Un Jardin sur le Nihil

Erzählung
zuerst erschienen im Sommer 2008 in Kultur & Gespenster

Washington, DC

In meinem sehr bequemen Bett im Fairmont, das ich gewählt habe, da alle Zimmer dort Balkone und große Schreibtische haben, träume ich von Lena, die ich auf einem Pferd sitzen sehe, das sich auf einem Karussell auf und ab bewegt, das sich über einer saftigen Wiese dreht, und als ich zu mir komme, blicke ich direkt in den Flachbildfernseher: Bei David Letterman ist neben Snoop Dogg heute Abend ein fettleibiger Kalifornier zu Gast, der in seinen VW New Beetle ein ausrangiertes Düsenjägertriebwerk eingebaut hat. Als Letterman Dogg fragt, ob er auch ein schnelles Auto habe, muss Dogg bejahen, er sei Besitzer eines Porsche Carrera, „de S version, you digg?“, und als Letterman nachhakt, wo er den Porsche denn ausfahre, da dies in Amerika schwierig sei, verrät Dogg: „In Germany, man“, er habe seinen Porsche am Werk persönlich abgeholt, habe ein Tütchen geraucht und sei dann mit 180 Meilen pro Stunde über die Autobahn gebraust, alle Menschen, so Dogg, würden in Deutschland so schnell fahren, und Letterman setzt einen debilen Blick auf und schnarrt: „Ja! Ja! They’re all in a hurry to get to Shtootgart!”

Ich entnehme dem Kühlschrank ein Sixpack Moosehead und lege die Flaschen im Badezimmer einzeln in ein tiefes Waschbecken. Ich habe vor, das Becken vollständig mit Eis zu füllen, um eine Trinktemperatur zu gewährleisten, die noch unter jener des Minibarkühlschrankes liegt. Als ich wieder im Zimmer bin, erfahre ich von der attraktiven CNN-Inderin, dass Vertreter der Justizbehörden das Gericht im Berufungsverfahren von Jeff Skilling, ehemals Vorstandsvorsitzender des Energiekonzerns Enron[1], darum gebeten haben, das Strafmaß, das 24 Jahre[2] lautet, endgültig zu bestätigen. Und während ich den Eiskübel suche, den ich für mein Vorhaben benötige, die Flasche Stolichnaya, die ich hier irgendwo noch habe, erinnere ich mich an die zahllosen Konferenztelefonate, in denen ich diesen unfassbar arroganten Mann[3] erlebt habe, vor ein paar Jahren, als ich noch bei einer amerikanischen Investmentbank beschäftigt war. Mein Arbeitgeber wurde von Enron damals unentwegt mandatiert, sodass ich mich regelmäßig im Houstoner Hauptquartier des Konzerns aufhielt, wo es nicht wie bei einem Energieversorger, sondern wie in Las Vegas aussah. Nicht wenige der Mitarbeiter hatten lange Haare, und alle von ihnen hatten viele Aktienoptionen, und wenn man mit ihnen in einer Besprechung saß, blickten sie alle zwei Minuten in die Bildschirme hinauf, die in allen Besprechungszimmern angebracht waren, und auf denen zu jeder Zeit der aktuelle Kurs der Enron-Aktie angezeigt wurde. Wenn dieser einen Sprung machte, war es so, als hätte irgendwo der Enrongott die Taste F9 gedrückt, die in Microsoft Excel für den Befehl „Berechnen“ steht: Die Männer brachten sich, was ihren net worth betraf, auf den letzten Stand, um sich dann lächelnd, als updated versions, sozusagen, wieder der Besprechung zuzuwenden.

Nachdem alles gesagt war und man sich für den Abend unbemerkt ins Four Seasons davon schleichen wollte, folgte unweigerlich die stets leicht derangierte Einladung „Come on, pal! Let’s get shitfaced!“ und so zog man durch texanische steak houses und rib shacks und strip clubs und die Jungs von Enron soffen und fraßen und erzählten einem von intellectual arbitrage oder ihrer Begeisterung für Egon Schiele, den sie Eggawn Chili aussprachen, worauf man dann zum Beispiel erwidern konnte, dass dieser ja auch die Inspiration für die Gründung der Red Hot Schiele Peppers gewesen sei. Einer der Männer, die allesamt in meinem Alter, also Anfang zwanzig waren, erzählte mir an einem dieser Abende, dass er Kunstsammler sei und eine Idee für eine Installation habe, die ich gar nicht schlecht fand: Der traditionelle Schlacht- und Erbauungsruf der Texaner, so er, das Yeee-Haw! weise eine verblüffende Ähnlichkeit zum tradi-tionellen Schlacht- und Erbauungsruf islamischer Fanatiker auf, zum Jiii-Had! und er habe vor, einen überlebensgroßen, in einem Dialekt der Bildsprache des Richard Prince gehaltenen Cowboy zu konstruieren, naturgemäß nicht eigenhändig, Christo habe den Reichstag schließlich auch nicht eigenhändig eingepackt, und der Cowboy werde ein Lasso über dem Kopf schwingen und die Fahne unter dem Sattel haben und sein Mund werde weit aufgerissen sein, seine Augen wirr, sein Pferd werde auf den Hinterhufen stehen uns das Ganze werde bei seiner Präsentation stets mit einem Soundeffekt unterlegt sein, einem Endlosband mit hysterischen und sehr lang gezogenen Yeee-Haw!-Rufen in einem perfekten texanischen Akzent. Seine Installation, so er, werde Jihad heißen.

Vielleicht sollte es allerdings keine derart plakative Reiterfigur sein, denke ich mir, als ich endlich den Eiskübel entdecke, vielleicht sollte es eher ein Soldatengrabstein sein, wie er in Reihen aus Tausenden auf dem Heldenfriedhof im nahen Arlington zu finden ist, ein vierzig Zentimeter breiter, einen Meter hoher Grabstein aus einfachem Marmor, in den man keinen Namen, kein Geburts- und kein Sterbedatum, sondern allein den Begriff Jihad einmeißeln und den man mit einer Fräse von unten aushöhlen würde, um in seinem Inneren hochwertige Lautsprecher zu installieren, sodass dem Betrachter aus dem Jenseits unentwegt hysterische Yeee-Haw!-Rufe entgegen schallen würden, die man allesamt der amerikanischen Fernsehserie The Dukes of Hazzard entnehmen könnte, in deren Mittelpunkt ein orangefarbener Sportwagen steht, mit dem zwei texanische Burschen über unbefestigte Feldwege jagen, und bei Bedarf auch über trockene Flussbetten springen, wobei sie voller Inbrunst und Freiheitsliebe Yeee-Haw! in die Welt hinaus brüllen, das Glaubensbekenntnis der verschwitzten weißen Männer der amerikanischen Südstaaten: Yeee-Haw! brüllen sie, wenn eine vollbusige Bardame ein frittiertes Hühnchen vor ihnen niedersetzt, Yeee-Haw! brüllen sie, wenn ihr Präsident sie in dilettantisch vorbereitete, größenwahnsinnige Angriffskriege schickt.

Wenn man im Fairmont den Gang hinunter läuft, um zu der Eismaschine zu gelangen, die sich auf jedem Stockwerk befindet, wenn man wie ich gar mehrfach zwischen Zimmer und Eismaschine hin- und herläuft, da man nicht nur einen Eiskübel, sondern ein ganzes Waschbecken mit Eis zu füllen gedenkt, weht einem alle drei Meter mit großer Wucht arktische Luft an den Kopf, immer dann nämlich, wenn einem der zahlreichen Gebläse der scheinbar außer Kontrolle geratenen Klimaanlage vorbei läuft. Nach drei oder vier Runden wird mir bewusst, wie kalt es im FAIRMONT doch ist, in jedem letzten Winkel dieses riesigen Gebäudes, und ich frage mich, wie viel Strom hier wohl täglich verbraucht wird, und ob der Betrieb des Hotels sich überhaupt rechnen kann, wenn man die Luft darin das ganze Jahr über auf 5°C halten muss, und als ich wieder in meinem Badezimmer angekommen bin, und die letzte Ladung Eis auf das Moosehead rieseln lasse, höre ich aus dem Fernseher eine besänftigende Stimme, die eine revolutionäre Methode zur Stärkung des männlichen Gemächts anpreist: „Call 1800-SCHLONGG today and change your life!“, flötet sie, „You have a right to be happy, and now, for ten easy monthly installments of just $499 each, you truly can be. So show the ladies who’s boss. Be a man. Do not fear, because today“, zieht die Stimme Bilanz, „a bigger penis is just a toll-free phone call away.“

Und während ich stoisch beginne, den Stolichnaya zu leeren, sehe ich das riesige Kraftwerk vor mir, das vonnöten ist, um nur den Energiebedarf dieses einen Hotels zu decken, ein Ölkraftwerk sicher, das inmitten eines Armenviertels unter Volllast läuft, und aus Kostengründen mit hochgiftigem Schweröl betrieben wird, und ich sehe den Abteilungsleiter des örtlichen Energieversorgers vor mir, wie er mit dem Abgeordneten seines Wahlbezirks im Capital Grille zusammen sitzt, und den Abgeordneten fragt, ob dieser schon den neuen BMW X5 gesehen habe, das sei für einen Mann wie ihn doch zweifellos der richtige Wagen, und ich sehe einen kugelrunden Mullah vor mir, der sich fernab der Einöde seiner Heimat auf einer Jacht vor der Küste Neuenglands zufrieden in sein maniküregepflegtes Fäustchen lacht, das immer noch nach der vierzehnjährigen Moldawierin riecht, die er sich hat entführen lassen, um seinen neuen Schlongg auszuprobieren, und bevor mir jetzt noch die armen und daher nicht krankenversicherten Menschen erscheinen, die um das Kraftwerk herum wohnen, und ohne ärztliche Betreuung an Krebs verenden, was in Amerika gang und gäbe ist, spüle ich ein paar Tylenol PM mit Stolichnaya runter und schalte den Fernseher ab. Ich lege mich ins Bett. Ich lösche schnell das Licht.

New York, NY

Im Gramercy Park Hotel[4] sitzen Lena und ich in der Bar, und zwar in der informellen Jade Bar, die der affigen Rose Bar eindeutig vorzuziehen ist. Wir haben den halben Tag im Bett verbracht, sind nachmittags einen Burger[5] essen und diverse Gegenstände erwerben gegangen, unter meinem halbherzigen Protest unter anderem für mich fünf schwarze Hemden von Costume National Homme, die eine hervorragende Passform besitzen. An der Wand hinter uns hängt Blue Japanese Painting #3 von Julian Schnabel[6], und auf dem Tisch vor uns liegt die braune Papiertüte mit dem gotischen GPH-Logo, in der man hier seine New York Times gereicht bekommt. Was sagt es über einen aus, frage ich mich, wenn man damit in ein Kaffeehaus hinein läuft? Ich habe Erfolg oder reiche Eltern oder eine corporate rate von Condé Nast oder was auch immer.

Den frühen Abend verbringen wir im Dampfbad, und dann erfreuen wir uns am entspannenden, fast schon lähmenden, höhlenartigen Charakter unserer Suite. Als Lena mit einem Seufzer einschläft, schleppe ich mich ins Badezimmer, um mich unter die kalte Dusche zu stellen. In der Ankleide schlüpfe ich ein einen hellgrauen Anzug, in eines der neuen schwarzen Hemden, ich binde mir eine schwarze Krawatte um, völlig lautlos, um Lena nicht zu wecken. Aber Lena schläft tief und fest. Sie ist nur als elegante Ausbuchtung unter der schweren Daunendecke zu erkennen. In der Jade Bar trinke ich noch einen schnellen Tanqueray & Tonic, der hier im Gramercy Park Hotel zu 80% aus Gin besteht, und wehe durch die Drehtür in die Dunkelheit hinaus.

An der elften Straße kehre ich in einen Japaner ein, der Kanoyama[7] heißt, und den ich ausgewählt habe, da er im Zagat ein food rating von 27 Punkten aufzuweisen hat. Ich bin mit meinem alten Kommilitonen Michael verabredet, der sich verspätet, da er auf einem schlechten Fest der Investmentbank Bear, Stearns & Co.[8] am South Street Seaport ist, in dessen Hühnerflügellokalen New Yorker Banken gerne ihre internen Veran-staltungen abhalten. Als er eintrifft, schenke ich ihm aus der Flasche Sato No Homare[9] ein, die ich bereits zur Hälfte geleert habe, und wir beäugen eifersüchtig das ausgelöste Königskrabbenbein, das im Mund der japanischen Nixe am Nebentisch verschwindet. Michael ist nervös, wie er mir gleich verrät, während er uns eine Rosette Seeteufelleber bestellt, er befürchtet, uns könnte hier jemand sehen, mit den mundgeblasenen Sakekelchen, der frisch geriebenen Wasabiwurzel und der Seeteufelleber und auf die Idee kommen, dass wir schwul seien. Und irgendwie hat er ja recht: Warum treffen sich Männer eigentlich nicht mehr auf Bratwurst und Bier? Warum ist alles so spezifisch geworden, so ungeheuer kompliziert? Jetzt sitzen wir hier und freuen uns auf Sashimi Omakase und also kleine japanische Aale und noch lebende Seeigel und trinken fachkundig ausgewählten Sake und trage diese bescheuerten Insideranzugmarken und filigrane Stiefeletten und beschließen daher, nach dem Omakase mit dem Taxi in eine ordentliche Dreckskneipe zu fahren.

Eine Stunde später stehen wir auf der Straße vor dem Manitoba‘s[10] in der Avenue B, wo es Jever vom Fass gibt und eine Jukebox mit Liedern wie I wanna be sedated von den Ramones, rauchen eine Winston und reden immer noch über das Omakase, dessen Hauptattraktion Sweet Shrimp Larvae aus Grönland waren, die wie kleine, transparente Schlangen aussahen. Die Schlangen hatten goldene Augen, und ich sagte mir: Du kannst doch keine Augen essen, und Michael sagte: Das sind Kaulquappen, du hast uns Kaulquappensashimi bestellt, für $18 das Stück, und wenn Du Deinen Teil nicht willst, dann gib ihn mir, denn wenn ich eines liebe, dann sind es Kaulquappen.

Montreal, QC

Ein früher Abflug von LaGuardia, noch vor sieben Uhr, in einem Flugzeug der zwielichtigen brasilianischen Manufaktur Embraer, das ganz aus Plastik gefertigt ist. Die ERJ-145 ist ein zweistrahliger Regionaljet, der sich aufgrund seines niedrigen Kaufpreises bei amerikanischen Fluglinien zunehmender Beliebtheit erfreut. Das Flugzeug mutet an wie eine Einwegkamera von Kodak: funktional, vielleicht sogar wasserdicht, aber nicht für die Ewigkeit gedacht. Der Flug verläuft ohne Zwischenfälle, ich trinke grünen Tee und lese einen Artikel über Padma Lakshmi, die in jedem Satz, den sie von sich gibt, entweder das Wort „fuck“ oder das Wort „fuckin“ benutzt. Beim Landeanflug ist unter uns schneebedeckte Tundra zu sehen.

Montreal ist ziemlich hässlich.[11] Eine Stadt, der man die Einöde anmerkt, die sie umgibt. An einem Ende ein verschneiter Berg, am anderen Ende ein zugefrorener Fluss, dazwischen Bürotürme und Hotels. Erstaunlich viele auffallend hübsche Mädchen, in dieser Häufung wirklich bemerkenswert, wie in Sachsen etwa, oder in Estland. Irgendwo in Montreal soll es eine Altstadt geben, aber ich habe sie nicht gesehen. Bis auf ein paar schöne Kirchen und Kopien stalinistischer Prunkbauten sieht die Stadt so aus, als sei sie zur Gänze in den letzten 50 Jahren entstanden.

Das Omni, in das ich dann einchecke, war früher ein Four Seasons und ist daher viel angenehmer, als man es von einem Omni im Normalfall erwarten kann. In meinem Zimmer im 26. Stock überprüfe ich den Inhalt der Minibar und stelle mit Erleichterung fest, dass sie neben Aspirin auch große Mengen an Mineralwasser enthält. Ich bin hier in Montreal nämlich auf einer bachelor party eingeladen und werde morgen, da mache ich mir nichts vor, mit einem brutalen Kater zu kämpfen haben. Ich nehme eine heiße Dusche, ziehe mir einen sauberen Scheitel, ziehe mir einen schwarzen Anzug an. Das Phänomen der bachelor party, denke ich mir: Der Amerikaner will heiraten, aber vorher unbedingt noch die Jungs zum Saufen in eine Stadt wie Montreal einladen, die weltweit für ihre hervorragenden Stripkneipen bekannt ist.

Nachdem ich meinen Reisepass in den Safe geschlossen habe, fahre ich hinunter in die Hotelbar. Der Rest der Bagage hat es sich dort bereits gemütlich gemacht. Casimir, der aus Bayern kommt und in New York bei der Deutschen Bank arbeitet, schwärmt gerade von seiner neuen Freundin, die er in der Entzugsklinik kennengelernt hat. George, der wie ein braun gebrannter Nachfahre von Abraham Lincoln aussieht, was er wahrscheinlich auch ist, hält für den Anlass offenbar einen moosgrünen Seidenschal für angemessen. Julian, ein langhaariger Brite, der in Charleston lebt, und Vincent, ein versoffener Amerikaner, der im kommenden Monat in Puerto Rico seine französische Freundin heiraten wird, sind dabei, jeweils einen pitcher Moosehead zu leeren. George bestellt sich einen vodka soda straight up with a twist. Vincent schreibt unter einem Pseudonym Spionagethriller, und Julian schreibt Software. Ich schreibe nur diesen Artikel hier.

Zum Lunch suchen wir eine Kneipe auf, in der es gute Burger aus Bisonfleisch geben soll. Es ist mitten im Winter, aber warm draußen. Wir können sogar auf der Terrasse sitzen. Der einzige Wermutstropfen ist, dass es in der Kneipe nicht das erfrischende Moosehead gibt, und daher trinken wir Labatt Blue, in etwa das Binding von Kanada. „Where are the strip clubs?“, fragt Julian, offenbar in Sorge. „What do you think that is?”, frage ich, und zeige auf ein etwa 50 Meter entferntes Gebäude, auf dessen Seitenmauer mit beachtlicher Kunstfertigkeit ein nacktes Showgirl gemalt worden ist. Darüber steht geschrieben: Wanda’s. Home of the Godesses.[12]

In der Stripkneipe ist es düster. Wir sind die ersten Gäste. Vorsichtshalber freunde ich mich mit dem Mâitre an. Er heißt Remy. Wir werden an einen guten Tisch auf der Empore geführt, direkt vor einer kleinen Tanzbühne. Wir bestellen uns Wodka Ginger. Es sitzen im Wanda’s ungefähr 50 kaum bekleidete Mädchen herum. Sie sind hübsch, sorgfältig gestylt und sehen aus wie Teenager. Zwei von ihnen staksen vor uns auf die Bühne und beginnen fröhlich, sich auszuziehen. Weitere kommen hinzu. Es läuft eine eigenartige Techno-Version von Message in a bottle. Ich winke eine große Brünette herbei und bestelle einen lap dance für George. Ungefähr zur gleichen Zeit sind die anderen jedoch auf ähnliche Ideen gekommen, sodass wir an unserem Tisch bald in einem Strudel aus Nacktheit versinken. George sagt der Kellnerin, sie solle nicht mehr fragen, sondern einfach alle zehn Minuten eine neue Runde bringen.

Als ich später wieder Hunger bekomme, vertiefe ich mich in die Speisekarte. Ich bestelle mir das Tagesgericht, Miesmuscheln in sahnigem Pernod-Sud mit Frites. Dazu eine Flasche Elsässer Riesling. Während ich meine Muscheln esse, mit denen ich sehr zufrieden bin, schwärmt George von der gotischen Barschönheit, Anhängerin einer überholten No-future-Ästhetik, die gerade eine tänzerische Interpretation des Liedes Ich will von Rammstein zum Besten gegeben hat. Amber, so nennt sie sich, sei die einzige hier, sagt George, die in ihren Darbietungen artistic ambition erkennen lasse. Da George aber die Art Mann ist, den man nur dann in ein Museum kriegt, wenn es dort umsonst etwas zu trinken gibt, schöpfe ich den Verdacht, dass seine Begeisterung weniger in Ambers artistic ambition als in ihren großen, angenehm blassen Brüsten begründet liegt.

Nach dem Essen trete ich vor die Tür, um eine Zigarette zu rauchen. Ich stelle fest, dass sich über der Stadt ein Schneesturm zusammengebraut hat. Eisiger Wind heult durch die hässlichen Straßen. Montreal mutet an wie eine Plattenbausiedlung in Sibirien. Gegenüber stehen die Menschen vor einer arabischen Imbissbude Schlange, über der ein Neonschild mit der Aufschrift Osama Shawarma leuchtet. Böse aussehende, bärtige Männer säbeln Grillfleisch von mannshohen Drehspießen, um dieses im Anschluss in arabisch gewürzten Teigtaschen zu arrangieren. Nachdem ich die Zigarette im Wind habe wegfliegen lassen, fühle ich mich vergiftet, ich überquere die Straße und betrete eine Jamba-Juice-Filiale[13], um meinen Organismus mit einem double wheatgrass shot[14] notdürftig zu reinigen. Dann mache ich mich auf den Weg zurück in die warme Zuflucht der Stripkneipe.

Dort sind die Dinge langsam am Entgleisen. Zwei der Mädchen haben einen jungen Mann gefangen genommen, offenbar ebenfalls ein bachelor, dessen treulose Freunde sich daran ergötzen wollen, wie der künftige Bräutigam rücklings und nur mit Boxershorts bekleidet vor 100 fremden Menschen auf den Brettern der Bühne einer Stripkneipe festgezurrt wird. Eines der Mädchen kniet sich seitenverkehrt über sein Gesicht, und lehnt sich dann zurück, sodass sie ihn, ich sehe es nicht genau, aber stelle es mir so vor, mit den Pobacken in die Nase zwickt. Das zweite Mädchen, das rittlings auf dem Becken des bachelor sitzt, beugt sich nach vorne, woraufhin ihr Gesicht für mehrere Minuten zwischen den Beinen ihrer Kollegin verschwindet. Ich bestelle eine Flasche Stolichnaya (es ist albern mittlerweile, immer mit den einzelnen Drinks) und sinniere über die Beziehung des nordamerikanischen Mannes zur Stripperin, wie sie einem hier im Wanda’s in Reinform präsentiert wird: Geld ist attraktiv, im Besitz von Geld zu sein, versteht der nordamerikanische Mann als körperliche Eigenschaft, wie einen Waschbrettbauch etwa, kräftige Oberarme oder eine Gerard-Depardieu-artige, nachhaltig versoffene, dabei aber auf archaische Weise sinnliche Männlichkeit. Und so ist die Zuwendung der Stripperin zum zahlenden Gast auf bizarre Weise natürlich: Das Geld ist Teil von ihm, Teil seiner Person, und so ist die Zuwendung der Mädchen echt, ebenso echt, so verstehen es diese Männer, wie eine Zuwendung, die auf Aussehen basiert, auf Manneskraft oder gar auf Intellekt. Aber davon mal abgesehen, es ist wirklich unfassbar, wie hübsch diese Mädchen sind, makellos, wie in einem Trickfilm. Diese Popöchen! Diese vollendeten Popöchen, in einer solch ungeheuren Vielzahl, in diesem Schuppen, in der Tundra hier, im Permafrost, wo kommen sie nur alle her?

Miami, FL

Jedes Mal, wenn ich in Miami ankomme, denke ich mir: Warum? Gib der Stadt noch eine Chance, sage ich mir dann, vielleicht kann Miami ja auch angenehm sein, Boris Becker zum Beispiel schätzt Miami, aber in meinem Herzen trage ich die Gewissheit: Es wird noch grauenhafter sein, als beim ohnehin jeweils schon indiskutablen vorherigen Mal. Vor dem Terminal steigen wir in ein Taxi der Conio Cab Company. Der Lizenz zufolge, die mit einem Gummiband an der Sonnenblende befestigt ist, heißt unser Fahrer Jesus Rodriguez. Die Fahrt in die Stadt hinein geht über Freeways, die auf Stelzen gebaut sind, und der schläfrige Bananenrepublik-Charme der Favelas be-sänftigt mich.

Der Taxifahrer hält vor einem Gebäude, das wie ein Parkhaus aussieht, und dann laufen Lena und ich entspannt durch die kühle Lobby. Die Gestaltung des Hotels gefällt mir, was mir irgendwie unangenehm ist, denn The Standard[15] ist einerseits ein typisches Insiderprodukt, das andererseits auch schon wieder absolut Mainstream ist, schon allein deshalb, da die Fraktion der Insider, zu der man, wenn es sich vermeiden lässt, ja nicht zählen möchte, in den letzten Jahren exponentiell angeschwollen ist, aber davon abgesehen muss ein Mensch, der nicht ab und zu mal auf einem Langstreckenflug die Monocle oder den Architectural Digest durchblättert, sich bei diesem Anblick denken: Was soll das hier denn bitte? Wenn man nicht ungefähr wüsste, was das soll, und dass es etwas Besonderes sein soll, könnte man in Anbetracht der brasilianisch angehauchten dänischen Retro-Strenge, des saunafarbenen Holzes und der mit beiger Wolle bespannten Wände auch meinen, dass man sich etwa im Jahre 1975 in einer Anti-Atom-Kommune aus Kopenhagener Kunsttischlereilehrlingen und ihren Architektur studierenden brasilianischen Gespielinnen befinde, die sie beim Haschkauf in Kabul kennengelernt haben und deren laszive Lebensfreude und unreflektierte Frivolität bunte Farben in die formelle Strenge in den Köpfen der Dänenbuben geblasen haben. Aber so spezifisch The Standard auch ist, bietet es sozusagen eine standardisierte Insidererfahrung, und genau das mögen wir, da die Magazine uns die Seele gestohlen und durch Un Jardin sur le Nil von Hermès ersetzt haben.

Vor unserer Suite befindet sich ein kleiner Garten, mit weißen Vorhängen aus Segeltuch abgehängt und mit einer tiefen, freistehenden Badewanne versehen. Als ich die Wanne erblicke, und die Regendusche, die darüber montiert ist, herrscht Klarheit darüber, wo Lena die kommenden Tage verbringen wird: Ihre Lieblingsbeschäftigungen sind b) friedlich schlafen und c) ausgiebig baden, ein täglicher Vorgang, der von zwanghaftem internationalem Magazinkonsum begleitet wird. In der Zimmerbar gibt es neun Weine, zwölf Sorten Mineralwasser und eine Vielzahl exotischer Spirituosen, sogar einen passablen Sake gibt es, keinen Shizuku zwar, keinen Sato No Homare, aber immerhin 720ml Hakkaisan, es gibt einen Fotoapparat und eine Videokamera und Badeschlappen und Kondome und Liebesperlen und ein Megafon und einen Wikingerhelm und eine Leuchtsignalpistole und eine Kettensäge und Mozartkugeln und Toblerone und das in Deutschland weit unterschätzte, da in deutscher Übersetzung unverständliche Glamorama von Bret Ellis in einer schönen Taschenbuchausgabe.

Ich frage Lena, ob sie zum Pool mitkommen wird, und sie bringt mir schonend bei, dass sie keine Zeit für mich habe, da sie mehrere wichtige Termine im Spa wahrnehmen müsse, da sie, seit Wochen schon, was sie mir bisher verschwiegen habe, ein tiefes Bedürfnis in ihrem Herzen trage: „I yearn to experience the curative effects of water, steam and mud. I am looking for a restorative Chinese herbal mind-body experience. I aim to eliminate toxins while basking in the soothing aromas of cilantro, lemon-grass, lavender and eucalyptus. I intend to increase the penetration and activity of my white blood cells, enhancing my body’s natural defense against disease. I pine for the lush sensation of free-falling water in The Standard’s mood-lit circular shower dome, where a rotating selection of healing sounds from electronic nomads will change the way I think about singing in the shower forever. As cascades of steaming water charge the air with calming negative ions, I will trust The Standard’s heady mix of health and hedonism and anything but standard combination of multiple bodywork techniques, hot and cold applications, essential oils, red earth spirulina smoothing mud treatments and personal consultations to provide a highly individualized therapeutic massage experience. I want my face to be drenched with a blend of active botanical ingredients including soy phospholipids and Vitamins A, C and E that penetrate and hydrate deep levels of the epidermis. I want my face, neck and décolleté to be gently massaged with hot and cold dermal globes and my décolleté, chest and arms to be gingerly exfoliated with citrus lavender sea salts. I want a nourishing mask containing grape seed extract, wheat amino acids, fragrant essential oils and sea algae to be app-lied to my chest, neck, arms and ass. Moving on, I expect a regenerating anti-oxidant blast to use powerful bio-active organic botanicals such as kaolin clay, cucumber mousse and buttermilk body brûlé to oxygenate and hydrate, using the purifying and detoxifying power of the waning and new moon, while combining this physical reju-venation with a jojoba pearl dream interpretation consultation designed to explore the hidden insights that slumber under the deceptively calm surface of my mind.”

Während ich mich unter einer Palme auf einer frotteegepolsterten Sonnenliege niederlasse, und der salzige Wind der Lagune über mich hinwegweht, während ich eine Flasche des auf gute Weise schlechten Bieres der Marke Presidente ansetze, das ich im Vorbeigehen dem Eiskübel auf dem Pooltresen entnommen habe, nehme ich zur Kenntnis, dass ich für meinen ruhigen Tag an der Ostküste des Beckens einen suboptimalen Standort gewählt habe, da ein paar Liegen weiter ein Brite mit einer aerodynamischen Visage liegt, der unentwegt telefoniert, und dabei Konversationen führt, die vollständig aus Floskeln bestehen, im Zuge derer keinerlei konkrete Informationen übermittelt werden, also beispielsweise: „The thing is, there’s no way we can pass judgement right now, we’re gonna have to wait and see how things develop, observe closely and then gauge our reaction accordingly, quite carefully, do you understand? Like I’ve always said, and not that I believe this to be a particularly original argument, but I’ve always emphasized that things tend to be more complicated than they seem, and all things take time, and some things take longer than others, and in some cases obviously it is prudent to be proactive and to attempt to anticipate developments before they actually occur, while barring anything unforeseen on the other hand in most ca-ses it does pay to be patient, as I’ve found, especially in today’s volatile environment, especially given the paradigm shift we’re seeing today in many areas of our economy, society and even our culture, which obviously doesn’t mean there aren’t things that can be done to speed the process along” und so weiter, und das wäre vielleicht gerade noch zu ertragen, wenn er nicht jedes der Telefonate mit einem langgezogenen, sonor geschnarrten cheers beenden würde. Ich hasse das Wort cheers, das ist nicht übertrieben. Das Wort cheers breitet sich im Sprachgebrauch der Briten aus wie ein aggressives Virus: cheers für Hallo, cheers für Auf Wiedersehen, cheers für Viel Glück, cheers für Vielen Dank, cheers, um Übereinstimmung zu signalisieren und je weiter man sich in England von London entfernt, desto länger wird diese Auflistung, sodass zu befürchten ist, dass es irgendwo im Lande ein entlegenes Dorf gibt, in dem cheers bereits den finalen Sieg errungen hat und als einziges, endgültiges Wort geschrieben steht.

Mein Entschluss zur Flucht ist bereits gefasst, als die Freundin des Briten erscheint und der Telefonorgie in barschem Ton ein Ende setzt: „Put that fucking phone away, Gavin“, zischt sie, „or I swear to God I’ll eat your bony ass for breakfast!“, womit sie, hoffentlich unbewusst, eine anzügliche Zweideutigkeit von sich gibt, und ich höre Gavin schnarren: „Listen Shamus, I’ve got to run, you know how it is, but then again: how can we ever know?, we can only guess, try to approximate, I truly believe we’re on the same page in that respect, as in many others, anyway, I’ve got to run, you know how it is, don’t you, yeah? Cheeeeers” und er lässt sein iPhone schmunzelnd in seiner kleinen Herrentasche verschwinden.

Erleichtert winke ich einen der Poolkellner herbei, die allesamt wie Fußsoldaten eines kolumbianischen Drogenkartells aussehen, und vertiefe mich kurz darauf in die Speisekarte des Lido Restaurant, auf dessen hölzerner Terrasse man die gemächlich aus den Fluten der Lagune emporspringenden Delfine beobachten kann, während man sich eine mit Safran gewürzte Bouillabaisse servieren lässt, einen Sauteed Florida Gulf Snapper oder ein Sea Urchin Ceviche. Die Speisekarte des Lokals wurde von Eric Ripert entwickelt, der als Bürschlein in der Küche seines Elternhauses am Hafen von Antibes immer über den brodelnden Fischtopf seiner sanftmütigen Omi hinweg auf die Parade der einlaufenden Fischkutter hinaus blickte, sodass nicht verwunderlich ist, dass er in der Küche seines New Yorker Le Bernardin[16] rasch zum möglicherweise besten Fischkoch der Welt aufgestiegen ist, mit einer Bouillabaisse, die so perfekt ist, dass sie einen in einem sinnlichen Schockzustand zurücklässt, und auch die Bouillabaisse, die Ripert für das Lido formuliert hat, würde mich sehr interessieren, vielleicht heute Abend, denke ich mir, im Augenblick ist es für eine Suppe entschieden zu heiß, und nachdem ich mit dem Gedanken gespielt habe, mir die Mussels à la Grecque zu bestellen, in Ouzo gedämpft, mit Gurken und Knoblauch und gehackten Kräutern, entscheide ich mich dann doch für eine Vorspeisenportion Sea Urchin Ceviche, ich muss ein Kilo abnehmen, ich bestelle mir eine Flasche Brauneberger Juffer Sonnenuhr Riesling Spätlese Trocken 1990 von Fritz Haag.

Die eher einem Amuse-Bouche als einer Vorspeise entsprechende Portion Sea Urchin Ceviche schmeckt hervorragend, und nachdem ich meine Flasche Moselriesling geleert habe, befinde ich mich in der heißen Sonne in einem fiebrigen Schwebezustand, ich sehe bunte Papageien, die über weißen Mäusen kreisen, und noch eine Flasche wäre übertrieben und den Fritz Haag gibt es nicht glasweise, und daher bin ich so verwegen und bestelle mir ein Glas Rotwein[17], einen kühl servierten Crozes-Hermitage von Alain Graillot, und leere es und bestelle mir noch eins und denke mir: „Ich liebe Rotwein“ und schwebe über meiner Liege, und in diesem Moment kommt in meinem Fiebertraum meine Gefährtin Lena zum Vorschein, geräuschlos und scheinbar ohne Anstrengung zieht sie im Pool ihre Bahnen, im chlorfreien Wasser wie eine Robbe in ihrem Element. Sie ändert ihren Kurs, sie schwimmt in meine Richtung und am Beckenrand, mit dem Rücken zu einem spektakulären Sonnenuntergang, stützt sie ihr Gesicht auf ihre Hände. Ich kann mir nicht sicher sein, da alles verschwimmt, aber trotz der leeren Flasche spüre ich keinen tadelnden Blick, sie scheint nicht böse zu sein, sie scheint zu lächeln und wohlwollend zu sagen: Mach Du mal, mein Bürschilein.

[1] Von einem Betreiber von Gaspipelines in der texanischen Wüste entwickelte sich Enron in den 90er Jahren zum siebtgrößten Unternehmen der USA. Im Jahr 2000 stieg die Enron-Aktie um 89%, der Umsatz verdoppelte sich auf über 100 Milliarden Dollar. Analysten und Investoren waren begeistert, obwohl niemand genau verstand, wie Enron Geld verdiente. Einige Jahre zuvor hatte Enron begonnen, seine Anlagen abzustoßen, um sich immer mehr auf immer komplexere Handelsgeschäfte zu konzentrieren. Je abstrakter die Firma wurde, desto wertvoller wurde sie. Ihr Chef Jeff Skilling, ein ehemaliger McKinsey-Berater, hatte Enron in einen riesigen hedge fund verwandelt, der ominöserweise sogar mit dem Wetter handelte. Auf die Rückendeckung der alten Kollegen konnte er sich dabei verlassen: Der McKinsey Quarterly verkündete, „die Nützlichkeit von auf Substanz basierenden Strategien“ sei „im Schwinden begriffen.“ Im August 2001 trat Skilling zurück, „aus persönlichen Gründen“, wie er sagte. Kurz darauf trat Enron in den Sinkflug ein.

[2] Amerikanische Bundesanwälte dürfen nach einem hohen Sieg dieser Art auf lukrative Posten in der Privatwirtschaft hoffen: Stan Berkowitz beispielsweise, Direktor der Enron Task Force des Department of Justice, wechselte eine Woche nach der Urteilsverkündung für ein Jahresgehalt von 2 Millionen Dollar zu Latham & Watkins.

[3] „Wenn Menschen Skilling beschreiben, benutzen sie nicht einfach das Wort intelligent“, so Bethany McLean, „sondern unweigerlich Phrasen wie unfassbar brillant, oder der intelligenteste Mensch, den ich jemals gekannt habe.“ Doch für einen Menschen, der mit erhobenem Mittelfinger durchs Leben geht, besaß er letztlich nicht das erforderliche Maß an Mittelfingerspitzengefühl. Sein Antrag, während des Berufungsverfahrens auf freiem Fuß zu bleiben, wurde abgelehnt. Ihm wurde ein Platz in der Federal Correctional Institution Waseca zugewiesen, einem ehemaligen Campus der University of Minnesota, inmitten von Kornfeldern gelegen. Im Dezember 2006 hielten Skilling, der daran festhält, keine Gesetze verletzt zu haben, seine Frau Rebecca und sein Bruder Mark in einem Jeep Liberty in Waseca vor dem Gefängnistor. Seine Frau brachte ihn noch hinein.

[4] Viele Jahrzehnte lang, bevor es von Ian Schrager und Julian Schnabel für 200 Millionen Dollar renoviert wurde, gehörte das Hotel den vier Weissberg-Brüdern. Der jüngste, David, lebte mit seiner Frau Marilyn in einer Suite im siebten Stock. Er war in der Stadt für sein „$1000-a-day speedball habit“ bekannt. Eines Tages hatte Marilyn genug und packte ihre Koffer, um David zu verlassen. Er bat sie, mit ihm aufs Dach hinaufzufahren, an die frische Luft, um ihn ein letztes Mal anzuhören. Das tat sie, aber ihr Entschluss stand fest. Sie ließ ihn allein zurück. Sie fuhr mit dem Aufzug hinab und trat 18 Stockwerke tiefer auf die Straße hinaus, um sich ein Taxi herbei zu winken. David zog seine Halskette aus, an der er als Anhänger eine goldene Tafel der Zehn Gebote trug. Bevor er sprang, schloss er sie fest in seine Hand.

[5] J.G. Melon, 1291 Third Avenue at 74th street, Manhattan, NY, 10021, +1 (212) 744-0585. Aus dem Zagat: „A preppy UES crowd counts on this shady burger champ for cheap pub grub; rude staffers, jam-packed, worn digs and a cash-only policy are all part of the experience and all worth it for those unmatchable patties and cottage fries.”

[6] Julian Schnabel isst am liebsten Tafelspitz, verschmäht allerdings auch kein gutes Wiener Schnitzel. In Wall Street hängt ein Schnabel im Büro von Gordon Gekko. In der Öffentlichkeit trägt er anstelle von Kleidung alte Tischtücher, die er mit Sicherheitsnadeln zum Rock umfunktioniert. „Allein im Wasser zu sein, zu surfen“, schrieb er mit 36 in seine Autobiografie, schärft eine besondere Form der Konzentration, die Fähigkeit, mit dem Ozean in Übereinstimmung zu existieren, mit einer Kraft zu reagieren, die stärker ist als man selbst.“ El Schnabuloso, oder The Schnabe, wie er oft genannt wird, hätte gern Das Parfüm verfilmt, und hält Tom Tykwer, von dem er unter Qualen nur diesen einen Film gesehen hat, für einen indiskutablen Jämmerling. Wenn er traurig ist, trinkt er an einem Abend manchmal eine ganze Kiste Blaufränkisch.

[7] Kanoyama, 175 Second Avenue at 11th street, Manhattan, NY, 10003, +1 (212) 777 5266. Aus dem Zagat: „A seat at the sushi bar is a beautiful thing at this heavenly East Village Japanese where you can watch pristine fish that you’ve never heard of – Spring Child Snapper from the Barents Sea, for example – get lovingly sliced and expertly rolled while guzzling a $14 bottle of mind-boggling Hitachino Nest Beer.”

[8] Diese Reportage entstand im Dezember 2007, da gab es Bear, Stearns noch; jetzt nicht mehr.

[9] Wein ist ein Kind der Sonne, und Sake ist ein Kind der Erde, des Reises, des klaren Quellwassers. Das weiß die Brauerei Sudo Honke in der Präfektur Ibaraki schon seit dem Jahr 1146, als die Vorfahren des Braumeisters Hiroshi Yasuda zum ersten Mal einen Eimer des glasklaren „ewigen Wassers“ aus der von Samurai bewachten Felsspalte unter den Keyaki inmitten ihrer weitläufigen Ländereien nahe Edo zutage förderten. In diesen Tagen des dunklen Nebels begann eine Odyssee der Verfeinerung, die heute, 55 Generationen später, in der Vollendung des Sato No Homare Junmai Daiginjo gipfelt: Noten von Zedernrinde, hawaiianischem Regenwasser, Nashibirne und weißen Blumen vereinen sich mit einem Anflug von Süße und der viskuosen Textur einer Trockenbeerenauslese zu einem sensorischen Tsunami, der allenfalls mit dem Minuten währenden Ausklang des in einem Iglo auf der Insel Hokkaido gebrauten Yuki No Bosha („Wallung der Geisha“) zu vergleichen ist.

[10] Manitoba’s, 99 Avenue B (between 6th and 7th streets), Manhattan, NY, 10009, +1 (212) 982 2511; aus dem Zagat: „Just right for the neighborhood, this real deal East Village barroom is owned (and occasionally manned) by Dictators front man ‘Handsome Dick’ Manitoba, the ‘king of men’; there’s no trendy garbage at this hard core biker hangout, just cheap beer, vintage rock photos and Blondie and the Ramones on the jukebox.”

[11] Wieder in Berlin, wird mir bei der Lektüre der Monocle klar, dass ich Montreal Unrecht getan habe, der Monocle zufolge ist Montreal eine ganz hervorragende Stadt, und dabei auch noch preiswert, „a laid-back bilingual city where the good life comes at a bargain price. Call it Gallic insouciance or separatist stubbornness, but Montréal, Canada’s second-largest city, throws French flair and style at North America’s utilitarian urbanity. Montréal’s distinctive cultural mix, fine architecture and liberal sensibility has made it Canada’s most desirable city (though Vancouverites may say otherwise). Its boulevards are lined with cafés, bars, quirky boutiques and, yes, phenomenally raunchy strip clubs. With more than 100.000 students, Montréal is both laid-back und full of a youthful vigor for the things which its inhabitants find truly interesting – such as Québécois music, French-language films and adult entertainment.”

[12] Club Wanda’s, 1458 Blvd. De La Montagne, Montreal, QC, +1 (514) 842 8825, täglich von 14:00 bis 6:00.

[13] Seit es in New York an fast jeder Ecke eine Filiale der Saftkette Jamba Juice gibt, habe ich mir angewöhnt, täglich einen double wheatgrass shot und einen in der Größe large 900ml fassenden Becher frisch gepressten apple, grapefruit, carrot, beetroot and celery juice zu trinken, und werde daher immer gesünder. Der Name „Jamba“ kommt einerseits von der in Westafrika verbreiteten Frucht Jambu, die von Shamanen geschätzt wird, andererseits von dem im Dialekt Umbundu wichtigen Wort „Jama“, das „feiern“ heißt, aber auch als „das Fest der Pflege von Körper und Geist“ übersetzt werden kann. Was die beauftragte Agentur bei der Taufe der Saftkette offenbar übersehen hat: „Jamba“ heißt auf Swahili „furzen“.

[14] Das grüne Zaubergras hilft gegen Verstopfung und Haarausfall, beugt Demenz und Herzkrankheiten vor, entgiftet und erhöht die Leistungsfähigkeit von Körper und Geist. In den 30er Jahren begann der Chemiker Charles Schnabel, ein Ahne Julian Schnabels, intensiv mit dem Grünen Gold zu experimentieren. Er verfütterte die Halme am im Sterben liegende Legehennen, die sich rasch wieder bester Gesundheit erfreuten und ihre Legefrequenz in der Regel auch mehr als verdoppelten, was insbesondere für Helmut Lang von Interesse sein dürfte, der sich nach dem Verkauf seines Modelabels nach East Hampton zurückgezogen hat, um in Ruhe das Butt Magazine zu lesen, aber auch, um mehr Zeit für seine geliebten oberösterreichischen Legehennen zu haben. In seinen long island diaries protokolliert Lang genau die Legefrequenz jeder einzelnen dieser gefiederten Grazien, um aus den resultierenden statistischen Daten abstrakte Kunst zu machen.

[15] The Standard, 40 Island Avenue, Miami Beach, FL, 33139; Phone +1 (305) 673-1717; Spa: +1 (305) 704-3945

[16] Le Bernardin, 155 West 51st street, between 6th & 7th Avenues, Manhattan, NY, 10019; +1 (212) 554 1515. Aus der Kritik von Frank Bruni in der New York Times vom 16.03.2005: „You can absentmindedly polish off an appetizer of barely poached lobster in a broth of butter, Champagne and chives and know that you are eating something good. Or you can pause, ponder and realize that you are eating something with an exquisite balance of colors, shapes and flavors. The amorphous clumps of sweet white lobster meat sit atop coin-shaped bits of mango, which are orange and slightly acidic, and below rectangles of avocado, which are green and vaguely unctuous. The full epicurean appeal of the dish reveals itself only upon close scrutiny.”

[17] Julian Schnabel sagt: „Nobody knows better than you what you need to do, even if you don’t know what you’re doing.“