann, der ohne den Betrieb nicht leben kann. Mo „Sellout“ Fleischer. Er hat Champions gemacht und gemanagt, hat ihr Fleisch pfundweise verkauft, und ist jetzt selber eine Ruine, die sinnlos durch das „Gym“ schlurft. Mo ist vergeß­lich. Jeden Tag zeigt er uns ein fünfzig Jahre altes Foto von seiner verstorbenen Frau. Wenn er aufgedreht ist, kommen Jahrzehnte von Boxlegenden aus ihm heraus, angefangen bei dem ersten schwarzen Weltmeister im Schwergewicht, Jack Johnson, mit dem sich Ali am häufigsten vergleicht, jedenfalls in den Stunden, in denen er sich als Märtyrer des weißen Amerikas fühlt.

In diesen erschöpfenden Wochen, in denen Ali trainiert, wird in Hollywood James Earl Jones, ein fünfunddreißigjähriger schwarzer Schauspieler, für den Oscar nominiert. James Earl Jones spielt die Rolle des schwarzen Boxweltmeisters Jack Johnson in dem Film „Die große weiße Hoffnung“. Johnson war der erste schwarze Weltmeister im Boxen, ein heißblütiger Kämpfer aus den Südstaaten, mit dem der Rassenkrieg im Ring begann. Der schöne schwarze kraftvolle geschmeidige Neger mit dem kahlgeschorenen polierten Pharaonenhaupt gegen lauter weiße Hoffnungsträger, die versagten, bis Johnson am Ende, durch Morddrohungen bezwungen, den Titel an einen weißen Boxer abgab. Muhammad Ali geht mehrmals in die Vorstellung von The Big White Hope, insgesamt fünfmal. In downtown Miami sitzen fast nur Schwarze im Kino, wenn Ali hereinkommt. Ein widerwärtiges Stöhnen und Geschrei geht durch das Publikum, wenn Johnson auf der Leinwand seine weiße Geliebte mit einem Handtuch verprügelt und sie wie ein Berserker gegen die Wand schleudert. Johnson hatte drei weiße Frauen, von denen eine Selbstmord beging.

Aber Ali hat längst Schwierigkeiten mit dem Hass auf die weiße Rasse. Dieses Amerika, das ihm seinen Titel geraubt hat, das ihn wegen seines mangelnden Patriotismus verdammt hat und das er wegen seines falschen Patriotismus verdammt, serviert ihm jetzt den Kampf für 2,5 Millionen Dollar auf dem Tablett: Mehr kann ein Land, in dem Ali der zweitpopulärste Mann nach dem Präsidenten ist, für seinen schwarzen Prinzen nicht tun. 2,5 Millio­nen, eine Summe, die um so obszöner wirkt, je mehr man über sie nachdenkt. - „Dafür kann sich der Junge goldene Zehennägel anschaffen“, nuschelt Mo Fleischer im „Gym“. „Und sonst noch was, das ich besser nicht sagen will, vor Damen.“

Ali ist nicht unfreundlich, aber zurückhaltend und wortkarg, wenn ich ihn an­spreche. Weißen Männern gibt er die Hand, weißen Frauen nur, wenn es un­umgänglich ist. Man weiß, daß er gele­gentlich weiße Freundinnen hatte. Jetzt gestaltet er jede Begeg­nung, jedes offizielle Ge­spräch mit einer weißen Frau zu einem Akt der Verweigerung, auch wenn er mir hinterher über Bundini Freundlichkeiten zutragen läßt.

Er ist schon lange kein Radikaler mehr. In Miami Beach lebt und wohnt er wie ein weißer Bourgeois der Upper Middle Class, der seine Dollars in pompösen schlechten Geschmack umgesetzt hat. In seinem Haus in Philadelphia, das er seinen Eltern schenkte, sind die Teppiche so dick, daß man kaum das Gleich­gewicht darauf halten kann. Kristalleuchter und imitierte Louis XV Möbel, Rolls-Royce und Cadillacs und einen Swimming-pool nur für Gäste. Wenn man ihn auf diese Widersprüche hinweist, wie die schwarzen Studenten, vor denen er Vorträge hielt, zischelt er so wütend wie eine Anakonda. Selbst denen, die ihn hassen, fällt es schwer, immun gegen Ali und seine heroische Vision von sich selbst zu sein. Selbst die, die ihn unaufhörlich lieben, sind am Ende immer ein wenig ent­täuscht und traurig, wenn sie ihn verlassen.

An einem Nachmittag kommt ein Mann aus Alis Massagekabine, der aussieht wie Jehova, mit buschigen, theatralischen, weißen Augenbrauen und einem großen Klumpen Nase, die man ihm einmal im Ring gebrochen hat: Budd Schulberg. Ich sehe ihm seine Enttäuschung an. Der Verfasser von mittlerweile klassischen Drehbüchern wie „Die Faust im Nacken“, der Mann, der im Negerghetto Watts in Los Angeles eine Schule für schwarze Schauspieler gegründet hat, war gekommen, wie ein Va­ter kommt, um den Sohn anzubeten, weil er den Sohn für göttlicher hält als sich selbst.

„Ali hat das Charisma und den Respekt der schwarzen Massen, er könnte Amerikas Erlöser sein, warum hat er nicht den Mut dazu?“ grübelt Schulberg still vor sich hin. Er zweifelt täglich an seinem Idol, aber zwischen den Zweifeln ist er davon überzeugt, daß der kommende Kampf eine Zäsur in der Geschichte der Vereinigten Staaten sein wird, eine Zäsur im Bewußtsein der Nation. Ali könne den Vietnamkrieg beenden und Amerika in ein neues Zeitalter ohne Rassentrennung führen, sagt er. „Die Black Muslims fürchten, daß Ali sich einmal von ihnen abwenden könnte, aber Ali fürchtet sie noch mehr.“ Dann bricht er ab, als hätte er bereits zu viel Negatives über seinen Helden gesagt. Rahaman, Alis Bruder, steht immer in der Nähe. Sein fanatischer Weißenhaß ist mehr die qualvolle Projektion eines Opfers als politische Überzeugung. Die einzige Möglichkeit zur Selbstbefreiung, die sich dem Bruder im Schatten anbietet. Er kann Alis Ruhm nicht entkommen. Ausgerechnet in der Welt, in der sein Bruder ein Gigant ist, ein Superstar, will er selber ein Box-Champion werden, aber niemand nimmt ihn als Boxer richtig wahr. „Mein Bruder ist so unberechenbar wie eine Frau“, sagt Rahaman etwas mühsam lächelnd, oder: „Fragen Sie doch meinen Bruder, warum er mich nicht als Sparringpartner will.“ Er ist der ewig Unterdrückte, der ewig Eifersüchtige. Bundini, Alis Medizinmann, der darauf besteht, daß man ihn assistant trainer nennt, hat ständig Ärger mit ihm. Rahaman verdächtigt ihn, die gesunden natürlichen schwarzen Mädchen durch die perversen erotischen Angewohnheiten zu verderben, die er bei den weißen Frauen lerne, mit denen er ausgehe. Bundini ist nie Black Muslim geworden. Um seinen Hals baumelt an einem Kettchen der Davidsstern. Er glaubt an Ali, so felsenfest, wie er glaubt, daß König Salomon und Moses Schwarze waren. Solange kein anderer kommt und ihm das Gegenteil beweist, bleibt Ali für Bundini der schwarze Messias.

Alis Familie - ein Problem. Ali liebt seine Mom, eine goldhäutige Matrone, von der er die sanften Gesichtszüge erbte und die er auf seinen Reisen mitnimmt. Von der Frauenzeitschrift McCall’s wird sie nach Miami eingeflogen und in einem flatternden orange-blauen Organdy-Kleid fotografiert. Verkörperin des schwarzen Matriarchats, die triumphierend mit einer rosa Perlentasche schlenkert. Vater Clay, ein Säufer und Querulierer aus St. Louis, ein verhinderter Künstler und Bohemien, neidet seinem Sohn die Karriere. Vielleicht war es Clay Seniors Unberechen­barkeit und unerfüllter Ehrgeiz, der seinen begabten Sohn in den Traum hineintrieb, in dem er eingesperrt lebt wie ein Mönch und einem beinahe apostolischen Glauben an die Allmacht seines eigenen Körpers huldigt. Irgend etwas, wovon wir nichts wissen, hat man ihm angetan - irgend etwas hat für immer seinen Stolz verletzt. Andere lassen sich ihre Träume austreiben. Der Mann, der einst Cassius Clay hieß, und sich dann den Namen Muhammad Ali zulegte, hält seinem Traum die Treue.„Jedermann hat ein Ziel und muß herausfinden was sein Ziel ist, wenn er noch ein Kind ist, sonst existiert er nicht. Als ich zwölf Jahre alt war, habe ich mir selber versprochen, Weltmeister zu werden. Everything in my youth was to dream about it. Ich träumte davon abends im Bett, im Bus, auf der Straße, bei jeder Pepsi, die ich trank, während ich Pommes frites aß. Ich wollte künstlerisch sein, schön anzuschauen, graziös wie ein Steptänzer, so klassisch kämpfen wie Marciano.“

Joe Frazier dagegen ist einer, der nie jung genug war, um einen Traum zu träumen. Er ist im Galopp erwachsen geworden, jetzt mit siebenundzwanzig ist er wahr­scheinlich älter als vierzig. - Er hat nie gespielt, sondern immer gearbeitet, als kleines Kind auf der Farm seines Vaters im rassistischen South Carolina, als vierzehnjähriger fetter Teenager in einem Schlachthaus für koscheres Fleisch in Chicago. Bis zu den Hüften in Blut und Eingeweiden, Kuhhäute schaben.

Dann war er Bauarbeiter, immer noch so fett, daß ihm keine Trainingshose zu passen schien. Mit siebzehn verheiratet und gleich zwei Kinder und immer mehr Verantwortung als für sein Alter normal war. Joe Frazier ist der wirkliche Underdog. Ali war immer schon ein Prinz. Joe Frazier hat nichts zu verlieren, aber er hat eine Jugend nachzuholen. Er will einfach ein bißchen Leben nach dem Kampf, live a little, Spaß haben, eine Menge Geld ausgeben, auf seiner frisierten Harley wie ein Irrer über die Highways von Philadelphia jagen.

Auf Alis Körper ist keine Narbe der Vergangenheit zu sehen, eine makel­lose Statue mit kleinen knabenhaften Brustwarzen. Er ist neunundzwanzig, boxt seit seinem zwölften Lebensjahr und sieht aus, als habe er sich vor fünf Minuten entschlossen, Boxer zu werden. Ali ist kein Joe Louis, kein Sultan, dem man ständig Frauen herbei­schaffen muß. Sein Appetit auf Frauen scheint bescheiden zu sein, verglichen mit dem, den er auf sich selbst hat. Sein Körper gehört nur ihm. Er ist tief verliebt in sein eigenes Fleisch, in seine eigene Haut, in den Ausdruck seiner eigenen Augen. Nach jedem Sparring ist die erste Handbewegung nach dem harkengroßen Kamm, den Bundini ihm in den Ring reicht.

Im „Gym“ kann er eine halbe Stunde lang beim Seilchenspringen derart intensiv in den Spiegel starren, daß eine Frau sich ihr Leben lang dafür hassen müßte, weil sie mehr Fehler an sich entdeckt hat, als sie ertragen kann. Ali entdeckt immer nur wieder aufs Neue, daß er schön ist und herrlich. „Up and down and round and round, all around, sometimes I feel so nice, good God, jump back, I want to kiss myself“, den Song muß James Brown für Ali erfunden haben.Es gibt im „Gym“ viele, die behaupten, daß er nie ein richtiger Boxer war, nur ein Glücksritter in einer Zeit, in der es keine großen Boxer mehr gab. Er konnte sich alles leisten, die Arme hängen lassen, mit dem Oberkörper über die Seile ausweichen, alles, weil er so schnell war, der schnellste Schwergewichtsmeister, an den Mo Fleischer sich in seinem Leben erinnern kann. „Ali war nie vollendet“, sagt Budd Schulberg, „und vielleicht werden wir nie wissen,wie groß er wirklich hätte sein können.“

Zu den Eigenschaften des klassischen Boxers gehört ein Masochis­mus, den Ali, der Narziß, wahrscheinlich auch früher nicht besessen hat. Lust an der Selbstbestrafung, an der körperlichen Erniedrigung, Lust am Sklavendasein, am ewigen sinnlosen Schweiß, der von Rücken und Beinen rieselt. Ali trainiert unkonzentriert, mal zu viel, mal zu wenig. Nie metho­disch, ohne planmäßige Organisation. Am Sonntagnachmittag, als er sparren will, sind seine Trainingspartner alle zur Kirche gegangen. Er ist ein Sensualist. Er liebt es, wenn man ihn anfaßt. Immer legt irgendjemand seinen Arm um seine Schultern, er sucht ständig nach der Nähe der anderen, nach Wärme, nach Berührungen. Wenn er durch Mengen geht, genießt er den körperlichen Kontakt wie ein Baby. So verhält sich einer, der sich ständig an der eigenen Haut vergewissern muß, daß er lebendig ist. Wenn er nackt auf dem Massagebett in der Kabine des „Gym“ liegt, wo ihn eine ausgewählte Schar von Repor­tern sprechen darf, kommen diese irritiert von der Audienz zurück, wundern sich, daß Ali pausenlos an seinem großen nackten Körper herumspielt.

Dabei ist Ali der geborene Puritaner. Er vergöttert Sauberkeit. Der Verzicht auf Alkohol fällt ihm leicht. Enthusiastisch preist er die Orangen- und Mohrrübensäfte, die ihm seine Black-Muslim-Köchin auspreßt, und koscheres sauberes Essen und die saubere unver­schmutzte Luft von Miami. Bevor er ins Kino geht, vergewissert er sich ein paarmal, daß es kein Sex- oder Liebesfilm ist. Er ist der cleanste Junge Amerikas, der nicht mal nach einem Sieg Champagner trinkt. Ali futtert nur Eiscreme und Kuchen.

            lm Hintergrund des „Gym“ wie ein griechischer Chor das Gemur­mel der Reporter, alle davon überzeugt, daß Ali verlieren wird. „His legs are gone“, „seine Beine sind nur noch eine Erinnerung“, oder „ich habe heute seine Bauchdecke gefühlt, weich wie ein Baby­arsch…“, sie murmeln es nur. Ali hat an Leroy Neiman eine seiner  Kinderzeichnungen verschenkt, von denen er im Lauf des Trainings eine Menge angefertigt hat: im Zentrum der naiven Kritzelei der Ring, er selbst als strahlender Sieger, K.O. über Frazier in der neunten Runde, rundherum lauter Strichmännchen, ein rasendes Publikum.

„Wenn ich nicht so groß und bedeutend wäre, dann wärt ihr doch alle nicht hier und scharf darauf, euch mit mir zu unterhalten,“ nimmt Ali die Skeptiker hoch. Er prahlt schon wieder: „Ich bin der einzigste Boxer („the onliest one“), dem man je Fragen gestellt hat wie einem Senator.“ Letztlich kennt Ali nur eine Form des Umgangs mit Muhammad Ali, die Huldigung. In einer Fernsehshow des letzten Jahres versuchte Norman Mailer ihn in eine Unterhaltung über Philosophie zu verwickeln. Aber Ali, angeblich mit dem Intelligenz-Quotienten eines Hilfsschülers, ließ keine Anbiederung zu, stellte eindeutig klar, daß Norman Mailers Gott nicht sein Gott war und daß das Gute niemals das Böse sein kann. Dann redeten sie eine Zeitlang aneinander vorbei, während Mailer Kierkegaard zitierte und Ali Allah.

Ali peitscht sich täglich aufs neue in Kampfgeist hinein. Langsam wird es schon langweilig.„Joe Frazier, Joe Frazier, ich werde den Namen Joe Frazier aus der Geschichte auslöschen, ein für alle Male.“ Niemand weiß, wann es Pose ist, wann Ernst, es ist immer irgendwo dazwischen, es ist immer eine große Lüge und eine große Wahrheit, die Ali auftischt. Hat er sich entleert, hat er den künstlichen Zorn herausge­schäumt, wird Ali friedlich. Seine Züge entspannen sich, werden wieder sanft. Unten an der Treppe wartet jeden Tag ein alter betrunkener Schwarzer und lauert darauf, daß er Ali zu fassen kriegt. „Hey, man“, schreit er und reißt an Alis schwarzem Hemd, „mein Mann ist Joe Frazier“. - „All right man“, nickt Ali. „Sonny Liston war auch dein Mann.“ „ Eine leere Stelle auf den Radarschirmen“, „ein unsichtbarer Schweißfleck im Ring“, mehr sei von Sonny Liston nicht übrig geblieben – das klingt irgendwie müde. Das hat er schon oft gesagt. Ein paar seiner ständigen Gags wirken in den letzten Tagen vor dem Kampf bereits so alt, als wären sie von Bob Hope erfunden.

Endlich gibt es Neuigkeiten. Die Schuhe, die Ali beim Kampf tragen wird, sind eingetroffen. Er probiert sie sofort an, verliebt in seine shuffle-shoes, wie er sie nennt. Eine Sonderanfertigung der deutschen Firma Adidas, aus weichem weißen Leder, mit purpurnen Troddeln geschnürt. Plötzlich manövriert sich Ali wieder in Paranoia. „Sie haben mir meinen Titel genommen, ich werde nicht zulassen, daß Joe Frazier mir auch noch meine Troddeln wegnimmt“, schreit er auf. Irgendein plumper Neandertaler stampft dort oben im Norden herum und beleidigt seine Majestät Ali. Joe Frazier, zum hundertsten mal, wer ist Joe Frazier? Ein Smoking-Jackett voller Muskeln, der sich vor die Mikrofone stellt  und versucht, mit seinem schwachsinnigen Bizeps zu singen. Der Hohn, den Ali für Frazier übrig hat, nimmt jetzt hämische Züge an, klingt nicht mehr komisch. Danach phantasiert er von einem eigenen Jet, in dem er von Land zu Land fliegen kann, er, der erste schwarze Champion, der alle Staatspräsidenten besucht wie die amerikanischen Astronauten.

In New York, weit weg von Miami Beach, kurz vor dem Kampf in Madison Square Garden wachsen die Zweifel der aficionados. Boxen hat etwas mit Tod zu tun; ein Mann, der versucht, einen anderen in die Bewußtlosigkeit zu schlagen, ist ein Gladiator, der in einem Passionsspiel auftritt. Ein K.O. Schlag ist ein kleiner Tod vor großem Publikum. Die sportlichen Aspekte, Regeln und Technik, Rundenlänge und Rundenzahl, sind nur die Formgebung für ein primitives religiöses Drama, in dem ein Menschenopfer gebraucht wird. Wahrscheinlich ging es beim ersten Faustkampf zwischen Männern um eine schöne Frau, und es seien die Frauen im Publikum, die am lautesten schreien, wenn im Ring gekillt wird, behaupten die Zuschauer im „Gym“ in Miami Beach. Würden die Boxer beim Kampf Helme tragen, den Unterkörper mit Leder schützen wie beim Training, würde man die Gewichte aus den Handschuhen nehmen, was würde dann übrig bleiben, um die Emotionen der ganzen Welt in Gang zu bringen? Vielleicht Sport, aber man kann auch aus Seilchenspringen Kampfsport machen. Ein Boxer prostituiere sich wie ein Mann, der seinen natürlichen Feind ignoriere, und stattdessen in den Ring steige, um jemanden k.o. zu schlagen, gegen den er nichts hat. So räsonnieren nur Boxsportverweigerer, die nicht auf den Knien liegen vor Ali.

Zwei Tage vor dem Kampf drängen sich ein paar hundert Journalisten bei der Pressekonferenz in New York. Oldtimer ihrer Branche, ein schwarzer Exboxer, früher Weltergewicht, jetzt schwerbäuchiger Baptistenprediger, alte Mafiosos sind unter ihnen, man sieht Gesichter wie am Hof der Lukrezia Borgia, kleine und große Cäsaren, dicke Zigarrenstummel im Mund, Reporter in Flanell und Trenchcoat, die ganze Statisterie aus Humphrey Bogart Filmen. Ali ist in New York angekommen.

Am Sonntagmorgen entwischt er den Reportern und geht nach Harlem. Kaum ein schwarzer Arbeiter dort, der sich das billigste Ticket von zwanzig Dollar für die TV-Übertragung leisten kann, Ali präsentiert sich als Champion der armen Leute, der den Cadillac zu Hause läßt, um mit ihnen in der Subway zu fahren.

An der Pressebar im New Yorker gibt es kostenlose Drinks für die Journalisten. Sie haben ihre Vorberichte getippt, haben sich gegenseitig ihre Artikel und Prognosen vorgelesen und sind jetzt soweit, daß sie selber mit Fäusten aufeinander losgehen möchten.

„Writers are all frustrated fighters“, sagt Joe, der Barmann zum wiederholten Mal. Er schüttelt mißbilligend den Kopf. Selbst lächerliche alte Herren machen sich zum Narren und finden plötzlich, daß ein Kinnhaken das beste Argument ist, einen Tag vor dem Kampf.

Budd Schulberg schläft seit ein paar Nächten nicht mehr. Norman Mailer will dieses eine Mal keine Voraussagen machen. Er habe sich zu oft schon geirrt. Schulberg überwindet seine Zweifel und glaubt plötzlich wieder fest an Ali. Damals beim Weltmeisterschaftskampf Sonny Liston gegen Patterson hatte Mailer auf Patterson getippt und Schulberg auf Liston. Am Morgen danach kam Mailer über seine falsche Prognose nicht weg und wollte sich mit Schulberg schlagen.

„Und ich sagte zu Norman, Norman, ich verstehe eine Menge mehr vom Boxen als Du, aber ich glaube, daß Schreiber schreiben sollten und Champions kämpfen… Aber Norman wollte unbedingt Genugtuung und zerrte mich auf den Bürgersteig raus. Später in der Pressekonferenz ging Norman dann hin und setzte sich breitbeinig auf Sonny Listons Stuhl…und dann sagte er etwas zu mir, das tödlich war, Norman kann absolut tödlich sein, ich weiß, sagte Norman, daß du an Krebs sterben wirst. Und ich sagte, Norman, ich werde Dich überleben, auch wenn Du das Oberhaupt der jüdischen Mafia bist.“ Neben Budd Schulberg steht Hugh McIlvanney und hört den Geschichten zu, die er so oft schon gehört hat. Hugh trinkt sich durch den Nachmittag, trinkt soviel wie der Sohn eines schottischen Bergarbeiters nur trinken kann, immer auf der Suche nach einem Abweichler, einem, der an Alis Sieg zweifelt, einem, mit dem es sich lohnt, sich anzulegen. Mailer wäre dafür der geeignetste, aber er hält sich diesmal bedeckt. Hugh hat Mailer schon einmal k.o. geschlagen. Das passierte vor ein paar Monaten auf einer Party, als Norman nicht gelten lassen wollte, daß Angelo Dundee ein phantastischer Mann in der Ecke ist… So phantasieren sie vor und nach jedem Kampf über Große und Größte…

Dann beginnt die Nacht der Nächte in Madison Square Garden: um acht Uhr, eine halbe Stunde vor Beginn der Vorkämpfe, hat Odessa Clay oben auf dem Rang Platz genommen. Zwei Blöcke hoch über den Ring­sitzen sei für sie reserviert, lamentiert sie und klagt, dieser Boxkampf, der Kampf des Jahrhunderts, und sie, die Mutter des Champ weiter weg vom Ring als alle die weißen Hollywood-Stars, die langsam eintrudeln und tief unter ihr nahe am Geschehen sitzen. Unten am Ring steht Alis Vater, wie immer angetrunken, und schwadroniert sich darüber weg, daß nicht er der Star des heutigen Abends ist. Rahaman, Alis Bruder, boxt in den Vorkämpfen, und seine Niederlage bestätigt ihn wieder einmal als den zweiten.

Nur ein paar Viertelstunden noch bis zu Ali’s Waterloo. Die Ouvertüre ist wie immer verführerisch. Ali im roten Midi-Bademan­tel, zum letzten Mal schwebend, im Vollbesitz seiner Beauty. Als er in den Ring tritt und an Frazier vorbeitänzelt, steppt er so graziös wie ein kleines Mädchen, watch me, watch me, I got soul and I’m superbad … Dagegen Frazier, der seine Häßlich­keit durch grüngoldene Brokathosen noch betont. Die Düsternis in seinem Gesicht rührt nicht von seiner Hautfarbe her, sondern von seinem Karma. Er hat kurze, krumme Arme, die aussehen, als ob er sie nicht einmal strecken könnte, eigentlich sind es nur Stümpfe, und er reicht Ali gerade mal über die Schulter. Unter dem Rand seiner lächerlichen Hosen schauen die Krampfadern hervor. Aber er ist stur, nicht assoziativ wie Ali, er folgt einem Plan.

Frazier, das ist die Libido eines Kingkong, gepaart mit der Methodik und Konzentration einer Maschine, die auf Alis Rippen und Hüften einhämmert – Rock ‚n‘ Roll gegen Soul. Es gibt schreckliche Momente schon in den ersten Runden, Augenblicke, in denen Ali aussieht wie ein Mann ohne Waffen, als wäre er ein Fremder im Ring, jemand, dessen Füße den Kontakt mit seiner Seele verloren haben. Noch in der Siebten schüttelt er den Kopf, nicht getroffen, hat nicht weh getan. Ein Komödiant, der immer noch auf das Unterbewußtsein seines Gegners zielt, um dort Angst zu mobilisieren. Aber die roten Troddeln an seinen hochgeschnürten Schuhen schwingen leblos. Während der Vierzehnten Runde kommen die Leute langsam von den Rängen herunter, drängen nach unten, um den Kill besser zu sehen.

Irgendwo in der Menge von Zwanzigtausend sterben zwei Menschen am Herzschlag. Gott ist in Deiner Ecke, Champ, tönt Bundini.

Vergebens. Ali, Ali, Ali, die Liebesschreie des Publi­kums treffen wie Pfeile auf seine Haut. Ali, Ali… Er kommt aus seiner Ecke und irrt eine Minute lang durch den Ring wie ein Wellenreiter, der sein Surfbrett verloren hat. Wieder erstarren die Zuschauermassen. Das hier ist Fraziers große Sekunde in der 15. Runde. Ein linker Haken, und der Größte fällt. Fast träumerisch geht er zu Boden. Eine erschreckende Sanftheit steht in seinen Augen. Hollywood, eingeflogen nach New York, unten auf den ersten Rängen, schreit auf. Dies ist wie ein Kennedy-Mord. Frank Sinatra, der Ali schon immer verlieren sehen wollte, fotogra­fiert seinen größten Moment.

Unten am Ring reißt sich Budd Schulberg die Smoking-Schleife herunter, reißt sein Hemd auf und beginnt zu weinen. Joe Frazier nimmt Ali nicht nur den Titel, er nimmt Alis Jugend mit ihm, die Aura von Göttlichkeit. Bundini weint, und eine Menge anderer Leute weinen, vor den Kopf geschlagene Journalisten, die sich dennoch drängen, um zum Presseraum zu kommen, wo Joe Frazier, der endlich begriffen hat, daß er Champion ist, etwas in die Mikrophone stammelt, jeder Millimeter seines Gesichts entzündet und geschwollen von Alis Schlägen. Auf den Bildschirmen läuft ein halbes Dutzend mal in Zeitlupe die fünfzehnte Runde. Ave Ali. Sein erstauntes Gesicht, dann der Fall. Selbst als er zu Boden ging und noch einmal wieder hochkam, war er klassisch, richtete sich auf in  derselben Haltung, wie sie die sterbenden Krieger auf griechischen Reliefs einnehmen.

„Ich kann nicht an Morgen denken, morgen beginnt ein neues Zeitalter“, wimmert Budd Schulberg. Er weint immer noch oder schon wieder. Draußen ist es so kalt, daß einem die Nasenlöcher zufrieren. Durch die eisigen Straßen Manhattans verlieren sich die Zuschauer, flüchten vor Alis Niederlage. Nur raus, weg aus Madison Square Garden. Im Hotel Amerikana findet ein Black-Power-Ball statt. Mehr als tausend Schwarze, die Halb- und Unterwelt Harlems, Transvestiten in weißen Hermelinmänteln und blonden Perücken, hochgewachsene Dandys, die sich in rosa Smokings auf Stilettos bewegen. Sie wollen die ganze Chose vergessen und nur noch trinken und tanzen. Ihre in die Schneidezähne eingesetzten Brillianten funkeln um die Wette, wenn ein unbändiges Gelächter ihre Münder zu Kratern aufreißt. Gegen vier Uhr früh taumelt Bundini aus dem Saal, in dem Count Basie ein Requiem für Ali spielt, Bundini so volltrunken, daß er nie­manden mehr erkennt.

Es ist eine Nacht, in der alle zuviel trinken und zuviel reden und zu sentimental werden. Zu Beginn der morgendlichen Rush Hour, als Hugh McIlvenny zurück ins Hotel fährt, murmelt er immer noch, daß Ali etwas hatte, was andere nicht hatten, während der Taxifahrer zu ihm sagt, „Champions are coming and champions are going, but traffic goes on forever.“ Ali wird wiederkommen, murmelt Hugh sturzbetrunken in seinen Bart und sieht hinter den Lichtreklamen am Times Square göttliche Funken aufflammen. Und dabei fällt Hugh wieder ein, daß Ali sich immer ein Haus auf einem Berg bauen wollte, um die Tiefebene zu sehen, mit lauter Menschen, die zu ihm aufschauen und ihn grüßen und ihren Kindern sagen, dort oben im Licht, dort oben wohnt Muhammad Ali und schreit nach unten: Watch me, watch me, I got soul and I’m superbad.

Muhammad Ali starb am 3. Juni 2016 im Alter von 74 Jahren an den Folgen einer Parkinsonerkrankung, die 32 Jahre andauerte.

Joe Frazier starb am 7.November 2011 an einem Lebertumor, sein Sarg war gerahmt von einem Plakat des Kampfes von 1971. Bei der Trauerfeier applaudierte ihm sein schwerkranker Rivale Muhammad Ali.