Señor Coconut

von 
Interview
zuerst erschienen im Juni/Juli/August 2003 in Alert Nr. 11, S. 8-17

Groß war das Erstaunen, als vor drei Jahren ein gewisser Señor Coconut Kraftwerk-Songs in Latino-Versionen veröffentlichte, stilecht eingespielt mit Congas, Trompeten, akustischer Gitarre und einem des Englischen nur mühsam mächtigen venezolanischen Sänger. Bald stellte sich heraus: Señor Coconut gibt es gar nicht, er ist bloß eine Projektion oder besser: ein Wunschdenken der Postmoderne, dass tatsächlich eine unschuldig-unbekümmerte Dritte-Welt-Combo auf die Idee hätte gekommen sein können, mit Kraftwerk den Inbegriff deutscher Progressivkultur zu interpretieren. Tatsächlich steckt hinter Señor Coconut ein freundlicher deutscher Elektronik-Produzent namens Uwe Schmidt, der schon seit Jahren erfolgreich Projekte unter verschiedensten Pseudonymen vorantreibt, u.a. Lassigue Bendthaus, Flanger, Atom Heart oder Pop Artificielle. Seit sechs Jahren lebt und arbeitet Schmidt in Santiago, der Hauptstadt des erst 1989 aus den Klauen einer Militärdiktatur entlassenen lateinamerikanischen Staates Chile. Zum Interview trafen Max Dax und Christian Borngräber, selbst Musikproduzent und ebenfalls lange Jahre in Chile wohnhaft gewesen, Uwe Schmidt in dessen Heimatstadt Frankfurt am Main.

Herr Schmidt, Sie spielen ein Versteckspiel: Sie behaupten, Ihr Name sei Señor Coconut. Mehr noch: Sie behaupten, Sie wären Dirigent einer chilenischen Kapelle, die bevorzugt Musik der Ersten Welt interpretiert. Wie reagiert man in Santiago auf Ihren Erfolg mit dieser Musik? Interessiert? Neidisch? Werden Sie kopiert?

Als ich 1997 in Santiago ankam, begann die dortige Szene gerade Techno zu entdecken. Es gab die gleiche Euphorie wie damals in Deutschland, denn für die Chilenen war diese Musik neu, ein Umbruch. Ich fand diese Techno-Parties jedoch superlangweilig. Also bin ich wenig ausgegangen und habe weiter an meinem eigenen Zeug gebastelt, an den Dingen, die mich interessierten. Dass ich in Santiago an meinen Sachen arbeite, ist ja auch in keinster Weise als Statement gedacht. Aber da ich mit den Kraftwerk-Interpretationen im Latino-Stil einen ziemlichen Erfolg hatte, und die Chilenen wiederum einen regen Austausch mit Spanien pflegen, wurde die Musik von Señor Coconut mit einem Mal aus Barcelona nach Chile re-importiert … Und als das eintrat, als diese Erkenntnis stattfand, dass diese Musik vor deren Haustür entstanden ist, da haben sich einige Leute tatsächlich die Frage gestellt: Warum macht das DER denn? Warum muss der aus Deutschland hierherkommen und so etwas machen? Das hätten doch eigentlich wir machen sollen!

Die Chilenen vielleicht nicht gerade.

Stimmt. Aber Brasilianer hätten auf eine solche Idee kommen können.

Oder Jamaikaner.

Sicherlich hat das bei den Chilenen auch mit einer Art Entwicklungshunger zu tun. Dass die viel später angefangen haben, das Außen wahrzunehmen, Elektronik wahrzunehmen. Die sind erst heute, im Jahr 2003, an einem Punkt angelangt, von welchem aus sie auf sich selbst blicken können. Das hängt natürlich auch zu einem großen Teil mit der Diktatur zusammen, die dieses Land geprägt hat. Die Diktatur hat erst 1989 aufgehört. Und noch heute sind die Nachwirkungen zu spüren. Das ist bei den Deutschen ja ähnlich, die gucken auf ihre Vergangenheit ja auch auf eine seltsame Weise. Für einen Jugendlichen oder einen Chilenen in meinem Alter war es 1990 und auch 1997 nicht naheliegend, einen traditionellen chilenischen Musikstil zu adaptieren, sondern die wollten erst einmal etwas [11] ganz anderes erleben, nach sechzehn Jahren Diktatur. Jetzt gibt es erstmals so eine Offenheit, und von daher nimmt man schon sehr genau wahr, was ich da tue und lasse in Santiago. Sie registrieren auch meinen Luxus, dass ich im Gegensatz zu denen überall hingehen und dort machen kann, was ich will - weil ich eine Basis habe. Weil die Kontakte da sind. Weil ich Tantiemen erhalte. Weil ich schon Platten veröffentlicht habe. Das geht ja alles nicht für einen Chilenen. Der sitzt da hinter den Anden bei den sieben Zwergen und kann machen was er will. Er kommt da nicht so leicht raus.

Warum ist das so schwer?

Die Argentinier nennen Chile den Arsch der Welt. Weil Argentinien so einen Knick hat. Chile liegt genau am Hintern von Argentinien. Auf der westlichen Seite ist der Ozean bis Australien. Auf der östlichen Seite sind die Anden 7.000 Meter hoch. Im Süden liegt der Südpol und im Norden ist Wüste und dann Peru. Da führt kein Weg nach Europa. Die sitzen geographisch völlig abgeschottet, hatten sechzehn Jahre Militärdiktatur und generell eine ziemlich holprige Kolonialvergangenheit. Und nach dem Ende der Diktatur haben sie jetzt die Freiheit und können sich „aussuchen“, was sie wollen. Und sie wollen natürlich erst einmal alles von außen haben. Sie wollen empfangen. Nietzsche spricht von: befruchten und befruchtet werden. Chile ist ein Land, das gerne befruchtet werden will. Das ist eine sehr introvertierte, eigenbrötlerische Kultur, nicht extrovertiert wie die Argentiniens, die sich sowieso für die Größten halten.

Und dafür von allen gehasst werden.

(LACH, LACH) Und dafür von allen Latinos gehasst werden! Ein chilenischer Musiker ist, was immer er auch macht, auf seinen kleinen chilenischen Markt angewiesen. Es gibt zwar auch in Chile die großen Labels - Sony, Warner, BMG, EMI - aber die werden von Miami aus dirigiert und gelenkt.

Eine noch krassere Situation als in Deutschland, wo die Majors ja auch lange Zeit weitgehend Befehlsempfänger Amerikas gewesen sind und gar kein Interesse an der Exportfähigkeit deutscher Musik gehabt haben.

Auf jeden Fall. Darüberhinaus ist der Markt noch kleiner als der in Deutschland, und das Einkommen ist noch niedriger. Vielleicht gibt es 100.000 Chilenen, die es sich leisten können Musik zu kaufen. Man bekommt in Chile bereits für 10.000 verkaufte Einheiten eine Platin-Platte verliehen. Sie können sich also ausrechnen, wie erfolglos ein erfolgloser chilenischer Künstler ist.

Wieso sind Sie ausgerechnet nach Chile gezogen?

Weil es der Arsch der Welt ist, genau deshalb. Weil es weit weg ist.

Australien ist auch weit weg.

Ja, aber Australien war mir zu angelsächsisch, zu bekannt. Ich fühlte mich in Australien immer so wie in London, nur mit mehr Sonne und heißer. Und das wollte ich nicht. Ich wollte überrascht werden. Weg aus Deutschland auf alle Fälle und zunächst einmal auch nur befristet auf ein Jahr. Ich wusste ja auch nicht, was aus meinen Kontakten werden würde, aus meiner Musik und aus meinen Freunden. Es hätte ja auch alles zusammenbrechen können. Eigentlich war es für mich zunächst einmal ein Isolationsexperiment.

Wie haben Sie als Europäer den Kulturschock verkraftet - dass in Chile kein Versprechen zählt, dass keine Verabredung eingehalten wird, dass alles unscharf bleibt?

Ich bin nicht nach Chile gegangen, um mit denen irgendetwas zu machen. Ich wollte meine Ruhe haben, mein Zeug machen. Ich habe im Grunde auch nur die ganze Zeit zu Hause gesessen und gearbeitet. Ich habe keine Freundschaften und keine Geschäftsbeziehungen geknüpft. Ich bin 1993 einmal in Costa Rica gewesen und dort ständig versetzt worden. Zu Geschäfts-Meetings. Die kamen einfach nicht. (lach, lach). Zwei Mal hintereinander! Der selbe Typ! Da hat es mir bereits gedämmert, dass ich in Südamerika keine deutschen Maßstäbe ansetzen darf. Ich bin das aber sehr locker angegangen. Wie oft hat man mir gesagt: „Ich ruf‘ dich morgen an!“

Aber man hatte gar nicht Ihre Telefonnummer …?

Genau! (lach) Und dann ständig diese Ausrede: „Du, ich hab‘ dich angerufen, aber ich weiß auch nicht, was los war?“ Und ich: „Hä? Was? Ich saß die ganze Zeit zu Hause, neben dem Telefon und habe gearbeitet …“ Aber das finden die dann wiederum komisch, dass ich das komisch finde, weil doch sowieso jeder weiß, dass niemand angerufen hat, dass das nur so eine Art Redewendung ist.

Sie erwähnten ja bereits, dass Sie zunächst einmal für ein Jahr nach Chile gegangen sind, um zu gucken, wie sich das entwickelt. Es scheint Ihnen ja gefallen zu haben.

Tut es ja auch, ich habe da ja sogar Familie. Da fällt mir eine Geschichte mit dem Zoll ein. Es gibt so Institutionen wie den Zoll, die Polizei, das Finanzamt, denen gegenüber ich es gewohnt bin, mich korrekt zu verhalten - einfach auch, weil es nicht ungefährlich ist, mit denen Scheiße zu bauen. Beim chilenischen Zoll dachte ich, das sei eine Institution, die nach festen Regeln funktioniert - wie das Gesetz oder der Staat. Bis man dann irgendwann merkt, dass es nur darauf ankommt, ob der Mensch, mit dem man es zu tun hat, am Morgen gut geschissen hat. Das sind dann so Momente, wo man denkt, es sei alles geregelt, aber in Wirklichkeit ist überhaupt nichts geregelt. Den einen Tag muss man Unmengen Papiere ausfüllen, den anderen Tag wird man durchgewunken, einfach, weil es Montag morgen ist, der erste Flug aus Madrid. Und ich bin so jemand, der sagt dann: „Aber man hat mir doch gesagt, hier, die Papiere, die muss ich doch ausfüllen …“ Nimmt er die Papiere und zerreißt sie vor meinen Augen. (lach, lach). Und dann stehst du da, und alle haben zugeguckt, und du denkst: „Ich Depp! Ich deutscher Vollidiot!“ Und seit diesem Erlebnis spiele ich das Spiel mit.

War das schon die Geschichte mit dem Zoll?

Ich hatte 1997 natürlich auch mein Equipment aus Frankfurt nach Santiago geschleppt, immerhin 800 Kilo Musiktechnik. Ich hatte eine Zollbefreiung für ein Jahr und dann über Beziehungen eine Zollbefreiung für ein [12] zweites Jahr bekommen. Mehr ging nicht. Leider waren meine Geräte bei der Ausfuhr aus Deutschland mit dem Neuwert deklariert worden und nicht mit dem Zeitwert, also viel zu wertvoll. Ich hätte 15.000 Dollar Zoll zahlen müssen, für Maschinen, die längst nicht mehr so viel wert waren. All die Geräte, die ich sowieso nicht benötigte, habe ich nach und nach offiziell wieder nach Deutschland exportiert. Zum Schluss waren nur noch die Riesengeräte übrig, große Mischpulte und solche Dinge. Natürlich waren dies auch die teuersten. Gottseidank hat mich damals, kurz vor Ablauf der Frist, Bernd Friedmann in Chile besucht, mit dem zusammen ich ja das Projekt Flanger betreibe. Und Bernd hatte fünf kleine Elektronikgeräte in seinem Gepäck, die er bei der Einreise nicht hat deklarieren müssen, weil er Tourist war. Das war meine Chance. Wenn der Zollbeamte am Passagierflughafen Exportfrachtpapiere unter die Nase bekam, dann wusste der nicht, was er machen sollte - und um sich keine Blöße zu geben, haute der dann immer seinen Stempel auf das Papier. Und ich sagte also zu dem Bernd: „Du, wir deklarieren jetzt deine Geräte als Mischpulte und Sampler.“ Und ich begann dann, mir selber Yamaha- und Akai-Logos nachzubauen, und ich habe mir auch noch zusätzlich Quatsch ausgedacht: Barcodes, kryptische Signets … Ich bin mit Bernd dann einen Tag lang durch Santiago gelaufen und habe mir in Copy Shops diese Aufkleber drucken lassen und auf die kleinen Geräte geklebt. Das war schon absurd, denn wenn man die Originalgeräte kennt, deren Gewicht und deren Ausmaße, dann denkt man immer, dass man für eine solche Dreistigkeit ins Gefängnis kommen müsste. Aber der Typ am Flughafen hat wie immer seinen Stempel draufgesetzt. In Deutschland würde ich so etwas, glaube ich, nicht machen.

Sie haben in diesem Moment deren Spiel gespielt, Sie haben sich sozusagen in eine Ihnen fremde Mentalität hineinversetzt. Das tun Sie ja ohnehin gerne: Sie haben unzählige Pseudonyme - Atom Heart, Pop Artificielle, Lassigue Bendthaus, Señor Coconut. Ist das Freude an der Maskerade?

Vielleicht ist es eine Lust am Spiel? Für mich eröffnet die Erfindung einer neuen Person, eines neuen Charakters neue Perspektiven. Es erleichtert somit auch Arbeitsprozesse. Ich kann von einer Identität zu einer anderen wechseln. Das normale Modell ist ja: Ein Musiker hat eine Idee. Es gibt viele Künstler, die ihr ganzes Leben an Varianten einer Idee arbeiten. Ich vielleicht auch, vielleicht ist meine Idee die Maskerade? Aber es gibt zum Beispiel diese Musiker, die in ihrem Kopf nur ein Lied hören und ihr Leben lang an der perfekten Version dieses einen Liedes arbeiten. Und ich versuche mir halt durch diese ganzen Perpektivwechsel die Möglichkeit zu erhalten, die Energien in verschiedene Richtungen fließen zu lassen. Wenn ich diese Möglichkeit nicht hätte, müsste ich mich ständig neu erfinden, das aber ist schwieriger als hin und wieder die Identitäten zu wechseln. Wenn Señor Coconut eine Identitätskrise hat, kann Atom Heart an der Dekonstruktion von Beats arbeiten, verstehen Sie? Mittlerweile betrachte ich das schlicht und einfach als Arbeitsmethode.

Gegipfelt hat all das vor zwei Jahren in einem tatsächlich in Chile aufgenommenen Album voller Latin-Aufnahmen von Songs der Düsseldorfer Gruppe Kraftwerk.

Kraftwerk sind für mich immer präsent gewesen. Im Unterbewusstsein fast schon, denn ich habe die nie bewusst gehört, ich habe noch nicht einmal eine Platte von denen besessen, als wir angefangen hatten mit der Produktion von »El Baile Aléman«, ehrlich. Am Anfang stand tatsächlich ein Witz.

Eine Zuckerrohrschnapsidee?

Das war sogar noch bevor ich nach Chile gegangen bin. Die Frage lautete: Was kann man eigentlich alles aus Kraftwerk machen? Den ersten Titel habe ich noch hier in Frankfurt angefangen zu produzieren. Aus diesem Witz wurde ein Klang, der Titel begann zu klingen in meinem Kopf. Ich war dann aber zwischenzeitlich bereits nach Chile gezogen und hörte nicht auf damit. Ich begann andere Titel abzuklopfen, ob sie auch so gut klingen würden. Dieses ganze Konstrukt - also der Exil-Deutsche, der in Chile Kraftwerk auf lateinamerikanisch covert - machte ich mir erst sehr viel später bewusst. Der Impuls aber war immer der gleiche: Will ich das überhaupt hören? Klingt das interessant? Alles andere würde nicht weiterführen.

Hatten Sie das Gefühl, dass sich die Kraftwerk-Songs vielleicht besonders für dieses Experiment geeignet haben, weil sie nicht nur monoton und repetetiv waren - also einem lateinamerikanischen Rhythmusverständnis entgegenkommend, sondern auch aus unserer westeuropäischen Sicht fast schon den Status von Volksmusik genießen?

[15] Mir war relativ bald aufgefallen, dass die Rhythmik, die Songstrukturen und Melodiebögen bei etlichen Liedern von Kraftwerk haargenau auf den Cha-Cha-Cha passen. Da musste ich nichts über’s Knie brechen. Ein Song wie „Neon Lights“ ist zum Beispiel ein lupenreiner Cha-Cha-Cha: Die Pausen, die Melodie und alles andere auch passen perfekt. Da war ich schon überrascht, als ich das herausgefunden hatte.

Würden Sie nach dieser Beobachtung sagen, dass möglicherweise Kraftwerk seinerzeit selbst ihre Kompositionen auf lateinamerikanischen Rhythmen aufgebaut haben? Immerhin gehörten Kraftwerk lange Zeit zu den wenigen Deutschen, die ein Gefühl für Groove zu besitzen schienen.

Ich habe darüber keine Informationen, aber ich weiß, dass die eine sehr breite Musikrezeption hatten, auch schon in den Sechzigern. Die haben sehr viel Folklore gehört und sehr viel lateinamerikanische Musik, afrikanische Musik. Ich weiß auch, dass sie sehr viel analysiert haben - welche schwarze Rhythmik funktioniert und welche nicht. Und ich sage mal auch, dass die das sehr, sehr klug und sehr bewusst reduziert haben. Die haben ihre Platten ja nicht aus einer Jam Session heraus entwickelt. Die haben schon ganz genau gewusst, was groovt. Und durch diesen Trick mit der Reduktion ist es letztenendes auch nicht mehr möglich, die Verbindung eindeutig nachzuweisen. Sie haben schlicht und einfach den Pfad gekappt.

Es gibt die Mär, dass Florian Schneider eine unbeschriftete Señor-Coconut-Platte in die Hände bekommen hätte - und tatsächlich geglaubt haben soll, es handelte sich um eine lateinamerikanische Combo, die seine Lieder nachspielte …

Als damals die ersten vier Stücke endlich fertig waren, hatte ich Demos an vier Plattenfirmen verschickt - zwei nach Japan, eins in die Staaten, eins nach Deutschland. Eines der japanischen Labels hatte das interessiert, die hatten das wohl weiterkopiert, weitergegeben - aber dabei ist die Information verlorengegangen. Es handelte sich zum Schluss wohl um falsch beschriftete CD-Rs. Eine CD-R, auf der „Kraftwerk Latino“ geschrieben stand, gelangte irgendwie nach Düsseldorf. Ein Freund von Florian wiederum brachte ihm im gleichen Zeitraum aus München eine Platte von Pop Artificielle mit - dahinter stecke ja ebenfalls ich. Florian sagte zu ihm: „Die kenne ich schon - aber hör‘ dir das mal an: Kraftwerk Latino!“ Keiner wusste, was das war, ob das echt war oder programmiert - es war wohl ein geheimnisvolles Rätsel. Durch einen Zufall, ein gemeinsamer Bekannter aus Chile fuhr nach München, löste sich das Rätsel dann auf. Und daraufhin wusste der Florian dann auch, dass ich hinter dieser obskuren CD steckte - und ist mit mir in Kontakt getreten.

Es heißt, Kraftwerk würden in dieser Hinsicht normalerweise gar keinen Spaß verstehen - und gegen alle Versuche der Interpretation gerichtlich vorgehen.

Ich glaube, die hatten in meinem Falle den Humor gemocht. Von Florian weiß ich es, ich weiß nicht, wie Ralf darauf reagiert hat. Sicherlich hat die eben geschilderte Geschichte eine Rolle gespielt, dass auf der CD-R eben nicht „Uwe Schmidt: Kraftwerk Latino“ draufgestanden hat. Es hat sicherlich dazu beigetragen, dass Kraftwerk die Musik hören konnten und nicht gleich kategorisieren mussten. Da habe ich sicherlich auch Glück gehabt.

Man hat ihnen aber verboten, den Song „Radioaktivität“ zu interpretieren. Warum?

Ich glaube, ihnen war meine Version zu fröhlich. Dem Inhalt auf alle Fälle nicht entsprechend ernst genug.

Darf man über Radioaktivität keine Scherze machen?

Meiner Meinung nach war das eine Fehlinterpretation von denen. Weil man Leichtigkeit und Fröhlichkeit in Deutschland gerne mit Parodie verwechselt. Meine Platte war aber keine Parodie, sondern bloß in einem Musikstil aufgenommen, der auf einen deutschen vielleicht stereotyp „witzig“ wirkt. Man stellt sich dann schnell so einen lustigen Latino vor. Es liegt da aber eine Verwechslung vor. Ich habe das Florian zu erklären versucht, aber er hat es nicht verstehen wollen.

Cha-Cha-Cha-Musik wird unter anderem in den ärmsten Gegenden der Welt gespielt - da hat es fast einen seltsamen Beigeschmack, wenn ein Verbot ausgesprochen wird …

Ja, nähmen wir einmal an, hinter Señor Coconut stünde nicht ich, sondern irgendeine peruanisch-bolivianische Combo. Und die hätten jetzt aus Versehen einen „witzigen“ Rhythmus gewählt, oder der Sänger ist ein positiver Typ. Wäre dann der Rückschluss tatsächlich der, dass die Dritte Welt den Erste-Welt-Inhalt nicht berühren darf? Was passiert mit dem Inhalt? Die Erste Welt verbietet der Dritten Welt die Interpretation. Das ist zumindest der Schluss, den ich daraus gezogen habe.

Etwas ganz anderes: Wenn man wie Sie aus der Ersten Welt in die Dritte Welt geht, dann kann man den Leuten ja so ziemlich alles erzählen.

Es gibt dort viele solche Leute. Sehr viele Leute, die man so trifft, sind selbsterdachte Leute. Engländer, die vor Jahren nach Chile ausgewandert sind, oder Franzosen, die sich in Chile in etwas anderes transformiert haben. Diese Menschen haben ja stets auch die Vergangenheit, die sie in ihrer Heimat zurückgelassen haben - Paris 1965 oder Manchester 1959 -, als Gegenwart gespeichert. Das ginge mir ähnlich. Wenn ich mich nicht hin und wieder in Deutschland aufhalten würde, hätte ich das Deutschland von 1997 im Kopf. Das ist ein typischer Kolonieeffekt - das sind Zeitblasen, die man mit sich herumschleppt.

Haben Sie auch Ihre Identität gewechselt?

Was mir dazu einfällt ist, dass die Probleme hatten, meinen Namen auszusprechen. „Uwe“ - das ist schwer auszusprechen. Also habe ich mich dort bald nur noch als „Atom“ vorgestellt. Atom aus Deutschland. Für die war ich Atom, aber für mich war ich ja nach wie vor Uwe. Aber ich habe denen nicht erzählt, dass ich in Europa Filmstar wäre oder so etwas. Ich habe die Situation nicht dazu genutzt, mir selbst eine neue Identität zu geben.

[16] Und wie reagiert die chilenische Post auf so viele verschiedene Identitäten? Mit Humor oder bürokratisch?

Ich habe einmal ein Einschreiben mit wichtigen Dokumenten aus Deutschland bekommen. Das war an Atom Heart adressiert. Normalerweise kommt der Briefträger und klingelt in einem solchen Fall. Wir haben in Santiago so ein Haus mit einem Garten und einer Gartentür. Weil der Briefträger aber zu faul war, hat er nicht geklingelt, sondern gleich den Zettel über die Gartentür geworfen. Meine Frau hat damals im Zentrum in der Nähe der Hauptpost gearbeitet. Auf dem Zettel stand also „Atom Heart, Einschreiben“, und meine Frau ging zum Hauptpostamt und bekam den Brief nicht ausgehändigt. Sie hat einen riesen Aufstand gemacht, bis hin zum Chef, wie man das halt machen muss, in Lateinamerika - und was Frauen auch viel besser können als Männer. Schließlich sagte der Chef: „Okay, ich schicke morgen einen vorbei.“ Und ich müsste dem Briefträger beweisen, dass Atom Heart identisch ist mit Uwe Schmidt. Gut. Ich lege mir also Zeitungsartikel heraus, meinen Reisepass und überlege mir, wie ich am besten vorgehe, da klingelt es an der Tür. Und noch bevor ich die Tür öffnen kann, ist der Briefträger schon weitergegangen, hat aber das Einschreiben über den Zaun geworfen. (LACH, LACH) Unglaublich, oder? Das System funktioniert. Da wird bestimmt auch viel geschoben, einfach, weil es in Chile rechtsfreie Räume gibt.

Das ist dann für einen Deutschen wahrscheinlich schwerer zu ertragen, oder?

Es ist einfach zunächst einmal gefährlich. Man kann als Unbeteiligter reinrutschen in irgendwelche Deals oder Machenschaften. Weil die Wohnung, in der man sich aufhält, einem Verbrecher gehört. Wenn du dann die Tür aufmachst, bist du es halt, den sie schnappen, und nicht den Verbrecher. Das System ist einfach jünger als das in Europa.

Gibt es in Chile auch Dinge, bei denen Sie nicht den Kopf schütteln?

Man isst besser als in Deutschland. Es gibt schlechtere Luft in Santiago, aber man isst besser. Ich fühle mich entspannter und gesünder. Ich esse weniger als in Deutschland.

Mehr Nährstoffe?

Die Vorstellung, einen Schweinebraten in Chile zu essen, die ist zum Beispiel absurd. Beaudrillard hat einmal gesagt: Die Idee des Weinkelterns ist auf dem Schiff von Frankreich nach Amerika verlorengegangen. Der Wein, der in Nordamerika gekeltert wird, der kann auf den ersten Blick identisch sein mit dem Wein in Frankreich, aber er ist es nicht. Das Konzept des Weins oder des Käses oder des Rollbraten ist verloren gegangen auf dem Weg in eine andere Wirklichkeit. Es gibt so etwas wie ein unsichtbares Netz, welches kulturelle Dinge, Gegenstände, Angewohnheiten zulässt oder nicht zulässt. Das fällt mir in Chile massiv auf: Ich bin nicht der selbe wie in Deutschland. Die Wirklichkeit verbiegt sich. Ich habe in Chile zum Beispiel das Gefühl, als ob alles doppelt so schnell ablaufen würde wie in Europa. Ich komme mit der Zeit nicht hin.

Obwohl sich alle verspäten?

Es gibt eine Zeitverzerrung. Es ist sowieso ein grundlegendes Missverständnis, dass Wahrheiten und Wirklichkeiten sich beliebig austauschen ließen

Auf dem neuen Flughafen in Santiago gibt es zum Beispiel keine Uhren …

Stimmt.

Santiago ist zwar eine hektische Stadt, aber die Leute haben die Ruhe weg.

Deutschland und Mitteleuropa ist ein ganz komprimierter Lebensraum. Manchmal stelle ich mir ja vor, wie das wäre, wenn ich zurück nach Deutschland gehen würde: Ich würde ja dann wieder in einer Wohnung oder einem Appartment leben. Da weiß ich jetzt schon, dass ich die Krise bekommen würde. Wegen der Beengtheit. Ab zehn Uhr keinen Lärm mehr machen dürfen. Natürlich mache ich in Santiago nach zehn Uhr so viel Lärm wie ich will. Und mein Nachbar natürlich auch.

Es gilt das Prinzip: Leben und leben lassen?

Manchmal passiert mir das mit meinem Besuch. Wenn meine Mutter aus Deutschland kommt und zu mir sagt: „Ja, jetzt mach‘ doch mal etwas dagegen, dass dein Nachbar nach zehn noch den Rasen mäht!“ Die hält das nicht aus, dass mit einem Sachen angestellt werden. Sie übersieht dabei aber, dass dieser Lärm auch Distanz bedeutet. Denn würde ich anfangen und die Polizei rufen, dann würde eine Nähe entstehen zwischen meinem Nachbarn und mir, die ich ja gar nicht haben will. Ich toleriere den Lärm sogar, wenn er viel lauter ist als der Lärm, den ich mache. Ich muss es akzeptieren, weil der Gegenentwurf eine reglementierte Gesellschaft ist. Und auf die habe ich keine Lust. In Deutschland ruft man lieber die Polizei, als sich direkt beim Nachbarn zu beschweren. In Chile kann es einem darüberhinaus passieren, dass die Polizei gar nicht käme, wenn man denen erzählen würde, dass der Nachbar den Rasen mäht.

Vielleicht mag Ihr Nachbar ja sogar Ihre Musik. Ihr neues Album heißt „Fiesta Songs“ und besteht aus Latin-Aufnahmen von Gassenhauern wie „Smoke On The Water“ von Deep Purple oder „Riders On The Storm“ von den Doors.

Als wir mit Señor Coconut in Mexiko auf Tour waren, sind wir von Mexico City nach Vera Cruz gefahren, die Hochebene runter, sechs Stunden in einem Van. Und der Fahrer hatte eine Rock-Cassette dabei, auf der auch „Smoke On The Water“ enthalten war. Ich glaube, er wollte uns ärgern mit der Musik. Tatsächlich hat das der Band und mir aber gut gefallen. Das war mal etwas ganz anderes. Und Argenis Brito, unser Sänger, begann mit einem Mal „Smoke On The Water“ auf spanisch zu singen. Und schon bei der ersten Zeile haben wir uns schlapp gelacht, weil es nicht mehr so rockernst daherkam. Auf spanisch verliert das Lied seine ganze Schwere, und es wird auch absurd.

Wie kamen Sie zu der Auswahl der Lieder?

Als ich wieder zurück in Chile war, begann ich mir Gedanken über eine Songauswahl für ein neues Album zu machen. Und wichtig ist dabei ja vor allem eines: Klingt ein Titel innerhalb des Coconut-Gerüstes? Da spielen einige Faktoren eine Rolle: Ob der Titel gefällt, ob der Titel bekannt ist, was für einen Rhythmus der Titel hat - und wie dadurch das Album klingen würde. Ich versuche mir in erster Linie einen Latino vorzustellen, mit einem Umfeld und einer Perspektive. Den Herrn Coconut. Als Referenz gibt es natürlich [17] tonnenweise Latin-Coverversionen von Chart-Hits aus den sechziger und siebziger Jahren. Das fiktive Orchester des Herrn Coconut ist eigentlich eine Institution, und Señor Coconut ist der Dirigent, der dem Orchester sagt, welche Lieder gespielt werden sollen. Ich habe dabei versucht, mich an einer Ästhetik und einer Arbeitsweise aus den sechziger Jahren zu orientieren. Diese Epoche hat sehr obskure musikalische Artefakte hervorgebracht. Es gibt immer wieder seltsame Auswüchse, warum hat ein Perez Prado damals einen Song wie „Black Is Black“ aufgenommen? Warum hat er das getan? Solche Fragen möchte Señor Coconut auch aufwerfen. Nur eben dreißig Jahre später.

Sie erlauben sich ja den Scherz, auf „Fiesta Songs“ auch einen Ihrer eigenen Tracks zu covern - Sie haben Ihr Stück „Electrolatino“ neu aufgenommen. Es gibt da einen Moment, wo Sie das Stück regelrecht zerhacken, preisgeben, dass der Track von Ihnen programmiert wurde - und die Illusion der Live-Band zerstören.

Ich wollte von Anfang an keine rein akustische Illusion aufbauen. Ich wollte schon Stellen haben, an denen klar wird, was da wirklich passiert. Und natürlich lautete die Frage: In welchem Titel? Welche Titel lassen das überhaupt zu? Denn klar war auch, dass ich das nicht in jedem Titel habe machen wollen.

Ist das auch so ein Witz, dass Ihre Live-Band aus sechs Dänen besteht?

Dänen lügen nicht.

Und dass Argenis Brito für „Autobahn“ als Venezuelaner, der ein wenig englisch spricht, extra deutsch lernen musste?

Da musste er durch. Zu „Autobahn“ gibt es keinen englischen Text. Es ist schon ein völlig absurdes Set-Up. Das habe ich aber nicht extra konstruiert. Und den dänischen Bassisten, der der Kern der Combo ist, habe ich absurderweise in Wien getroffen. Der hat in der Volksoper gespielt. Der hat in Kuba Bass und Perkussion studiert. Er war einfach genau im richtigen Moment die richtige Person, die mir helfen konnte, die programmierten Songs live umzusetzen. „Fiesta Songs“ ist zwar auch programmiert, aber anders. Die Musiker haben alles eingespielt, und ich habe die einzelnen Töne neu zusammengesetzt. Ich bin mit ganz groben Grundgerüsten nach Dänemark geflogen. Ich wusste schon grundsätzlich, welcher Titel in welchem Stil gespielt werden wird, welches Tempo gefahren wird, welche Instrumente auftauchen werden. Ich habe dann zusammen mit den sechs Dänen jeden Tag zwanzig Stunden aufgenommen. Schichtweise. Wir haben beispielsweise ein paar Stunden lang nur Perkussion aufgenommen. Auf diese Weise hatte ich nach zwei Wochen eine Festplatte voller Rohmaterial ohne Struktur. Das war mein Klangbaukasten. Und diese Anhäufungen habe ich in Grooves umgearbeitet. Ich habe das Rohmaterial in Scheiben geschnitten, mir auf irgendeiner Latino-Platte einen tollen Groove gesucht und dann meine Scheiben auf diesen Groove gepasst. Jeden Basston und jeden Congaschlag - im Grunde genommen war es wie sehr komplexes, speicherintensives Sampling.

Bezeichnen Sie sich deswegen als Programmierer - und nicht als Musiker?

Mittlerweile, nach all den Jahren, würde ich Musiker sagen.

Warum haben Sie sich früher Programmierer genannt?

Das war ein Bewusstsein über einen Funktionalismus in Deutschland. Sich Klangdesigner zu nennen statt Tontechniker ist das gleiche wie Programmierer statt Musiker oder Designer statt Künstler. Dahinter steckte das Bedürfnis, sich auf eine Funktion reduzieren zu wollen.

Das Romantische wegzukürzen?

Genau.

Und warum bezeichnen Sie sich heute als Musiker?

Die Entfernung zu Deutschland spielt eine Rolle. Mir sind über die räumliche und zeitliche Distanz sehr viele Dinge über Deutschland aufgefallen, auch über mich. Ganz normale Dinge. In Deutschland konnte ich mich nicht Künstler nennen. Als Deutscher wollte ich reduziert sein, Minimalist sein. So kam es ja früher auch zu Techno. Warum aber will man reduziert sein? Weil es dem Fortschritt dient. Wenn man aber den Fortschritt abzieht, wenn man der Ideologie des Fortschritts nicht mehr dienen möchte, was bleibt dann übrig? Dann kann man sich nicht mehr Programmierer nennen, und dann kann man nicht mehr Minimalismus machen. Sondern man beginnt sich mit einem Mal die Frage zu stellen: Wofür mache ich das persönlich? Und da fiel mir auf, dass ich in der Vergangenheit freiwillig ein Teil einer Ideologie gewesen bin, der ich nicht mehr zu folgen bereit bin.