Wehe, wehe, du Wind

Essay
2008

Westwärts schweift der Blick:
ostwärts streicht das Schiff.
Frisch weht der Wind
der Heimat zu:
mein irisch Kind,
wo weilest du?
Sind’s deiner Seufzer Wehen,
die mir die Segel blähen?
Wehe, wehe, du Wind!
Weh, ach wehe, mein Kind!
Irische Maid,
du wilde, minnige Maid!

(Richard Wagner, Lied eines jungen Seemanns)

Eine einfache Situation. Ein Reisender steht an der Reling und blickt zurück. Sein Schiff fährt nach Osten, in die Heimat. In der Fremde, im Westen, lässt er ein Mädchen zurück. Er denkt an sie, aber sie noch mehr an ihn. Ihre Seufzer sind es, die er im Wind spürt, der ihm entgegenbläst und der sein Schiff in Fahrt setzt. Für dieses Bild findet Wagner eine schöne Entsprechung im Doppelsinn des Wortes „Wehe“. „Wehe, du Wind“ – „ach wehe, mein Kind“. Der Reisende trauert nicht um das irische Kind, er sorgt sich um ihre Trauer. (Als „Kind“ hat Wagner während der Entstehung des „Tristan“ seine Geliebte Mathilde Wesendonck angesprochen.) Und er beruhigt sich, wie Wagner sich oft beruhigte, indem er ihre Kraft beschwört: „Wild“ sei sie. Und „minnig“.

Mit diesem Lied beginnt der „Tristan“. Nicht mit einer dramatischen Szene, sondern mit diesem der Schwermut selbstbewusst trotzenden Lied eines „jungen Seemanns“, wie wir aus dem Programmzettel erfahren. Wir sehen ihn nicht. Wir sehen, „auf dem Vorderdeck eines Seeschiffes“, Isolde, „das Gesicht in die Kissen gedrückt“. Sie hört den Gesang und bezieht ihn auf sich: „Wer wagt mich zu höhnen?“ Jetzt sind wir mitten im Stück. Warum glaubt sie sich verhöhnt? Erst später wird es sich aufklären. Auch sie war einst eine irische Maid, zurückgelassen von dem Mann, den sie liebte. Tristan hatte ihren Verlobten erschlagen, sich in diesem Kampf jedoch tödlich an dessen Schwert verletzt, das Isolde vergiftet hatte. Nur sie kennt das Gegengift, und deswegen begibt er sich in ihre Hände, die Hände der Feindin. Sie könnte ihn töten und tut es nicht, weil sie ihn liebt. Geheilt fährt er zurück nach Osten, nach Cornwall, und kommt erst wieder, um sie als Braut mit sich zu nehmen – nicht als die seine, sondern als die seines Herrn, des Königs Marke. Welche Verhöhnung.

Der junge Seemann beginnt mit einer objektiven Skizze der Situation: westwärts der Blick, ostwärts das Schiff. Erst dann hebt sein eigentliches Lied an, mit der Pointe von der Seufzer Wehen, die die Segel blähen (ein gelungener Reim, wenn man ihn sich aus dem Mund des Sachsen Wagner vorstellt). Und es ist ja was dran: die Umklammerung der Frau hat schon manchen Mann ostwärts getrieben. Diesen jungen Seemann sicherlich, der nur auf einen kurzen Flirt aus war, während das Schiff neu beladen wurde. Und Tristan? Erwiderte er Isoldes Liebe schon in Irland? Dann hätten sie statt des Liebestranks auch Wasser trinken können, wie Thomas Mann meint.

In der Tarnung des harmlosen Seemannslieds, das T. S. Eliot im „Waste Land“ in deutscher Sprache zitieren wird, lässt Wagner das große Drama anklingen, das den Zuschauer erwartet. Der Seemann und seine irische Maid sind Masetto und Zerlina aus „Don Giovanni“, Sosias und Charis aus „Amphitryon“ – das niedrige Paar der Commedia dell’arte, das stellvertretend für die hohen Herrschaften deren Konflikte löst, ökonomischer im Aufwand an Zeit und Gefühl. Und wie das Lied das Musikdrama vorwegnimmt, nehmen die ersten beiden Verse – durch den Doppelpunkt in scheinbar schicksalhaften Zusammenhang gestellt – das Lied vorweg. „Westwärts schweift der Blick: ostwärts streicht das Schiff.“ Handelt nicht der ganze Tristan davon? Dass Herz und Weltlauf in entgegengesetzte Himmelsrichtungen treiben?