Sag mir, auf welche Art du gehst

Kunstkritik
zuerst erschienen am 2. August 2001 in Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 177, S. BS4
Dann sage ich dir, wer du bist: Christoph Keller analysiert die „Encyclopaedia Cinematographica“

Die Wissenschaft der Neuzeit unterscheidet sich von ihren Vorgängern dadurch, daß sie Bewegung nicht mehr auf herausgehobene Momente, sondern auf jeden beliebigen Moment bezog. Galilei beispielsweise veranschaulichte Bewegung dadurch, daß er den zurückgelegten Weg eines fallenden Körpers in Relation zur Fallzeit setzte. Die Analyse allgemeiner Bewegungsformen der belebten Welt ist nun seit langem eine der wesentlichen Aufgaben der vergleichenden Verhaltensforschung, einer im Vergleich zur Physik sehr jungen Wissenschaft. Allerdings ist es dem Beobachter dabei praktisch unmöglich, etwa die Schwimmbewegungen einer Ente mit bloßem Auge lückenlos zu beschreiben - irgend etwas würde er immer weglassen.

Es ist deshalb kein Zufall, daß die Entstehung der Verhaltensforschung mit der Entwicklung des Films zusammenfällt. Mit den laufenden Bildern hatte man ein System der Dokumentation gefunden, das die Bewegung als Funktion eines beliebigen Moments reproduziert, wie Gilles Deleuze schreibt. Archiviert wurden die in der Mehrzahl vom Max Planck Institut für Verhaltensphysiologie in Seewiesen produzierten Filme im Institut für den Wissenschaftlichen Film in Göttingen. Aus der Sammlung der Encyclopaedia Cinematographica, einem von Konrad Lorenz mitbegründeten Filmprojekt, hat der Künstler Christoph Keller jetzt in den Kunst-Werken eine Installation arrangiert, die jenes Archiv in Auswahl zugänglich macht. In der Encyclopaedia sollten ursprünglich in kurzen Filmsequenzen die Bewegungen aller tierischen Lebensformen festgehalten werden. Aus den über viertausend, zumeist zweiminütigen Filmen hat Keller vierzig ausgewählt. Auf vierzig Monitoren präsentiert er sie als Paralleluniversum rhythmischer Bewegungen, die endlos scheinen, solange die Fernseher nicht ausfallen.

So setzt ein Elefant beide Beine einer Körperseite gleichzeitig vor und schaukelt sich im Paßgang über den Bildschirm. Auch Giraffen setzen ihre Beine auf diese Weise auf den Boden. Die Studien machen deutlich, daß die Gangart in ihren mannigfachen Abwandlungen nicht nur die jeweilige Art kennzeichnet, sondern darüber hinaus eine Wirkung entfaltet. Sohlengänger wie Eisbären schreiten ähnlich zielstrebig wie im Knöchelgang sich bewegende Schimpansen und Gorillas. Und die Flugstudien von Kolibris und Insekten haben mehr miteinander zu tun als die Schwimm- und Tauchbewegungen anderer Vögel. Der Galopp von Boxer und Schäferhund könnte unterschiedlicher nicht sein, während die rückwärts nach vorn zusammenklappenden Schwimmschläge des Pfeilschwanzkrebses sich organisieren wie das durchgedrückte Rückgrat des Geparden. Systematische Kategorisierungen werden so systematisch unterlaufen.

Darüber hinaus präsentiert Keller in einer zweiten Arbeit mit dem Titel „retrograd“ Auszüge aus medizinischen Filmen der Berliner Charité, darunter die 1935 dort entstandene Studie zur „Unfruchtbarmachung der Frau“, eine Anleitung für „effiziente Sterilisation“, wie die Eigenwerbung einst verhieß. So spiegelt die Geschichte des wissenschaftlichen Films immer auch dessen Haltung zur Natur. 1903 drehte Thomas A. Edison einen der ersten Filme dieser Art: „Electrocuting an Elephant“ zeigt die Hinrichtung eines Elefanten durch einen von einer riesigen Apparatur erzeugten Starkstromstoß, die Edison selber gebaut hatte. Der Elefant hatte in einem Vergnügungspark drei Menschen zu Tode getrampelt.