Shantel

von 
Interview
zuerst erschienen im September 2003 auf alertmagazine.de
„Denn es war in meinen Augen mal wieder an der Zeit, etwas Neues zu wagen.“

Stefan Hantel, Sie haben vor zwei Jahren begonnen, zwischen Frankfurt und Tel Aviv zu pendeln. Wie erleben Sie Tel Aviv?

Tel Aviv ist super. Als Stadt. Du weißt, wie es ist, manchmal ist es auch nicht so gut, es ist ja nicht alles gleichförmig, aber ich kann es nach wie vor als Plattform, als ein Standbein von mir ganz gut zusammenbringen.

Früher haben Sie möglicherweise mehrere Plattformen, diese aber nur in Frankfurt gehabt.

Stimmt. Frankfurt ist auch heute noch meine Homebase.

Kaum sind Sie in Tel Aviv, hört sich die Musik, die Sie produzieren, zugänglicher an. Weniger abstrakt, mehr Bass, flottere Arrangements, alles voller Zitate. Kommt das vom Strand?

Ich hab das irgendwie so empfunden, dass ich als ich in Frankfurt gearbeitet hatte, dass ich die Dinge, die ich in Frankfurt nicht hatte, die habe ich mir erfunden. So hatte ich beispielsweise irgendwann begonnen, Frankfurt, wann immer ich es niederschrieb, auf Plattenhüllen etwa, als Frankfurt am Meer zu bezeichnen. In der Musik war es genauso: Ich habe versucht, eine Wärme und Sinnlichkeit in meine Musik zu bekommen, die ich mir vorher erst vorstellen musste. Interessanterweise habe ich in Tel Aviv festgestellt, wenn man sich einmal die Frage stellt, inwiefern ein Ortswechsel einen auch beeinflussen kann, dass ich dort mich viel stärker mit Sachen beschäftigt habe, die melancholischer waren als das, was ich vorher gemacht habe. Das umgekehrte Prinzip praktisch. Tel Aviv hat mich in eine andere Position gebracht. In Frankfurt suchte und erfand ich den Sommer, in Tel Aviv suchte ich die tiefe und erlösende Form der Melancholie. Und ich fand sie auch.

Ist es nicht so, dass wenn man an einen anderen Ort, ein anderes Klima reist, so weit weg reist, dass man dann auch mitbekommt, dass es andere Orte gibt, an denen komplett andere Dinge wichtig sind, dass diese Orte einen also sozusagen infragestellen lassen, was man zuhause für wichtig und richtig hielt?

Interessanterweise habe ich festgestellt, dass sich mein Leben nicht allzusehr von dem unterschied, das ich in Frankfurt geführt hatte. Zumindest, was den Alltag betraf. Ich achte da auch sehr bewusst darauf. Ich will ja keine Urlaubssituation, die ich suche und vorfinde. Ich kann sagen: Wenn ich von Frankfurt nach Berlin fahren will, dann nehme ich den Zug, und die Fahrt dauert dreieinhalb Stunden. Will ich nach Israel fliegen, nehme ich das Flugzeug, und die Fahrt dauert auch dreieinhalb Stunden. Es ist der selbe Weg und der selbe Gang und beides gehört zu meinen Lebenssituationen. Aber Du merkst schon, dass etwas mit Dir passiert. Du kommst viel stärker zu Dir selber, als dass du dich verlierst in diesem ganzen exotischen Environment.

Weil Sie in Tel Aviv nicht alleine sind, und weil Sie tendenziell auf eine Arbeitssituation stoßen?

Ganz genau. Ich bin dann sozusagen in einem Sozitop, in welchem ich mich definieren und einreihen muss, schließlich habe ich ja auch bestimmte Bedürfnisse und Ideen, die ich realisieren möchte. Da muss ich mich finden, erklären und positionieren. Wenn ich dort hingegen Tourist wäre, so würde ich das ganz anders angehen. Dadurch, dass ich da unten etwas zu tun hatte, bin ich sehr schnell in eine Situation geraten, die mich zu meiner Mitte geführt hat, um es einmal spirituell zu formulieren. Und da habe ich festgestellt, dass es eine melancholische Seite in mir gibt, die ich in Frankfurt eigentlich nie bemerkt hatte. Die Erlösung, die eine Melancholie auch mit sich bringen kann. Wobei ich das jetzt auch so in meine Sprache fassen muss, damit das nicht zu traurig klingt. Bei mir ist es eher im Vergleich zu sehen, zu dem, was ich vorher gemacht habe.

In Frankfurt wurden Sie bald zu mehr als bloß einem weiteren DJ unter vielen, weil Sie im Bahnhofsviertel Ihren eigenen Club, eine Art Wohnzimmer im fünften Stock eines Bürohauses, das Lissania, eröffnet hatten.

Das Lissania gibt es ja schon lange nicht mehr, aber es ist wohl richtig, dass man als Begründer eines Clubs, vor allem als Mitbegründer eines neuen Clubbegriffs, anders wahrgenommen wird, als wenn man bloß als DJ durch die Clubs zieht, von einem Engagement zum nächsten. Ich habe aber jetzt im vergangenen Oktober mit einem Partner einen neuen Laden aufgemacht. Das ist eher so ein institutioneller Ort, eine Bar quasi, in der wir Freitags und Samstags auch Club machen, und es ist letztlich eine ähnliche Spielwiese wie das Lissania, nur dass es anderen Kriterien unterliegt, weil dieser ganze Gastronomieaspekt dranhängt. Lissania hatte mich seinerzeit vereinnahmt, auch wenn es identitätsstiftend war und für viele Leute in Frankfurt ein Ort war, der ihnen viel bedeutet hatte. Und heute kann ich einfach nicht mehr diese Energie aufbringen. Es geht nicht mehr, ich habe auch anderes zu tun.

Sie sagen identitätsstiftend: Wie wichtig ist es, solche Orte zu schaffen, wenn es die nicht gibt?

Sagen wir mal so: Für mich war es immer enorm wichtig weltweit arbeiten zu können. Ich wollte immer raus. Ich wollte immer über meinen Tellerrand hinausspringen, und für mich war Frankfurt immer nur ein Sprungbrett. Mehr Bindung habe ich da lange Zeit nicht gehabt. Als ich mit dem Lissania anfing, hatte ich mit diesem Schritt für mich die Situation geschaffen, einen Ort für mich zu definieren, wo ich über den Zusammenhang Party Leute zusammenbringe, die ein gemeinsames Lebensgefühl teilen. Insofern war es auch so, dass diese verschiedenen Ausrichtungen, also Kunst/Visuell, Musik, dass sich da ein Pool von Leuten gefunden hatte, der diesen speziellen Mood des Lissania einfach wirklich zu schätzen und zu würdigen wusste. Das ging ja soweit, dass alle essentiellen Partnerschaften oder Kontakte aus dem Lissania, die auch heute noch für mich eine Bedeutung haben für die Umsetzung meiner Ideen, auch heute noch existieren, wenngleich auf einem höheren Level. Der Level früher: Das war eine lokale Angelegenheit, wo man sich für sich selbst definiert hat und dann die Dinge nach draußen gebracht hat. Man hat auch experimentiert, wie Clubmusik klingen könnte. Mittlerweile aber ist es so, dass in Frankfurt für mich eine Struktur gibt, eine Struktur von Menschen, mit denen ich sehr verbunden bin, und mit denen zusammen ich auch arbeite, mit denen ich in permanenter Kommunikation bin, und wir ständig Dinge herstellen und produzieren. Beispiel: Der Markus Weißbeck, mein Grafiker, ist in Kambodia, und ich arbeite mit seiner Assistentin am neuen Cover. Der guckt sich dann in Kambodia auf irgendeinem Webserver unsere Ideen an und gibt grünes Licht oder auch nicht. Auf alle Fälle sind diese Bindungen so fest, dass selbst die halbe Welt zwischen uns liegen kann, und wir arbeiten trotzdem zusammen. Ich sagte es ja bereits: Ein Ort kann identitätsstiftend sein…

Weil man eine gemeinsame Geschichte hat und eine gemeinsame Sprache spricht.

Und mittlerweile kann ich das sogar in verschiedene Kanäle geben: Ich kann sagen, ich bin jetzt in Frankfurt und machen diesen neuen Laden auf - dann müssen wir bloß darauf achten, dass er praktisch die Verlängerung des eigenen Wohnzimmers bedeutet. Anders gesagt: Ein solcher Club macht doch nur dann einen Sinn, wenn man nicht nur Pappnasen begegnet, sondern, wenn dieser Club auch ein Ort ist, an dem etwas entstehen kann. Ich sehe in diesem Sinne einen Club weniger als eine gastronomische Einheit, als vielmehr als öffentlichen Raum, an dem etwas passieren kann. Auch die Verbindung nach Tel Aviv konnte sich nur deswegen so entwickeln, weil es ein sehr starken Austausch gibt zwischen Frankfurt und Tel Aviv. Diese beiden Städte haben einige interessante Gemeinsamkeiten.

Reden Sie von der jüdischen Gemeinde Frankfurts?

Zum Beispiel, das ist auch ein Aspekt, ich glaube sogar, dass diese beiden Städte eine Partnerschaft haben. Auch von der Einwohnerzahl her sind sie ähnlich klein.

Beide Städte haben ja auch ein wenig von heimlicher Hauptstadt…

Genau, genau, genau (lacht). Ich habe mich dann sehr schnell in Tel Aviv in ähnlichen Situationen wiedergefunden wie zuvor in Frankfurt. Nur dass ich in Tel Aviv jetzt nicht so das zwingende Bedürfnis hatte unbedingt agieren zu müssen. Sondern ich habe mich beschränkt aufs Musikmachen. Das wiederum hängt damit zusammen, dass es manchmal sinnvoll ist, Energie zu bündeln und zu kanalisieren. Für mich ist dieses Bedürfnis in jeder Stadt seine Marke zu hinterlassen eher sekundär.

Wenn Sie festgestellt haben, dass Sie in Tel Aviv das Bedürfnis gehabt hatten, einer Melancholie Ausdruck zu verleihen, dann kann ich mir vorstellen, das liegt an der Sonne und der Erinnerung an Deutschland mit seiner Vergeistigung von allem, als klassisches Land der Melancholie. Spielt da aber nicht auch eine Rolle, dass Sie sich just zu dem Zeitpunkt in Israel aufgehalten haben, als die zweite Intifada ausbrach? Sind Sie da traurig, resigniert oder gar ratlos?

Also, es war für mich oft so gewesen, als die zweite Intifada losging, wo ich es im wahrsten Sinne des Wortes als shocking empfand. Das ging aber allen so, nicht nur mir. Die Situation in Israel ist auch auf der einen Seite Alltag, und der ähnelt, abgesehen von Klima, Sprache und Exotik, letztlich dem Alltag in Frankfurt. Jeder arbeitet, jeder macht seine Jobs, eigentlich bekommt man nichts mit von den Konflikten. Tel Aviv ist eigentlich so eine Insel in Israel. Auf der anderen Seite spürst Du diesen Tanz auf dem Vulkan. Du spürst diese Stimmung, diese unsichere Stimmung bei den Leuten, diese Ungewissheit, dass morgen ein Krieg ausbrechen kann. Das macht mit Dir schon unterschwellig was. Das sensibilisiert Deine Sinne enorm. Du denkst nicht ständig daran, und Du merkst auch sehr schnell, dass das, was Dir über die Medien vermittelt wird, nicht mit dem übereinstimmt, wie es tatsächlich dort ist. Als ich im Oktober in Israel war und alles so losging, und sich die Ereignisse überschlagen haben, da war ich schon an einem Punkt gewesen, dass ich feststellte, wie vereinnahmend das ganze auch sein kann. Mir fiel es schwer einfach weiterzuarbeiten. Du weißt nicht, was abgehen wird.

Was für einen Rückschluss bedeutet das für Ihre Arbeit? Politisch ist »Great Delay«, Ihr neues Album, nicht gerade. Versuchen Sie Politik bewusst aus der künstlerischen Arbeit auszuschließen?

Total. Ich habe immer versucht, meine Arbeit als Musiker und meine politische Haltung voneinander zu trennen. Hey, ich hätte mein Album auch in New York aufgenommen haben können, und dann hätte keiner großartig gefragt.

Aber zu sagen: Das kam mir vor wie der Tanz auf dem Vulkan, keiner weiß, ob morgen der Krieg beginnt - ist ein daraus resultierendes Bewusstsein, nämlich zu sagen: Dann feiern wir noch einmal richtig dekadent, bevor wir zur Front gehen, dann ist doch eine solche Haltung auch politisch.

In Tel Aviv ist es extrem. Tel Aviv ist die Nightlife-Stadt schlechthin. Es gibt hier ein extremes Bedürfnis nach Exzess, mit allem, was dazugehört. Im Angesicht eines möglichen Krieges, potenziert sich das natürlich, und jeder der in einer solchen Situation in einer solchen Stadt arbeitet, spürt das, von mir aus kann man das sogar hören, aber definitiv nicht, weil das bewusst in die Arbeit eingeflochten wurde.

Haben Sie in Tel Aviv aufgelegt, als die zweite Intifada begann?

Ja, habe ich. Sehr viel sogar. Ich bin durch fast alle Clubs gereicht worden, habe Parties organisiert… Ich habe das aber immer aus einer Zwischenposition, sozusagen zwischen den Stühlen, heraus angegangen. Ich halte nicht viel von Local Aktionism und wollte da auch nicht zur Koryphäe werden. Ich war in Tel Aviv in erster Linie, weil ich dort im Studio gearbeitet habe. Ich habe für mich selbst eine Grenze gezogen, die ich strikt eingehalten habe. Der Gedanke, dass ich mich in Tel Aviv beispielsweise niederlassen könnte, der kam mir gar nicht in den Sinn. Das war völlig außerhalb meiner Vorstellungen. Es war immer so, dass ich sagen konnte: Morgen könnte ich das Land verlassen, aber schön, dass es etwas zu tun gibt.

Wie würden Sie dieses Von-Club-Zu-Club-Ziehen vergleichen wollen mit dem Lissania, einem Club, wo Sie sich Ihr Publikum gewissermaßen erziehen konnten?

Das Lissania war der Ort, an dem ich selbstsicher geworden bin. Selbstsicher in dem Sinne: Dass ich nach draußen gehen kann und weltweit das tun kann, was ich im Lissania ausprobiert hatte.

Im Sinne: Mit diesem Koffer voller Schallplatten kann nichts schiefgehen?

Es geht eher darum, dass man eines Tages begreift, wie man mit Emotionen spielen kann, wie man selbst agieren kann und nicht Spielball Deiner Umgebung bist. Es geht auch darum, wie man sich oder die Musik inszeniert. Diese Dinge habe ich im Lissania gelernt, und ich habe die Herausforderungen gesucht. Nicht shocking, sondern eher subtil, eher gentle, auf charmante Art. In Paris habe ich jetzt kürzlich im Les Baines Douches gespielt, das war eine völlig verstrahlte Party mit lauter Models und Prominenten. Ich kam mir vor, wie in einem Film über Paris in den Achtziger Jahren - mit Lenny Kravitz und Vanessa Paradis, die vor dir tanzen. Ich habe dann angefangen, Sachen zu machen, die der ganzen Show eine andere Wendung geben würden, im postiven Sinne. So eine Entscheidung, dieser Mischpoke, die da vor dir tanzt in ihren Gucci-Kleidern und Versace-Kostümen etwas anderes vorzuspielen, als man es intuitiv tun würde, weil man ja weiß, wie man auflegen muss, damit dann alles glatt geht - eben diese Option auf einen glattgehenden Abend nicht zu ziehen und auf Risiko zu gehen, das hätte ich wohl ohne das Selbstbewusstsein, das ich aus dem Lissania gezogen hatte, nicht fertiggebracht.

Was haben Sie den Leuten denn vor den Kopp gehauen?

Der Abend hatte eigentlich ganz normal angefangen: Ich spiele und baue auf meine Art eine Dramaturgie mit meiner Musik auf. Es dauert nicht lange, und ich bin nicht alleine an meinem DJ-Pult. Fünf Ladies standen dann mit einem Mal um mich herum und haben getanzt und agiert, früher hätte man wohl gevoguet gesagt. Das war toll, die hatten fast nichts an und waren supersexy. Die eine von denen war so gut drauf, die verlor das Gleichgewicht und fiel auf einen der Schallplattenspieler. Bei der Aktion ist leider die Nadel kaputtgegangen. Das war für alle eine Irritation. Man hat gemerkt, das war ein Unfall, keine Absicht. Ich musste also improvisieren, weil das quasi abrupt passiert war und es nicht mehr gegangen wäre, einfach weiter aufzulegen. Ich hatte einen portablen CD-Player dabei und eine Selection von Platten, das mache ich eigentlich immer, wenn ich auf Reisen bin. Eine dieser CDs war Musik einer rumänischen Hochzeitsband. Ich liebe diese Musik, es gab diesen Break, ich musste auf CDs zurückgreifen - also spielte ich in einer Situation wo niemand wusste, wie es jetzt weitergehen würde, diese Hochzeitstanzmusik von Fanfare Ciocarlia. Was dann passierte, war der völlige Irrsinn. Das waren ja schließlich alles sehr gestylte Leute, die sehr viel Wert darauf legen, dass sie ihrerseits keinen Irritationen ausgesetzt werden, in deren Leben das meiste geregelt ist. Dass aus der Improvisation heraus etwas anderes passierte, als diese Menschen normalerweise erleben, dass diese Inszenierung einfach unheimlich eingeengt ist, normalerweise. Ich nenne das programmierte Abfahrt. Diese Leute wären gerne wild, aber nur, wenn ihnen nichts passiert, und dazu gehört eine bestimmte Art von Musik und eine bestimmte Art von Umfeld. Und diese Musik und dieses Umfeld waren mit einem Mal durcheinandergeraten. Es herrschte die völlige Verwirrung, aber es ging ab wie Hölle. Das war so lustig, weil die ganzen Resident DJs, die sich zwischenzeitlich zu mir und den fünf hübschen Damen gesellt hatten, Schaum vorm Mund bekamen und versuchten mich abzuhalten, diese Musik zu spielen. Die haben immer gesagt: Das geht nicht! Nun, das sind einfach die Situationen, die mir eigentlich am liebsten sind. Die kann man auch nicht im Vorfeld inszenieren. Aber damit umzugehen, das ist eine klare Lissania-Prägung. Ich sage nur: Stromausfall! Mitten in der Hitze des Geschehens, zur Prime Time. Da war nichts mehr, kein Licht, keine Musik. Da musst Du dann improvisieren und den Entertainer in Dir entdecken. Ich hatte dann geklatscht und wenig später dazu gesungen, und die Leute, immerhin alles coole Typen, die wenn sie soetwas lesen würden wahrscheinlich denken würden: Das würde mir nicht passieren, ich lasse mich doch nicht animieren, aber es war so. Solche Erlebnisse prägen.

Zur Musik noch einmal: Sie haben auf »Greatdelay« zitiert, man hört Talk Talk, und man meint, die Stereo MCs zu hören.

Ja, ich habe zitiert, aber vielleicht nicht so vorsätzlich, wie du denkst. Es sind halt so ein paar Parameter, die mich begeistert haben, Talk Talk und so. Stilprägend waren sie deswegen aber nicht unbedingt. Ich glaube eher, dass ich auf der Suche war nach einem Sound, bei dem akustische Instrumente im Raum stehen, die diesen Geruch der Akustik vermitteln. Talk Talk haben das auf die Spitze getrieben. Das fängt ja damit an, dass Du die Platte erst einmal sechs Minuten lang rauscht, bevor sie beginnt. Von meiner Philosophie her kann ich das aber alles unter einen Hut bringen. Ich habe da jetzt kein konzeptionelles Raster, wo ich sagen müsste: Das passt jetzt aber nicht.

Und der Titel des Albums, »Greatdelay«?

Mir gefällt dieses Spiel mit der Zeit, den Dingen einfach Zeit zu geben. Manchmal muss man warten, bis etwas zur Geltung kommen kann, das hat etwas mit Geduld zu tun. Ich muss nichts übers Knie brechen. Weil ich nur an Qualität glaube und nur an Kontinuität. Auf der anderen Seite war das Delay für mich ein sehr wichtiges Tool, als ich damals anfing zu produzieren, damals war ich sehr Dub-Beeinflusst. Ich habe das Delay als Effekt benutzt, um Räume zu füllen, in denen dramaturgisch von mir aus nichts passierte, nichts war. Die Gefahr dabei ist natürlich, dass so etwas schnell zum reinen Sounddesign, zum reinen Effekt mutieren kann. Der Unterschied zu früher ist, dass ich auf dem neuen Album das Delay als Instrument benutzt habe und nicht als Effekt. Ich habe meine Arrangements eigentlich am Pult gemacht, und nicht am Computer. Anders gesagt: Ich habe bestimmte Spuren von vornherein, wissentlich, willentlich mit Hall belegt. Eine HiHat zum Beispiel hat dadurch geschwingt, äh, geswingt, weil das Delay drauf war. Von Anfang an. Und ich habe nurmehr das Timing geändert, so dass dieses Delay mit einem Mal out of rhythm ist. Dann bekommt dieser Sound eine Reibung, der Groove wird ein bisschen unrund, aber für mich heißt es, erst dadurch beginnt er zu funktionieren! Ein Groove ist ja nicht quadratisch. Ich habe das Echo also nicht mehr als Echo benutzt, damit man es als Echo zu hören bekommt, sondern ich habe es benutzt, um etwas zum Schwingen zu bekommen. Das ist schon fast virtuos, eine solche Art zu arbeiten, auf alle Fälle ist es kein hilfloses Sounddesign mehr, um Leerstellen zu überbrücken. Wenn Du es rausnimmst, fehlt etwas. Das ist übrigens auch meine Definition, ab wann etwas zum Instrument wird: Fehlt etwas, wenn man es wegnimmt?

Wir reden aber auch über Fokussierung: Der Dub-Effekt ist meinetwegen der große Maßstab, und das Interesse am Detail des HiHat-Sounds ist der Nanomaßstab.

Völlig richtig, das ist einfach die Sache, das Maximale heraustzuholen, mit immer wenigen Mitteln und immer so subtil wie möglich. Großes Kino mit kleiner Kamera.