Sprich, Schmetterling, sprich

Rezension
zuerst erschienen am 24. Februar 2001 in Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 47, S. V
Arbeit am Bläuling: Vladimir Nabokov als Lepidepterologe

Der Elan vitale war Nabokov heilig. Die betriebswirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Analysen und mathematischen Optimalitätsmodelle geschäftstüchtiger Biologen ödeten ihn nicht nur an. Wenn ihre aus begrenzter Vorstellungskraft geformten Begriffe auf die richtigen Propagandisten treffen, können sie direkt in die Barbarei führen. „Kampf ums Dasein, ach was! … Die alten Bücher irren. An einem Sonntag wurde die Welt geschaffen.“ Daß mit diesem „Sonntag“ dem russischen Stellvertreter von Hegels werktätigem Gott, Wladimir Iljitsch Lenin, ein privater Fehdehandschuh hingeworfen wurde, ist bekannt. Es geht aber um mehr. Wie zum Beispiel schafft es ein Schmetterling, mit den auf seinem hinteren Flügelpaar gelegenen Augenflecken und einer über den Flügeln verlaufenden Linie einen Flüssigkeitstropfen so nachzuahmen, daß es für den Betrachter so aussieht, als blicke er durch einen wirklichen Wassertropfen auf das Flügelmuster?

Nichts spricht dagegen, daß vor langer Zeit ein Tropfen auf einen Schmetterling fiel und irgendwie stammesgeschichtlich als Fleck beibehalten wurde. Man kann diese Idee Nabokovs als Spinnerei abtun, das Problem der Ursache natürlicher Variationen bleibt trotzdem bestehen. Oder ein anderer Schmetterling imitiert ein Blatt und sieht nicht nur genauso aus wie das Blatt, sondern täuscht durch Schattierungen auch noch Raupenfraß vor. Viele Imitationen haben dabei etwas Unnötiges, übertreffen sie doch das Unterscheidungsvermögen ihrer Freßfeinde bei weitem. Nur mit „natürlicher Auslese“ und dem „Kampf ums Dasein“ lassen sich viele Erscheinungen in ihrer Aufwendigkeit nicht erklären. Neben den Begriff des Nutzens muß noch ein Prinzip des zweckfreien Spiels treten. Das hätte Darwin im Unterschied zu vielen seiner Epigonen auch nicht bestritten.

Nabokov will gegenüber Darwins zufälliger allmählicher Entwicklung zu mehr Komplexität unter der Kontrolle der Tauglichkeit die schöpferischen Kräfte des Lebens, die Henri Bergson Elan vitale nennt, geltend machen. Einer der Einwände Bergsons gegen die Evolutionstheorie war, daß sie aktuelle Variationen als rein zufällig entstanden auffaßt, sie nachher aber doch auf einer Linie zusammenfügt.

In einem jetzt erschienenen, von seinem Sohn Dmitri aus dem Russischen ins Englische übersetzten Nachtrag zu „The Gift“ formuliert Nabokov seine Einwände gegen die Methode der Entwicklungsrekonstruktion der Evolutionisten. Wenn ein Paläontologe eine aufsteigende Reihe von Skeletten als die Evolution des Pferdes darstelle, liege dem eine hoffnungslose Konfusion des Art-, Familien- und Gattungskonzepts zugrunde. Die „Geschichte des Pferdes“ repräsentierten die heute lebenden Arten der Gattung Equus, weit weg vom Zustand der Harmonie der Ursprungsart, und nicht eine Serie verschiedener Tiere, die sich nie begegnet sind und auf einer Leiter arrangiert werden. Womit Nabokov ausdrücklich der Evolutionsforschung weder die Vererbungsgesetze noch den richtenden Einfluß von Umweltfaktoren bestreiten will. Die Formenvielfalt ist für ihn Ausdruck einer Bewegung, die zur Peripherie, zum Besonderen drängt. Und, auf divergierenden Linien verlaufend, ihre Verschiedenheit expressiv ins Spiel bringt.

In „Father’s butterflies“ findet sich die theoretisch wohl anspruchsvollste Darstellung von Problemen, mit denen sich der Schmetterlingsforscher Nabokov konfrontiert sah. Gleichzeitig ist der Text das Herzstück des von Brian Boyd und Robert Michael Pyle herausgegebenen Bandes „Nabokov’s Butterflies“. Nabokovs Biograph Brian Boyd, der den Band einleitet, vergißt dabei nicht, trotz aller Analogien die Unterschiede zwischen dem Schriftsteller und dem Wissenschaftler zu betonen. Der manchmal arrogant wirkende aristokratische Gestus des Schriftstellers war dem Lepidepterologen fremd. In den sieben Jahren von 1941 bis 1948, in denen Nabokov am Museum of Comparative Zoology an der Harvard-Universität an manchen Tagen bis zu vierzehn Stunden vor dem Mikroskop saß, fiel er kaum auf. Was auch daran lag, daß sein Interesse an anderen Insekten gering war und es nicht viele Schmetterlingsspezialisten im Institut gab. Um so exzeptioneller war seine Arbeit. Er beschäftigte sich vor allem mit Bläulingen. Die Familie der Lycanidae gehört mit über fünftausend Arten zu den formenreichsten unter den Tagfaltern. Nabokovs detaillierte Studien der Genitalien und Flügelzeichnungen brachten bisher nicht bekannte Lücken beziehungsweise Brüche zutage und hatten teilweise eine Neuordnung der Familie zur Folge. Dabei gründete er seine Analysen nicht nur auf der Zeichnung eines Organs eines Individuums, sondern jeweils von mehreren Tieren. Wodurch die artspezifische Variabilität des Organs ebenso die Art näher kennzeichnete, wie sie auch die Unterscheidung zur nächstverwandten sicherer machte. Nabokov zählte damit zu den ersten Wissenschaftlern, denen die Charakterisierung der gegebenen Variabilität einer Form vor dem verallgemeinernden Schluß kam. Ein im Grunde langwieriges Verfahren, dem die Forderung nach vielen schnellen Veröffentlichungen entgegenwirkt.

Die in den Harvard-Jahren entstandenen Arbeiten, die meist in der Zeitschrift „Psyche - A Journal of Entomology“ veröffentlicht wurden, dokumentieren Nabokovs Wissenschaftsprosa und warnen gleichzeitig vor einer Übersetzung ins Deutsche. Es mag daran liegen, daß man kein „native speaker“ ist, aber genauso, wie „Blues“ eingängiger ist als Bläulinge, scheinen englische Worte besser geeignet, morphologische Details in wiederkehrenden Formulierungen zu bezeichnen. Was aber nicht heißt, daß nicht eine Liste der Schmetterlinge Nabokovs, die den wissenschaftlichen Namen die vulgären und soweit vorhanden auch die deutschen Bezeichnungen gegenüberstellt, hilfreich wäre. Dies gilt besonders für das unvollendete Manuskript „The Butterflies of Europe“, das bei George Weidenfeld erscheinen sollte und deren Karteikarten hier ebenfalls erstmals gedruckt vorliegen. Vielleicht reicht es dazu aber auch, Dieter E. Zimmers „A Guide to Nabokov’s Butterflies and Moths“ aus der Gefangenschaft des Privatdrucks zu befreien.

Die lebenslange Lust am Jagen von Schmetterlingen soll auch in den „Butterflies“ nicht von der anderen Passion, dem Schreiben, getrennt werden. Passagen aus Briefen, Interviews und der Autobiographie „Erinnerung, sprich“ komplettieren das Buch. Nabokovs Spaß an Übergängen, Verwandlungen und phantasierendem Spiel scheint auch hier manchmal auf. So in einem Brief an Hugh Hefner, den Herausgeber des „Playboy“, in dem Nabokov fragt, ob Hefner schon mal die Ähnlichkeit zwischen einem Schmetterling und Bunnys Kopf und Ohren aufgefallen sei.  Aus den meisten Texten spricht allerdings eine Achtung gegenüber der Schmetterlingswelt, die an Bergson denken läßt, demzufolge Insekten und Menschen auf verschiedenen Pfaden Instinkt und Intellekt zu ihren höchsten Formen trieben, indem sie sich trennten.