Vom Gehen

von 
Feuilleton
zitiert nach: Hans Bender [Hrsg]: Klassiker des Feuilletons, Stuttgart 1967. S. 100-105.

Der Arzt sagt mir: „Sie gehen zuwenig, da schläft Ihnen ja das Blut ein. Natürlich legt es sich dann schwer auf das Gemüt. Sie müssen mehr gehen. Jeden Tag sollen Sie doch eine Stunde, besser zwei, bei jedem Wetter spazieren. Sonst fehlt Ihnen gar nichts. Statt Zigaretten rauchend auf dem Sofa Fragen der Kunst zu betrachten, tun Sie es doch lieber draußen peripatetisch.“ Was bleibt mir übrig? Wenn man Doktoren nicht folgen will, malen sie einem gleich solche Höllenstrafen vor, daß man sich lieber in jede Verordnung zu willigen bequemt. Und so kann man mich jetzt gegen meine sonstige, lieber sitzende, meditativ herumliegende Art fleißig in unserer lieben Stadt spazieren sehen, getreu mein Pensum abgehend, ganz wie der Vater Horaz sich gerne schildert, behaglich schlendernd, Schwänke im Sinn, ohne Plan. Erst habe ich mich wohl gelangweilt, bald ist es mir lustig geworden, und ich bin auf allerhand Gedanken gekommen; hurtig sind sie mir über den Weg gelaufen. Nun habe ich erst, seit ich um des Gehens willen gehe, begreifen gelernt, was das Gehen ist. Man glaubt gar nicht, wie eine Sache ganz anders ausschaut, wenn man sie nicht als bloßes Mittel behandelt, dann tut sie erst ihr Wesen auf, gibt ihren Sinn her und läßt ihre heimliche Schönheit sehen.

Selten ist es ja, daß jemand geht, um zu gehen. Immer soll es einem Zwecke dienen, wir wollen irgendwohin gelangen; dazu ist es ein Mittel; man läßt die Füße es besorgen, mit dem Kopf sind wir nicht dabei. Wer jedoch gezwungen ist, es für sich zu betreiben, wird erst die Bedeutung gewahr, die in ihm liegt. Und er wird wieder inne, daß gemeine und tägliche Verrichtungen selbst, die wir unnachdenklich üben, die größten Wunder enthalten.

Das Gehen scheint aus dem Tiefsten des Menschen zu kommen. Was hinter allen Taten oder Worten im Grunde eines Menschen liegt, was er sonst verhehlt, was er kaum vor sich selber bekennen mag, wird im Gange vernehmlich. Der Gang ist ein Verräter unserer Essenz. Unsere Mienen beherrschen wir, mit Worten verdecken wir uns, am ganzen Leibe haben wir heucheln gelernt; nur den Gang zu verstellen denkt niemand. Im Gehen wird der größte Lügner wahr. Was einer kaum selbst von sich weiß, so tief ist es, können alle an seinem Gange sehen. Ja, der Gang scheint eine besondere, Gedanken schaffende, Gefühle wirkende Kraft in sich zu tragen: Er kann Trauer bannen, Leidenschaft mäßigen, Würde geben. Man zwinge einen Zornigen zu langsamen, bedächtigen Schritten; andantino soll er uns seine Wut erzählen. Die aufheiternde Kraft des Tanzes beruht darin, daß er uns die Stimmung der Füße über den Kopf Wachsen läßt. Das ist auch die Macht der Trommel: Sie nimmt beim Marschieren die Laune des einzelnen Soldaten aus seinen Schritten weg, erteilt ihnen dafür das allgemeine Tempo, und so uniformiert sie die Gemüter. Jemandem einen Schritt geben, heißt ihn in eine Stimmung bringen. Jeder kann das selber an sich versuchen. Ich habe es zufällig gefunden. Gelangweilt, so ohne Zweck nach der Uhr zu gehen, habe ich angefangen, mich mit den Beinen zu amüsieren, indem ich zur Unterhaltung versuchte, meine Schritte absichtlich zu ändern. Ich habe mich erinnert, wie Freunde von mir gehen, und es nachgeahmt. Wer das tut und sich dabei zu beobachten nicht unterläßt, wird gewahr, wie mit jeder Veränderung des Ganges auch alle Gedanken, Gefühle und Stimmungen sich verändern; ja, man kann die Gewalt des Ganges bis in die Miene verfolgen, die jede Veränderung des Schrittes annimmt. Es gibt eine Art, die Füße frohlockend, selbstbewußt und befehlend aufzusetzen, zu der man kein bescheidenes oder niedergeschlagenes Gesicht machen kann. Man mag noch so niedergeschlagen und traurig sein, wenn einem etwas die Beine in einen heiteren Gang bringt, wird aus der Miene jeder Gram sofort entweichen; sie kann nicht widerstehen. Wie der Fuß den Takt schlägt, müssen die Augen tanzen. Wenn es gelingt, den Gang eines anderen genau zu kopieren, der nimmt unwillkürlich seine Art, sich zu halten, und den ganzen Ausdruck seines Antlitzes an. Ja, er nimmt für diese Zeit auch seine innere Art, sein Denken und sein Fühlen an. Wenn ich gehe, wie ein anderer geht, und es zeigt sich, daß damit meine Miene von selbst einen anderen Ausdruck bekommt, der dem Ausdrucke jenes anderen gleicht, und es zeigt sich ferner, daß zugleich auch meine Seele andere Stimmungen bekommt, so darf ich wohl denken, daß es eben die Stimmungen jenes anderen sind. Und so wäre ein Mittel da, in die Geheimnisse der Seelen zu schlüpfen.

Die Folgen sind leicht zu ziehen. Man kann diese Erfahrung zur Psychologie verwenden, man kann sie ethisch benutzen und man kann sie dem Künstler, besonders dem Schauspieler, empfehlen. Unsere Kenntnis von den Menschen wird es fördern, wenn wir uns gewöhnen, ihren Gang zu betrachten, bei uns nachzuahmen und zu belauschen, welche Veränderungen sich dabei in unseren Stimmungen regen. Geschickte Kopisten, die es zugleich verstehen, sich zu beobachten, könnten Material liefern; diesem Gange gehört dieses Gefühl an, solche Schritte bringen solche Stimmungen mit, jener große Mann von jener besonderen Art hat jenen besonderen Gang; Klassen wären abzuleiten, so könnte man zu einem System gelangen. Es gibt eine Physiognomik, es gibt eine Graphologie, aus den Mienen und aus den Händen sucht man die Seelen zu lesen; warum soll uns eine Lehre vom Gange fehlen? In den Dienst der moralischen Kraft könnte man sie stellen; da müßte sie helfen. Oft beklagen wir, mit allen guten Wünschen und ernstlichen Vorsätzen über Launen und Trübungen des Gemütes nicht Herr zu werden; wir entschließen uns, dem darfst du dich nicht so hingeben, aber es nützt nichts, es überwächst uns doch; oft wollen wir uns nicht entmutigen lassen, und doch sinken uns die Flügel herab. Die abstrakten Mahnungen und bloßen Ansprachen unserer Vernunft sind eben nicht stark genug. Würden wir sie jedoch in unsere Füße leiten, so hätten sie eine helfende Gewalt gewonnen. Wir dürfen uns nicht genügen zu sagen: Sei getrost und fasse dich; sondern wir wollen uns dazu erziehen, daß wir wissen, welcher Gang tröstend, anfassend und bestärkend ist, und es in der Übung haben, ihn anzuwenden. Für jeden besonderen Fall müßte der Hygiene des Gemütes ein besonderer Gang zugewiesen werden. Unsere edle Sprache, die tiefer denkt, als ein Mensch ahnen kann, und die Summe aller Weisheiten birgt, scheint das anzudeuten, wenn sie sagt: Kopf hoch! Dem Heben des Kopfes entspricht ein tapferer und aufrechter, auf den Fersen ruhender Gang, der schon alle Traurigkeit vertreiben wird. Musik, diese Königin der Füße, könnte so walten; wer neue Gefühle in die Menschheit bringen will, würde damit beginnen, neue Tänze anzustimmen. Besonders aber sollten die Schauspieler es achten. Man müßte sie lehren, daß jeder Gestalt ihr eigener Gang zukommt. Sie müßten trachten, aus jedem Wesen den Gang zu holen, der ihm gebührt; ihn müßten sie vor allem suchen, wenn sie daran sind, eine Figur zu schaffen. Wie sie sich jetzt zuerst um die richtige Maske bemühen, die aber dann oft auf einem ganz anders gehenden Leibe sitzt, so wären sie dann zuerst um den richtigen Gang besorgt, der von selber aus sich Haltung, Miene und Ton bestimmen würde. Alle sind einig, daß der Schauspieler gestalten muß; aus ihm sollen die Gedanken des Dichters Fleisch und Bein annehmen. Aber wie mag er das beginnen? Es hat eine Zeit gegeben, Lavater hat sie verschuldet, wo die Schauspieler an den Menschen nur die Nase betrachteten; durch charakteristische Nasen zu wirken, eiferten sie um die Wette. Hatte einer nur einmal die Nase seiner Rolle gefunden, um den Rest war ihm nicht bange; das andere fügte sich leicht an. Bald wurden jedoch diese zu starren Masken beschwerlich; mit den so beweglichen, veränderlichen Rollen der modernen Stücke, die es vermeiden, fertige Menschen zu bringen, sondern uns vorführen wollen, wie die Seelen werden, wachsen und wechseln, konnten sie sich nicht vertragen, dazu waren sie nicht geschmeidig und behende genug. Die „guten Masken“ kommen in Verruf; den Ton der Rolle sucht man jetzt. Es wird Mode, ungeschminkt mit seiner natürlichen Miene zu spielen; ja den Bart lassen sich manche wachsen. Nur die Stimme soll charakterisieren. Warum ist niemand noch weitergegangen und auf den Gedanken gekommen, mit dem Gange zu charakterisieren! Wie muß Claudius, wie muß Hamlet gehen? Könnte man nicht schon im Gange den ganzen Claudius, den ganzen Hamlet zeigen? Dieses Experiment möchte ich den Schauspielern empfehlen, aber es scheint, daß sie eben auch zuwenig spazierengehen.