Spaß und Ärger in Kathmandu (I)

Reportage
zuerst erschienen 2005 in der taz

Letzter Halt auf dem Hippie-Trail: Arkadische Strip-Bars und Casino Royale. Lebende Göttinnen und entspannter Fußball im Schatten der Revolution. Ein streitendes Paar und ein herrliches Geschöpf. Klebstoff schnüffelnde Kinder und Münchner Mädchen mit gestrickten Mützen. Ein paar Tage in Nepal

An schönen Tagen ist der Leben genannte Zustand ein Ausflug. Zauber und Glück sind einfach zu finden in Kathmandu. Die zwei da auf der Bühne zum Beispiel. Ungefähr hundert Augen schauen ihren Tanz. An kleinen Tischen sitzen Männer, die meisten jünger, und auch ein paar Frauen. Beer Bud heißt der Laden, ein Strip-Club im Stadtteil Thamel. Tatsächlich ist es ein ganz arkadischer Ort. Die beiden, Junge und Mädchen, vielleicht so knapp achtzehn, tänzeln mit großen Schritten umeinander. Sie hat ein braunes Kleid mit etwas Strass-Geglitzer um den schmalen Körper, viel Rouge an den Backen. Er eine Jeansjacke mit einem Kragen aus Cord, die schwarzen Locken hängen ihm über die Augen. Ihre Blicke sind ineinander. Vom Band spielt Fleetwood Mac Hold Me. Es ist sehr rührend romantisch.

Meine Begleiter haben andere Probleme. Catherine und Antoine zanken sich leise, in Gesten und einigen spitzen französischen Worten. Nicht ganz klar, worum es da geht, hoffentlich nicht um mich. Das Paar aus Paris ist seit einem halben Jahr auf dem indischen Subkontinent unterwegs. Er, Politikstudent und Kommunist, mit diesem Flackern in den Augen, spricht gern von der Revolution. Sie, Lehramtsstudentin, mit immer geröteten Backen, raucht gern Dope. „Rumfliegen“, sagt sie, auch mit „Air Chandu“, Straßenslang für Opium.

Kabul-Kathmandu-Bangkok, in den Siebzigern war das ein Dreiklang, der Hippie-Trail. Durch einen Zufall bin, war ich dieses Jahr in allen drei Städten. Glaubt man Orte mit Farben beschreiben zu können, ist Kabul hell-gelb-staubig, Bangkok kobalt-blau-feucht und Kathmandu sepia-braun-herzlich. Alle funkeln fröhlich frei, verstärkt im Hellen, und tragen ihre Geschichte.

Der Catherine-Antoine-Konflikt spitzt sich zu, in aller Freundlichkeit. Er, betrunken, müde, trotzig, geht schlafen ins Kathmandu Guest House. Geh halt. Sie und ich stehen dann auf der Straße und Catherines Gesicht entgleitet. „Da, da.“ Was? Ihr Finger zeigt auf „was für ein herrliches Geschöpf!“. Süssen Slang hat sie. Zwischen Haussockel und Straßenasphalt wächst ein Marihuana-Pflänzlein. Catherine schenkt ihr etwas Wasser aus der Aqua Smile-Flasche, religiöse Geste. Der Abend ist also noch nicht zu Ende. Wir fahren mit einem Fahrradtaxi. Der Fahrer, noch im Flaum-Alter, tritt die Pedale, Schwung um die Schlaglöcher und Kühe, die Diven der Straße. Catherine summt eine Melodie, die ich nicht kenne, und ich denke, wie hübsch und sensationell schön alles ist.

Im Yak-und-Yeti-Hotel gibt es ein Casino. Auf der Bühne steht eine folkloristische Kapelle. Indische Großfamilien lagern auf den Sitzgruppen, die Jüngeren tanzen. An den Roulettetischen drängen sich unrasierte Männer. Der Laden funktioniert als Geldwaschanlage. Catherines Glückszahl ist die 23 und sie trinkt unvernünftig schnell vom einheimischen Whiskey. Spielen mit Dollar-Chips. Rot-Schwarz und ein paar Zahlenkombinationen. Rauche schon wieder Kette. Keine 23 und das Mädchen mit dem Honig-Dialekt ist eine schlechte Verliererin.

Black Jack läuft besser. Der Trick ist, immer mehrere Slots spielen. So häufen sich bald die weißen Jetons, jeder einen Dollar wert. Am Ende sind es fast hundertfünfzig aus fünfzig. Nicht schlecht. Fühlt sich an wie in einem Milchbad, weiche Hände an den Schultern. Wenigstens im Spiel nicht suchtanfällig zu sein, Jugendaberglaube.

Stehe dann irgendwann auf dem Balkon am Durbar Square, alleine. Catherine schläft bei Antoine und das ist gut, oder besser, oder doch beschissen. Auf dem Platz heulen die Hunde, ganz herzzerreißend. Schlimmer als kleine Kinder. Außer dem Wachsoldat, drüben vor dem alten Königspalast, ist keine Seele zu sehen. In Nepal gilt noch Tag und Nacht. Fleetwood Mac spielt Gypsy. Der Himmel ist schwarzblau, ein paar Sterne leuchten. Dann jault nur noch einer, Straßenköter, und der ist einsam wie ein Wolf. Linker Nike-Terminator tritt eine Dose Diet Coke von der Brüstung, schöne Flugbahn. Am nächsten Morgen hat Barun, der Besitzer des Sugat Hotels, der einen Pullover mit Bad Boy-Aufdruck trägt, aber ein fast unglaublich lieber Mensch ist, eine Erklärung, warum die Hunde so traurig sind. Früher seien sie einfach umgebracht worden, wie Tauben anderswo. Inzwischen habe man angefangen, ihnen Spritzen zu geben. „Family planning“.

Es ist ein strahlend schöner Morgen. Von der Dachterrasse geht der Blick weit über Kathmandu, eingebettet in ein Hochtal auf 1.300 Meter. Klare Sicht, Schneespitzen in der Ferne. Auf einem Stuhl stehend ist auch der Mount Everest zu sehen. Noch anziehender ein Blick aufs Nachbardach: Hübsches Mädchen in rotem Gewand färbt hübschem Mädchen in gelbem Gewand die Haare. Auf dem Kamin steht ein Junge, lockt pfeifend Schwalben an. Von irgendwoher spielt Fleetwood Mac Rhiannon.

Gehe dann wie jeden Mittag Kumari besuchen, die kleine Göttin. Nepal ist voll Tempel und voll Götter. Offiziell ist Hinduismus die Staatsreligion, Buddhismus ist ebenfalls weit verbreitet, friedlich nebeneinander. Brahma, der Schöpfer, Vishnu, der Bewahrer, Shiva, der Zerstörer und Gott der Ekstase, sind allgegenwärtig. An jeder Ecke gibt es tolle fluoreszierende Aufkleber mit ihren Bildern.

Kumari aber lebt. Sie war ein normales kleines Mädchen, im Alter von vier aus der Newar-Kaste ausgewählt, dem von da an jeder Wunsch von den Augen abgelesen wird. Ihr Zuhause ist ein eigener Palast, der Kumari Bahal. Nur einmal im Jahr, im September während des Indra-Jatra-Fests, zum Ende des Monsuns, verlässt sie diesen und wird in einem goldenen Wagen auf Kufen durch die Stadt gefahren. Leben als Märchen.

Mit einem traurigen Kapitel. Im Palast-Innenhof stehen Touristen. Gerade eine Reisegruppe, eindeutiges Idiom. „Wo isch die denn?“ Gegen ein kleines Bestechungsgeld ruft ein Priester sie ans Fenster. Da taucht sie dann auf, jetzt, die Göttin am Fenster. Cooler Ausdruck, die Backen nach innen gezogen, Augen dick mit Kajal geschminkt. Gelangweilt gleitet ihre Zunge aus dem Mund, lässt einen Tropfen Spucke fallen, verharrt und ist gleich wieder verschwunden. Mit dem Eintreten ihrer ersten Periode wird die Göttin wieder ein Mensch, ein Mädchen. Sie muss ausziehen und eine neue Gšttin wird gewählt. Ihr bleibt eine Rente und die Schwierigkeit, einen Ehemann zu finden. Nepali-Männer glauben, Exgöttinnen bringen Unglück.

Andere haben andere Probleme. Auf dem Durbar Square drängen sich kleine Mädchen und Jungen um die Touristen. Sie schauen mit großen Augen, tragen einen Plastiksack über der Schulter. Es sind Kinder, die auf der Müllkippe leben. Rotzglocke unter der Nase, kaputte Zähne vom Klebstoffschnüffeln. Nepal ist eines der zehn ärmsten Länder der Welt. Mehr als die Hälfte der 24 Millionen Einwohner sind Analphabeten, das durchschnittliche Jahreseinkommen: 220 Dollar, brutto. Was Hilfe ist? Ein paar Rupien? Vielleicht rettet es einen Tag, wahrscheinlich investieren sie es doch nur in neuen Stoff.

Durch die Freak Street, weg vom Durbar Square: Was, um es im Vergleich zur Khao Sang Road in Bangkok zu beschreiben, kein Einstürmen, sondern Flanieren ist. Keine Underage-Girls, keine Tattoostudios, keine Louis-Vuitton-Fakes. Dafür Jungs in unten abgeschnittenen 501s und cremefarbenen Chucks, die unaufgeregt Haschisch, Chandu und Angel Dust dealen. Münchner Mädchen probieren selbst gestrickte Mützen auf. In der Music Gallery hängt an der Wand ein Plakat: Missing Sabine Grüneklee. Eine Frau aus Bayern, 31, braune Locken, hellbraune Jacke, lächelt.

Lauf dann weiter durch die Straßen. Die sind enges Chaos. Der Tanz ist: Schulkinder in blauen Uniformen, Händchenhalte-Jungs, Rikschas, Lastenträger, Familien auf Motorrädern, Taxen aus indischer Produktion, kleiner als ein Smart. An der Seite Puppenstuben-Läden, Krämer, frisches Fleisch, Elektroschrott, Nähereien. Die Luft riecht und schmeckt. Kathmandu ist eine schmutzige Stadt, die Ankunft des ersten Katalysators ist wohl so weit entfernt wie die des ersten 911ers. Dann habe ich mich schon verlaufen.

Aus dem Dunst donnert Begeisterung. Hinter der Kurve ragt hoch die rote Tribüne eines Stadiums. Die U-17-Mannschaften Nepal gegen Usbekistan spielen Fußball. Sitze in der Südkurve, unten rennen sie schon. Übrigens das erste Spiel, das ich in einem Stadium sehe, und gleich passiert was: Usbeki-Boy schlägt beim Einwurf einen Salto. Wenig später, Nepali-Boy ist wütend, sehr, holt aus und schlägt seinen Manndecker, Usbeki-Boy. Der geht zu Boden. Ein Dutzend müssen die Gemüter beruhigen. Die Fans aber singen nur im Sitzen. Warum Stadionfußball hier so entspannt ist, erzählt das Aroma der Luft. Die Jungs auf den Rängen trinken kein Warsteiner, sie teilen dicke Joints. Der Usbeki-Boy lässt sich vom Platz tragen. Am Schluss gewinnt Nepal 2:0. „Heimspielglück“, meint Barun später im Sugat. Er weiß, dass Nepal eine Neigung zu 1:13 Niederlagen hat.

Am Abend dann in der Buddha-Bar, eine Stimme ruft meinen Namen. Es ist Catherine, neben der Antoine sitzt. Och nee, ist die erste Idee, aber Thamel ist klein, und so wird’s dann auch. Trinke Wodka, Catherine hat ihre Finger zu oft an meiner Jacke, die ich lieber nicht ausziehen möchte, und ist total zugekifft. Antoine schnüffelt an seinem Everest-Bier und schwadroniert von der Freiheit durch Gleichheit und den Segen der befreiten Arbeiter. Aus der Anlage spielt Fleetwood Mac Dreams. Durchs Fenster blinkt die Leuchtreklame und wir sitzen in Kathmandu und der Notstand ist ausgerufen und durch die Straßen zieht die Miliz und zeigt ihre Waffen. Außer der Hauptstadt ist inzwischen das ganze Land unter Kontrolle der Maoisten, die mehr als 10.000 Menschen getötet haben, im Namen des Klassenkampfs. Und ich denke, Revolution ist das missbrauchteste Wort der Welt, noch knapp vor Rock ‚n‘ Roll und Liebe.

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