Spanische Schwaben in Hipstersandalen

Briefwechsel
zuerst erschienen im September 2012 in De:Bug Nr. 165
Berlins Geschichte ist die eines Flüchtlingslagers. Von der Weltstadt zur Frontstadt: Wenn junge Hüpfer aus aller Welt plötzlich in die Stadt kommen und das weiterleben, was man selbst erfunden hat, geht es ans Eingemachte. Hiesige Kiezverwalter sind not amused über die neuen Einwanderer, egal ob sie aus Brooklyn oder Schwaben kommen. Der eintägige Briefwechsel zwischen Jan Joswig und Timo Feldhaus sucht nach Lösungen

14. August 2012 8:28:12 MESZ

Durch Berlin zieht eine neue Fremdenfeindlichkeit. Junge deutsche Studenten beschweren sich, dass man in Neukölln seinen Kaffee nur noch auf Englisch bestellen kann. Kreuzberg-Ökos rufen Fuck-the-Spain-away von Balkonen herab. Feindbilder wie Spießer-Schwaben, katalanische Rave-Touristen oder Scheiß-Hipster aus Brooklyn werden von Stadtmagazinen wie Zitty propagiert und weitergetrieben. Das Gentrifizierungsargument, an dem das zum Teil aufgezogen wird, ist ausgemachter Unsinn, nicht Touristen oder Zugezogene vernichten den Mietpreis, dafür ist die verheerende Stadtpolitik verantwortlich, indem sie etwa den sozialen Wohnungsbau abschafft und städtisches Wohneigentum privatisiert. Berlin ist ein guter, kaputter Ort, an dem es so etwas wunderbares wie eine Künstlersozialkasse gibt und in der traditionell einfach nichts klappt. Kein Flugplatz, kein Hauptbahnhof mit Haltestelle, kein Fußballverein. Der Kolumnist Harald Martenstein hat letztens gesehen, wie der Berliner Zoodirektor einen seiner Affen streicheln wollte, der Affe hat ihm den Finger abgebissen. Gerade deshalb macht das alles so einen Spaß hier, klare Sache. Mich wundert also, warum hier, wie man hört, seit Neustem sogar Touristen tätlich angegriffen werden. Warum sich ärgern über die Fremden, die ja aus verdammt guten Gründen herkommen? Die sind doch okay, die machen doch vieles vor alem besser. Steile These: Dem jungen Deutschberliner geht es wie der hiesigen Nationalmannschaft – der zugezogene Student greift nicht mehr in die Stadt ein, traut sich nichts, denn die Vorauswahl durch westdeutsche Schulsysteme führt zu zu glatten Charakteren, keine Wirrköpfe mehr, keine Sonderlinge, null Produktionsinteresse, keine Zeit. Er hat Angst. Da freue ich mich über die amerikanisch zugezogene Unverdrossenheit, die all diese schäbigen geilen neuen Orte und obskuren Partyreihen in Neukölln hervorbringt: das Gift, Perch, Sameheads, „Gegen“, Times, Blitz. Auf die Birne des Bachelors drückt stattdessen die schwere Geschichte der Achsokreativen-Vorgängergeneration der 90er-Jahre-Berliner – die Stadt als Ruine, auf der sich gut tanzen lies. Heraus kommt: Selbsthass und Schockstarre.

Beste Grüße, Timo

14. August 2012 10:28:05 MESZ

Du meinst die Amis, wenn du vom coolen Fremden sprichst? Die haben das seit Generationen drauf. Die Hemingway-Clique im Paris der 50er, die Leute um Bowles im Marokko der 70er, die Stipendiums-Kreativen im Berlin (und Istanbul) der 2000er. Das ist eine Frage der Psychotopographie. Je ferner der Heimat, desto leichter ist es, cool zu sein. Und die Amis – ob links oder rechts – fühlen sich so naturberechtigt zum Imperialismus, dass sie sich nicht lange mit Akklimatisierungsbedenken rumschlagen, sondern gleich frank und frei ihr Ding reinpflanzen ins Fremde. Davon können alle profitieren, auch die Ansässigen (sie können aber auch von der Selbstverständlichkeit, mit der die Amis ihre Kaugummiärsche überall hinfurzen lassen, genervt sein). Das müssten die Deutschen umgekehrt also auch können (nur mit mehr Akklimatisierungsbedenken). Ich habe allerdings noch nie von einer deutschen Expat-Enklave in New York, Buenos Aires oder Istanbul gehört, die was reißen würde. Wenn einzelne Deutsche den Versuch starten, kommen sie gleich unter die Räder (wie Rolf Dieter Brinkmann in London). Vielleicht waren die Ex-68er in der Toskana ja cool?

Jan

14. August 2012 13:29:07 MESZ

Das weiß ich wirklich nicht. Aber: Lisa Blanning vom Londoner Musikmagazin The Wire und Wolfgang Tillmans erinnern beide in dieser Ausgabe, dass z.B. London (von wo sie beide nach Berlin kommen) nur wegen der Zugezogenen und dem kulturellen Mix (eben nicht nur weiße Twentysomethings in Röhrenjeans) so eine produktive und innovative Musikkultur hervorbringt. Und was haben wir: Sarrazin, der bei einem lächerlich geringen Ausländeranteil von zehn Prozent von „Überfremdung” spricht. Da finde ich es doch ekelhaft, wenn sich jetzt auch noch normale Leute über die erst seit Neustem oder auch nur für kurz hier Wohnenden beschweren, die nachts auf der Straße friedlich Bier trinken und sich unterhalten oder gar die elitären Clubs der Einheimischen stürmen! Du wohnst doch in Kreuzberg am Wasser, genau dort wo Spiegel TV die Beiträge mit wütenden Originalberlinern dreht, wer ist denn nun der Feind? Und kennst du eigentlich die Hipster Antifa Neukölln?

T

14. August 2012 15:43:55 MESZ

Die Hipster Antifa sind Trittbrettfahrer, selbsternannte Advokaten einer Sache, von der sie nichts verstehen. So ein Scheiß wie die Hipster Olympiade. So kommt man in die Medien, die ja auch nie was verstehen. Es gibt eine schwer vitale afro-berlinische Musikszene um die Live-Demo-Veranstaltungen. Afro mit Stöckelschuhen und Stüssy-Hemd zu HipHop und Soul. Techno ist in London wahrscheinlich eine genauso lahmarschige Blassnasenkultur wie in Berlin. Nur spielt es dort nicht so eine dominante Rolle und überdeckt alles andere. Es gibt im Nicht-Techno-Berlin buntes Leben neben den Expats, genauso kosmopolitisch, nur mit der Verkehrssprache Deutsch (so wie in London in den kosmopolitischen Umfeldern Englisch gesprochen wird). Aber gut, man kann den Sprach-Aspekt auch überstrapazieren. Man muss sich ja nicht immer differenziert mitteilen können. Der Feind ist die weltkulturelle Gleichschaltung, die ein Kaffeehaus in New York, Istanbul, Barcelona, Buenos Aires, Berlin identisch aussehen lässt. Der mobile Hipster ist der Virus. Proleten aller Länder, kämpft um eure Dialekte! Allerdings, war ich jemals in einer Proletenkneipe? Das Thema ist so wenig auflösbar wie die Israel-Palästina-Frage.

JJ

14. August 2012 19:15:55 MESZ

Ich würde den mobilen Hipster niemals anklagen. Was einem vorwerfen, der sich die Welt angucken will? Toll finde ich gerade die unbedarfte Eindimensionalität im Blick auf Berlin. Und dass die eben im Grunde noch immer zutrifft. Der Autor und Verschwörungstheoretiker Johannes Thumfart hat diese Außenwahrnehmung mal so beschrieben: „Hier hecken bärtige Eigenbrötler in ruinösen Hinterhofwohnungen genialische Dinge aus und essen dabei Sachen wie Currywurst und Döner. Man darf sogar in der U-Bahn saufen und in fast allen Kneipen rauchen, eine Sperrstunde gibt es nicht, alles ist spottbillig und das Beste – das Volk, das hier wohnt, ist ultraböse, hat zwei Weltkriege verschuldet, den Holocaust begangen und danach tragischer Weise gleich den Versuch eines sozialistischen Arbeiterstaats in den Sand gesetzt.“ Das macht natürlich Spaß. Die Provinzialität, die sich aus der Attitüde einer ständig über sich selbst reflektierenden Stadt ergibt, die Zuziehende tendenziell als schwierig empfinden, ist am Ende genau das, was diese tolle Stadt ausmacht. Denn genau das Heimatliche und Provinzielle ist doch, was Berlins wahres Distinktionsmerkmal in der Welt darstellt, warum das hier so einzigartig und schön ist: Die Einwohner sind ein bisschen zurückgeblieben, die Schulen richtig mies, der Finanzkapitalismus hat noch lange nicht Einzug gehalten, es herrschen Ruhe, Langsamkeit, Kulturlosigkeit (das Gute an ihr!), Weite. Die vielen Bäume, das ganze Grün. Es eignet sich genau deshalb immer noch als utopischer Ort. Berlin ist die Anti-Stadt, ohne Geld, und ohne Stylecodes. Weltoffenheit würde nicht reinpassen. Vor allem die Touristen würden das, glaube ich, komisch finden, wenn die Berliner nicht mehr brummeln würden und mit Steinen nach ihnen schmeißen.

dein Timo

14. August 2012 21:57:13 MESZ

Das Provinzielle von heute ist die Post-Globalisierung von morgen, der Rückzug aus den negativen Wucherungen des Weltfilzes. In Europa werden wieder die Grenzbalken runtergelassen, Berlin zerfällt in seine Kieze. Der BER wird als das augenscheinlichste Symbol für das Ende einer Epoche von Großprojekten in die Geschichte eingehen: EU, Erasmus-Stipendien, Internet, Aktien-Kapitalismus, Säkularisierung. Auf dem Tempelhofer Feld werden die Bürger aus Standardüberseecontainern ihre Klein-Klein- Siedlungsprojekte auftürmen, genau aus jenen Containern, aus denen jetzt schon die temporären Bauarbeiterunterkünfte bestehen und die neue Berliner Kunsthalle der Platoon-Agentur. Favela-Architektur nach DIN-Norm. Berlin wird zum Versuchslabor und Spielfeld für das Überleben in einem Europa im Niedergang. Ein Babylon, das nicht zu Gott strebt, sondern nur einen Damm wider die ökonomische Sintflut der westlichen Welt errichtet. Menschen aus allen Windrichtungen reichen sich die Hämmer und Nägel, um Holzbrücken von Container zu Container zu zimmern. Wenn die Container den ersten Rost ansetzen, wird’s gemütlich. Haben die stolzen Städte abgewirtschaftet, ist die Anti-Stadt Berlin die letzte Zuflucht. Fremd ist dann nur noch der, der seinen Hammer nicht weiterreichen will.

Jan