Was machen: Ingo Niermann

Interview
zuerst erschienen im Oktober 2011 auf Minusvisionen.de
Der Akt des Bogenspannens ist stets mit viel Anstrengung verbunden, dennoch umfasst das erste Interview mit Ingo Niermann Vergangenheit, Gegenwart und natürlich die Zukunft. Die Diskussion eines spezifischen Themas ist hier der notwendigen Überleitung in einen neuen Abschnitt Minusvisionen gewichen. Danach kommen in monatlich erscheinenden Gesprächen andere zu Wort, die hier noch nicht zu lesen waren.

2003 ist dein Buch „Minusvisionen“ erscheinen. Im Titel fiel mir stets die Bezeichnung „Protokolle“ auf. Das gleiche gilt auch für dein Buch „China ruft dich“. In einigen Rezensionen zu Minusvisionen fällt dementsprechend der Vergleich zu den „Bottroper Protokollen“. Doch bestimmte auch die Vermittlung von Authentizität deine Arbeit, oder die Schilderung von verschiedenen biografischen Verläufen (im Sinne von Protokoll)?

Biographische Abläufe, ja. Das auch auf Kosten der Authentizität, da ich die Aussagen der Interviewten recht chronologisch sortiert und meine Zwischenfragen weggelassen habe. Wenn Authentizität, dann in dem Sinne, dass ich dem Gesprochenen nichts hinzugefügt habe, nur etwas weggenommen und umgestellt habe. Mich hat interessiert: Wie wird gesprochen und wie kann ich das mit möglichst geringen Eingriffen in einen lesbaren, spannenden Text verwandeln? Das war ein literarischer und kein journalistischer Ansatz. Auch, dass ich das mir Erzählte bis auf seine Konsistenz nicht verifiziert habe.

Warum Scheitern?

Es häuften sich in meinem persönlichen Umfeld Fälle unternehmerischen Scheiterns. Allen gemein war, dass die der Betriebswirtschaftslehre nach jedem unternehmerischen Tun zugrunde liegende Absicht, einen finanziellen Gewinn zu erzielen, nicht so sehr im Vordergrund gestanden hatte. Konnte man dann überhaupt von Scheitern sprechen? Lag der Erfolg nicht schon darin, ein Unternehmen gegen jede Effizienz-Logik an den Start gebracht zu haben?

Zum Buch ist das gleichnamige Blog online gegangen. War das eigentlich deine Idee? Zu diesem Zeitpunkt war das Phänomen bekanntlich noch recht jung.

Der Blog – oder damals auch gerne noch: Weblog – zum Buch war die Idee von Alexander Wolf, der zu der Zeit bereits einen Blog unterhielt, und Jens Thiel. Ich war einige Jahre zuvor schon einmal bei Am Pool dabei, einem von Sven Lager und Elke Naters um die Jahrtausendwende – heute würde man sagen – kuratierten Blog. Das Wort Blog oder Weblog war damals aber noch gar nicht geläufig, vielleicht auch noch gar nicht existent.

Welche Erwartungen hattest du an diesen Blog?

Der Blog sollte allen Interviewten und mir die Möglichkeit geben, ihr Leben und ihre Einstellungen zu ökonomischen Fragen im weitesten Sinne über das Buch hinaus weiterzuerzählen. Ich habe mir keine Illusionen gemacht, dass sich das letztlich nicht auf wenige der insgesamt dreizehn Interviewten reduzieren würde. Bei Am Pool waren sicherlich an die zwanzig Autoren registriert, die fast alle auch anderweitig veröffentlichten, und das hat die Sache bald erlahmen lassen. Wer viel postete, schien es nötiger zu haben als die anderen. Am Pool war wie ein sozialistischer Facebook-Stream: Jedem ist alles zugänglich, es gibt kein ‚Home‘. Bis auf ein, zwei Ausnahmen haben auf Minusvisionen letztlich nur Alexander Wolf, Jens Thiel und ich gepostet. Da Alexander bereits einen eigenen Blog unterhielt und mir es schwerfällt, einfach mal etwas zu schreiben und zu veröffentlichen, war es schließlich vor allem Jens. Was er gemacht hat, könnte man ein persönliches Feuilleton nennen. Er hat es verstanden, durch regelmäßige pointierte Postings und das gegenseitige Verlinken mit anderen Blogs schnell für eine gewisse Aufmerksamkeit zu sorgen. Keine Ahnung, was für Klickzahlen das waren und wie hoch die Zahl der Abonnenten war, die sich über jedes neue Posting informieren ließen. Irgendwann hat Jens das Interesse verloren. Wir hatten früher schon mehrfach die Idee gehabt, einen Gast einzuladen, sie aber nie ernsthaft verfolgt. Bis wir dann dich gefragt fragen.

Warum haben sich Blogs zu Büchern trotz einzelner Beispiele nicht durchgesetzt?

Das Buch ist geschrieben, was soll dann noch der Blog? Da unterschied sich unser Blog, weil hier die Protagonisten schrieben, nicht der Autor. Harald Staun schrieb damals in der FAS: „Es ist das Buch, das hier spricht, nicht der Autor. Und obwohl sich auch Niermann selbst gelegentlich zu Wort meldet, sind es in erster Linie die Protagonisten aus ‚Minusvisionen‘, die antreten, um das Buch gegen seine Kritiker zu verteidigen. Denn ‚unser mikroökonomisches Feuilleton‘, so der Untertitel der Seite, dient nicht nur als Forum für blog-typische Fundstücke über die Banalitäten des Alltags und literarische Miniaturen, sondern vor allem als erste Anlaufstelle für Rezensionen des Buches und deren Erwiderung. Und wer weiß: Vielleicht schließt sich der Kreis, wenn irgendwann alle Kritiker kritisiert worden sind und aus den Diskussionen unter den Hauptfiguren genug Ideen für ein neues Buch hervorgegangen sind.“ Harald Stauns Prophezeiung sollte sich erfüllen. Ende 2006 habe ich gemeinsam mit Jens Thiel den Förderverein „Die Freunde der Großen Pyramide“ gegründet, um meine Idee einer allmählich wachsenden Grabstätte für potentiell alle Menschen der Welt zu konkretisieren und zu bewerben (www.diegrossepyramide.de). 2008 erschien das von uns beiden herausgegebene, die Solution-Buchreihe begründende Buch „Solution 9: The Great Pyramid“. Kurz darauf überwarfen wir uns und Jens trat aus dem Verein aus.

Warum habt ihr euch damals für das „Deutsche Weltwunder“ entschieden?

Du meinst, es als eine der zehn Ideen aus Umbauland zu realisieren?

Ja.

Weil es die konkreteste ist und durch die Initiative weniger Menschen Wirklichkeit werden könnte.

Nachdem „Die Große Pyramide“ 2007 mit dem Pyramidenfest in Streetz/Natho und 2008 mit der Pyramiden-Gala in Berlin zwei Höhepunkte gefunden hatte, war ich sehr überrascht, dass die Idee in der Dokumentation mit Erik Niedling „The Future of Art“ nochmals aufgegriffen wurde. Ist TFoA aus der Pyramiden-Erfahrung entstanden, oder gab es zunächst ein grundlegendes Interesse, Künstler zu ihrem Schaffen zu interviewen.

„The Future of Art“ war nicht als Fortsetzung gedacht. Die Serie schließt eher an meine beiden Protokoll- und Interviewbände „Minusvisionen“ und „China ruft dich“ an. Nur dass ich diesmal nicht nur Fragender, sondern auch selbst Akteur sein sollte. Ich hatte, als wir zu drehen begonnen haben, noch keine Ahnung, dass das Kunstwerk der Zukunft, das ich entwickeln würde, wieder eine Pyramide sein würde.

Wie hast du die Rolle als Akteur empfunden?

Mir war gleich klar: Das ist nicht wirklich mein Ding, wird es wahrscheinlich auch nie sein. Aber ich habe es als Mutprobe begriffen und mir, um besser in die Rolle zu schlüpfen, gemeinsam mit Erik eine – wenigstens für die, die mich nicht kennen – möglichst unauffällige Uniform zugelegt: einen legeren dunkelblauen Sommeranzug, ein offenes weißes Hemd und braune Desert Boots. Typische Kleidung für einen semi-kreativen Akademiker.

Nach den ersten Clips zu „The Future of Art“ habe ich mich mit einem Freund darüber unterhalten, der sich sehr enttäuscht gezeigt hatte, dass in den Gesprächen Zustände aufbereitet werden und die Frage, worin die Zukunft der Kunst liege nicht deutlich genug diskutiert wurde. Wie siehst du diese Reaktion?

Das liegt an dem allgemeinen Unvermögen oder Unwillen, die Zukunft zu denken. Gerade in der Kunst, die sich doch noch vor hundert Jahren überhaupt nur über ihre Zukünftigkeit definiert hat, ist heute immer nur von „art now“, höchstens noch „art of tomorrow“ die Rede. Erik und ich haben „The Future of Art“ gemacht, gerade weil uns das an der derzeitigen Kunst schrecklich langweilt. Bevor wir aber versucht haben, dass zu ändern, wollten wir uns die gegenwärtige Kunstwelt und ihre Gesetzmäßigkeiten zuerst systematisch vergegenwärtigen. Soviel Langeweile muss sein. Das ist wie in der Schule, wo man eine Sprache, die man schon ein wenig beherrscht, trotzdem noch einmal von Grund auf lernt.

Sozusagen Langeweile als Chance?

Nein, Gründlichkeit. Wenn man das große Ziel vor Augen hat, ist das überhaupt nicht langweilig. Erik etwa, seit zehn Jahren selber Künstler, war von vielen Interviews regelrecht berauscht, weil er schon gemerkt hat, dass er am Ende des Drehs ein anderer Künstler sein würde. Aber vielleicht braucht man dafür auch die Langfassungen der Interviews, die wir jetzt mit dem Buch-DVD-Paket „The Future of Art“ (Sternberg Press) nachreichen.

Wenn sich die Kunst vor noch hundert Jahren über ihre Zukünftigkeit definiert hat - sei es im Futurismus oder innerhalb anderer Avantgardeströmungen-, warum herrscht heute in der Kunst die Prämisse „art now“ bzw. „art of tomorrow“?

Das ist es etwas, dass ich erst durch das Projekt verstanden habe, aber das ist nicht ganz einfach. Im Buch versuche ich es in einem sehr kompakten, aber eben immer noch zehnseitigen Essay, „A Brief (Art) History of the Twenty-first Century“, den bitte lesen.

Lähmt eine Übermacht des Archivs auch den Sinn für die Zukunft der Kunst? Die Frage wird bekanntlich in Bezug auf Popmusik diskutiert.

Ja, das Archivieren gerade der Avantgardeströmungen des 20. Jahrhunderts – nicht nur der Kunst selbst – ist in der Kunst ein großes Thema und in der Regel sehr nostalgisch. Ich habe aber gar nicht versucht, mich dem entgegenzustemmen, sondern eben dieses Archivieren – und, was in der Kunst noch hinzukommt: Konservieren – so zu radikalisieren, dass eben daraus ein zukunftsträchtiges, auch in hundert Jahren noch als epochal verstandenes Kunstwerk erwachsen kann.

Welche Erfahrung hat dazu beigetragen, dass die Rolle des Sammlers eine Möglichkeit bereitstellt, das Kunstwerk der Zukunft zu realisieren?

Mir tun, auch wenn es der generellen öffentlichen Wahrnehmung widerspricht, Sammler eher leid. Künstlern, Galeristen und Kuratoren gelten sie als mehr oder weniger nervige Dilettanten, die aber leider nun mal das Geld haben. Dafür, dessen ist man sich sicher, haben sie in der Kunstgeschichte nichts verloren. Das möchte ich ändern. Ein Sammler soll das größte Grabmal aller Zeiten erhalten – um dann mit ihm zu verschwinden. Den Pyramidenberg.

Gibt es diesen Sammler schon?

Ja, es ist Erik. Wieder etwas, das nicht geplant war und sich erst ergab, als der Film schon abgedreht war. Erik begreift sich in seiner Kunst ganz stark als Sammler, als Archivar. Leider ist er nur nicht so reich, dass er den Pyramidenberg aus eigenen Mitteln realisieren könnte. Es sieht ganz so aus, als müsste nun wiederum ein Sammler gefunden werden, der von ihm den Pyramidenberg mitsamt seiner Grabkammer erwirbt.

Welchem Sammler würdest du neben Erik ein solches Grabmal wünschen?

Eben gerade darum geht es nicht. Das kann, wie auch schon in der Großen Pyramide, auch ein Massenmörder oder ein Pädophiler sein. Das spielt für mich überhaupt keine Rolle. Es gibt für mich keinen Menschen auf der Welt und hat es nie gegeben, der ein besonderes Monument verdient hätte. So wie die Große Pyramide möglichst unbegrenzt menschliche Überreste aufnehmen und wachsen soll, so ist auch der Pyramidenberg unlimitiert. Ich habe Erik den ersten – als Konzept – geschenkt, weil er ihn gut brauchen kann und ich darum trotz seiner noch fehlenden finanziellen Mittel die Chance sehe, dass er ihn realisiert. Aber nicht, weil ich denke, dass Erik ein besonders großartiger Mensch ist. Das ist nicht der Grund.

Welches Projekt verfolgst du als nächstes?

Ich arbeite mit Erik an der Gestaltung seiner Grabkammer. Dafür lebt er ein Jahr lang, als sei es sein letztes. Zu sehen ist der Entwurf ab Juni 2012 im Neuen Museum Weimar. Und ich schreibe einen neuen Roman.