Stream of Love

von 
Essay
zuerst erschienen 2013 in Upon Paper

He says

„You make me very happy“

She says

„Yeah, yeah. Put it in writing“

Sex and the City – der Film, 2008. Carrie Bradshaw liegt neben Mr. Big im Bett und schnüffelt an einem dicken Buch aus der Leihbibliothek. Sie saugt den warmen Atem der Seiten ein, sie umfasst den Buchkörper fast wie einen Liebhaber. Er will von ihr wissen, was sie da lese. Das Buch nennt sich Love Letters of Great Men, herausgegeben von John C. Kirkland. Sie beginnt mit einem unterschwelligen Seufzer aus einem Brief von Napoleon an Josephine zu lesen, springt dann zu Beethovens Zeilen an die mysteriöse Unsterbliche Ge liebte: „Ewig Dein, ewig mein, ewig uns“.

Mr. Big ist zwar big, aber eben kein Great Man, denn er schreibt keine Liebesbriefe an Carrie. Nicht mal ein Liebesfax. Denn, so sagt er, diese Geliebten aus dem Buch seien ja auch Lichtjahre voneinander entfernt, und Carrie und er seien zusammen, also wozu Liebesbriefe schreiben, wenn man sich jeden Morgen aneinander reiben könne.

Er sagt: „Du machst mich wahnsinnig glücklich.“ Sie: „Ja, ja, gib mir das schriftlich.“

Damit formuliert Carrie ein Bedürfnis, das scheinbar universell ist, Tausende von Frauen stürmten nach der Ausstrahlung des Sex and the City-Films die Buchhandlungen, um sich eine Ausgabe des Loveletter-Buches zu kaufen. Entweder weil sie sowieso alles haben müssen, was Carrie mal in den Händen gehalten hat, oder weil auch sie ihren Männern ein begründetes schlechtes Gewissen machen wollten. Aber vielleicht war es auch nur die Möglichkeit, dass es wirkliche Liebe gibt und diese Briefe Beweise dafür sind und man deshalb nicht verzweifeln muss.

Doch wie die Buchhändler mit Verwunderung feststellten, existierte dieses Buch gar nicht. Es war einfach nur ein erfundenes Requisit auf dem Filmset. Aber manchmal erzeugt die Nachfrage eben erst das Angebot: Ein amerikanischer Verlag druckte tatsächlich einen Band mit dem Titel Loveletters of Great Men, der sich dann auch schnell auf die Bestsellerliste schob.

Die Forderung steht im Raum: Der Wunsch nach einem Bekenntnis, das jenseits der alltäglichen Liebesversicherungen steht. Ein Liebesbrief auf Papier, den man in der Schreibtischschublade liegen hat, ist so etwas wie ein Vertrag, mehr als nur ein gesprochenes Wort, und irgendwie auch schon fast wie eine Oblate, die den Leib Christi nicht nur symbolisiert, sondern dieser Leib selbst ist. Der Liebesbrief ist gleichsam der Leib des Geliebten, der, selbst wenn er gegangen ist, einen Teil seines Körpers zurückgelassen hat.

Liebesbriefe werden erst ab einem gewissen Sehnsuchtsgrad verfasst. Je entfernter der Geliebte, desto stärker werden die Worte. Heinrich von Kleist sagte zwar: „Die Sprache kann die Seele nicht malen.“ Aber gerade in diesem Bewusstsein schuf er die schönsten Werke. Denn erst dadurch, dass man etwas vermisst, lässt sich das Paradies erschreiben. Das Paradies muss von hinten irgendwo offen sein. Heinrich von Kleist ist denn auch einer der konsequentesten Liebenden gewesen – er brachte sich gemeinsam mit seiner Geliebten Henriette Vogel am Wannsee um. „Meine Braut, mein Mädchen, mein Innerstes, mein Herzblut, meine Eingeweide, mein Augenstern, oh, Liebste wie nenn ich dich?“ schrieb er ihr noch wenige Tage zuvor. „Mein Weib, meine Hochzeit, die Taufe meiner Kinder, mein Trauerspiel, mein Nachruhm. Ach du bist mein zweites, besseres Ich, meine Tugenden, meine Verdienste, meine Hoffnung, die Vergebung meiner Sünden, meine Zukunft und Seligkeit, o Himmelstöchterchen, mein Gotteskind …“.

Viel schwieriger als ein gemeinsamer Tod ist allerdings ein gemeinsames Leben.

Jean-Paul Sartre wusste ganz genau, wie er seine liebste Lebensgefährtin Simone de Beauvoir nennen sollte: Biber. „Mein reizender Biber…“. Denn Biber lieben die Geselligkeit und haben eine konstruktive Ader. Der Dichter Dylan Thomas hingegen nannte alle seine Geliebten beim Namen. Neben Pamela, Emily, Ruth und Liz schrieb er auch an seine Ehefrau Caitlin die außergewöhnlichsten Liebesbescheinigungen und vor allem halsbrecherischsten Versprechen: „Ich werde dir immer schreiben, Dich immer lieben & Dir nie absichtlich weh tun: überhaupt nie weh tun, denn du bist ein seltenes und exklusives Tier, und Gott weiß ich bin ein glückliches Männlein, Dich lieben zu können & von Dir geliebt zu werden. Ich würde Dir noch viel mehr schreiben, aber meine Finger lösen sich auf, und ich muss genügend Energie aufsparen, um nach draußen bibbern und den Spatzen Brot geben zu können. Schreibst Du mir bitte sehr bald? Sag mir alles, was Du sagen willst; erzähl mir, was Du tust und denkst; erzähl mir von Schnapsnase Bob und Hengst D’arcy und der roten, breitbeinigen Phyllis, und der ordentlichen Tony, und dieser unerträglichen Schwuchtel, deiner Katze.“

Caitlin konstatierte allerdings später, dass ihr Gatte Dylan dafür auch nicht einen einzigen Abend zu Hause verbrachte. Wenn er nicht auf Reisen war, saß er betrunken in der Kneipe. Der Brief hat auch eine kathartische Funktion. Durch die Entfernung in Zeit und Raum, wird der Brief eben selbst zum geliebten Objekt, man er schreibt sich eine Idealisierung. Die Beziehung wird auf eine höhere Ebene gehoben, jenseits des Alltags, der Brief ermöglicht eine Rückschau und einen Ausblick gleichermaßen. Man ist verliebt in das eigene Schreiben und der Geliebte tritt plötzlich viel klarer da raus hervor, auch wenn man in einem Liebesbrief eigentlich mehr über sich selbst schreibt als den anderen zu erfassen. Denn es macht die Liebe aus, dass der andere immer eine Art blinder Fleck bleibt, »Es ist bemerkenswert, dass wir gerade von dem Menschen, den wir lieben, am mindesten aussagen können, wie er sei. Wir lieben einfach«, so sagt Max Frisch. »Eben darin besteht ja die Liebe, dass sie uns in der Schwebe des Lebendigen hält, in der Bereitschaft einem Menschen zu folgen in allen seinen möglichen Entfaltungen.« Liebesbriefe nähren sich aus Leerstellen und Geheimnissen, aus der Negativität, die zwischen den Liebenden in der Entfernung entsteht. Gerade aufgrund der geringen Informationsdichte in einer Liebesbeziehung verdichten sich die Briefe zu komplexen, poetischen Gebilden.

Heute kommt diese Negativität aber kaum noch zustande. Wir sind miteinander verknüpft über unsere Smartphones. Wir schreiben in jeder freien Sekunde SMS, um uns zu sagen, wie sehr wir uns vermissen, und wenn die Zeitverschiebung nicht allzu brutal ist, skypen wir so oft es geht, um zu sehen, was der andere da drüben für ein Leben führt und wie sein altes Kinderzimmer aussieht. Wir schreiben uns E-Mails und vor allem schicken wir uns Fotos, Screenshots und posten Linksauf der Facebook-Seite des Liebsten. Wir wollen alles teilen. Aber wir erheben auch den Anspruch, dass der andere mit uns alles teilt. Das ermöglicht uns ein synchrones Sehen – durch die gleichen Augen, auf der Basis von gemeinsamen Informationen. Der Liebesstrom besteht nicht mehr nur aus Worten, sondern auch aus Bildern und Musik. Ein ästhetisches Gebilde wächst zwischen uns, ein einzigartiges, simultanes Gesamtkunstwerk. Wir schreiben an einem Dokument unserer Liebe.

Das macht den Liebesbrief im klassischen Sinne unmöglich, denn der lebt nicht von ständiger Aktualisierung, sondern von der Besinnung, der Anschauung und Imagination. Der Philosoph Byung-Chul Han nennt diesen Prozess die „Agonie des Eros“. Wenn das Geheimnis verschwindet, schwindet auch die Erotik. Wenn alles klar ist, dann müssen wir nichts mehr entbergen. Wir konsumieren den anderen im unendlichen pleasure stream und nehmen ihm damit sein Recht auf Eigenheiten und sein Potential zur Idealisierung, Allerdings handelt es sich dabei um trügerische, luzide Liebesbeweise, denn der Stream of Love ist letztlich eine paranoide Forderung nach einer Aufrechterhaltung des Kommunikationsstroms, „Gib mir das schriftlich!“ – Trotz all des angehäuften Materials (Youtube-Links und küssende Emoticons), wollen wir das Gleiche wie Carrie Bradshaw.

Und dann sitzen wir vor dem Computer und starren stundenlang auf ein kleines Skype-Symbol, bis es sich endlich von weiß nach grün verwandelt. Wir checken regelmäßig die Facebook-Seite des anderen, um zu sehen, wen er letzte Nacht in Paris kennengelernt hat und was die kryptischen Postings von seiner Exfreundin zu bedeuten haben. Jedes lapidare Mosaiksteinchen im Netz kann mit Fragen und Bedeutungen aufgeladen werden. Wir fangen an, das Google-Orakel über alle Menschen zu befragen, die in Kontakt mit dem Liebsten stehen. Wir lassen schließlich seinen E-Mail-Account hacken, um die Kontrolle zu behalten über den Liebesstrom. Irgendwie ist sein Postfach ja auch aus dem gleichen Datenmaterial wie mein Postfach. Wir liegen auf den gleichen Servern.

Der Stream of Love, der ja genau so schön und poetisch sein kann – „I kiss you through the phone“ – wie ein gesetzter Liebesbrief, ist aber ein offener Prozess, und wenn man nicht aufpasst, dann wird er zu einer Falle des Wahnsinns. Die Liebeskommunikation lässt uns zerfließen. Das unendliche Teilen und Liken endet im Verglühen. Der Liebesbrief ist tot! Wir schreiben uns trotzdem weiter. „Die Liebe hört nimmer auf, so doch die Weissagungen aufhören werden und die Erkenntnis aufhören wird. Denn unser Wissen ist Stückwerk, und unser Weissagen ist Stückwerk. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich’s stückweise, dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin“. Und die Liebe stirbt nie.