Wie wu bist du wirklich?

von 
Portrait
zuerst erschienen am 10. Juli 2004 in Süddeutsche Zeitung
Folge mir in eine neue, vergangene Welt, mein Freund, in eine Welt, wo Schröders Nase aussehen kann wie Nixons Mund: Auf das einzige Deutschlandkonzert des „Wu-Tang Clan” in Berlin

Komm her, Fremder, und schau dich um. Lass dir Zeit, und dann frage dich: Bist du zufrieden mit der Welt? Geht es dir gut? Willst du auswandern, weißt aber nicht wohin? Suchst du Antworten auf die Fragen, die deine Seele im Innersten bewegen?

Dann solltest du dich auf die alten Tugenden besinnen, mein Freund. Du solltest in die Lehre gehen, und der Ort deiner Lehre ist heute die Columbia-Halle in Berlin. Folge mir durch die anderen. Es sind viele, ein paar Tausend bestimmt, groß und stark und jung. Geh hin und such dir ein T-Shirt aus, ein schönes großes schwarzes T-Shirt mit einer silbernen Fledermaus in Form eines W auf der Brust. Das ist unser Zeichen, das Zeichen des Wu. Was das Wu ist?

Das Wu kam Anfang der neunziger Jahre in die Welt, zu einer Zeit, als nicht viel passierte im Reich des Hiphop. Wie ein träges altes Chevy-Cabriolet rollte er an der Westküste Amerikas herum, ohne je anzukommen. Es ging um Gangster und Zuhälter und Huren und Junkies, eigentlich keine schlechten Themen, aber leider waren es auch Gangster, Zuhälter, Huren und Junkies, die davon erzählten, und sie gaben sich nur solange Mühe, bis Geld ins Spiel kam. Dann zeigte sich, dass sie nie etwas anderes als Gangster, Zuhälter, Huren und Junkies sein würden. Es war also Zeit, den Hiphop zu retten. Es war Zeit für eine neue Zeit. Es war Zeit für das Wu.

Was das Wu ist, mein Schüler? Nicht so ungeduldig.

Komm nah an die Bühne und bete mit uns. Halte deine geöffneten Handflächen hoch und lass die Daumen sich sanft an den Kuppen berühren, forme ein W, forme das Wu.

Denn jetzt kommen sie. Eigentlich sind es neun schwarze Jünger von der Ostküste, aus Staten Island, New York. Aber wenn sie unterwegs sind, weiß man nie genau, wie viele dabei sind, weil mindestens einer immer im Gefängnis sitzt, meist der, den sie Ol’ Dirty Bastard nennen. Der fehlt auch heute. Das ist aber nicht schlimm, denn sieben sind gekommen: Raekwon, U-God und Masta Killa, Ghostface Killah, Inspectah Deck, Cappadonna, GZA, und, am wichtigsten, RZA, der mit dem rotweißen Kopftuch. Wegen ihm, wegen RZA, den du Rizza! aussprechen musst, gibt es den Wu-Tang Clan überhaupt. Er ist derjenige, der zuerst vom Wu berührt wurde. Vor langer Zeit hieß er einfach nur Robert Diggs, aber eines Nachts kam das Wu über ihn, und schon am nächsten Tag war er ein anderer Mensch, er versammelte die anderen um sich, und sie nahmen „36 Chambers” auf, ihr erstes Album, dessen trockene, langsame, mächtige Beats du jetzt hören kannst. Jeder einzelne der schweren Männer, die da herumspringen, hat mindestens vier oder fünf Soloplatten mit diesen Beats gemacht, knapp vierzig Alben also, und RZA, der Freund von Quentin Tarantino, RZA, den Jim Jarmusch „ein Genie” nennt, brachte uns dazu die Musik zu den Filmen „Kill Bill” und „Ghost Dog”, und diese Musik war wunderbar. Aber um die Musik geht es natürlich gar nicht. Es geht um die Kraft des Kollektivs, darum, aus vielen Menschen einen einzigen zu machen und diesen hüpfen zu lassen, dass der Boden bebt. Und eigentlich, du hast es bemerkt, kommen diese Männer auch gar nicht aus Staten Island, New York, USA, sondern aus einer vergangenen Welt. Schau dir an, wie langsam und geschmeidig RZA sich bewegt, wie er die schwarzsilberne Flagge des Wu schwenkt. In einem früheren Leben waren sie nämlich chinesische Shaolin-Mönche, Philosophen und Meister des Schwertkampfes. Du hattest nicht gezwinkert, da hatten sie dir schon einen Arm abgehackt, wenn du es verdient hattest, und verdient hattest du es fast immer, denn wahrscheinlich warst du damals ein Dieb oder Verbrecher, wer weiß das schon? Flink sind sie, die Mönche, wie die „Sieben Samurai” von Akira Kurosawa. Wie sie springen!

Ein Symbol, eine Flagge, ein Kabinett von neun Männern – spürst du, worum es geht? Genau: Es geht um ein neues Land, einen neuen Staat, eine neue Weltordnung. Es geht um eine sechste Weltreligion, die Religion des Wu.

Darum schließe die Augen und lass das Wu zu dir sprechen. Das Wu sagt: „Fürchte dich nicht, denn ich bin bei dir. Und ich bin mächtig, und auch du kannst mächtig sein. Lass uns ein Fest feiern. Lass uns ein Lagerfeuer entzünden, lass uns den Ur-Beat des Herzschlags aufdrehen und um das Feuer tanzen. Und lass uns unsere unsichtbaren Schwerter richten gegen alles, was wir hassen, gegen George W. Bush und den ganzen Mist im Irak; gegen die Armut, aus der wir kommen.” Das ist das Wu – die Welt, die entsteht, wenn du zwischen Dingen, die nichts miteinander zu tun hatten, eine Verbindung findest; das, was herauskommt, wenn die Synapsen im Kopf neu verknotet werden, und die Nase von Gerhard Schröder auf einmal an den Mund von Richard Nixon erinnert.

Das genügt dir nicht, Fremder? Du willst wissen, wo diese Energie herkommt, die die Männer hüpfen und tanzen lässt? Was die Quelle ihrer Visionen, ihrer grenzenlosen Weisheit ist?

Dann schau dir RZA an. Eben noch reichte er bloß eine Whiskeyflasche durchs Publikum, jetzt holt er eine Tüte heraus, so groß wie ein Comic-Heft, und das, was sich in der Tüte befindet, ist trocken und braungrün und kommt aus der Türkei oder Afghanistan oder vielleicht auch aus Kanada, wenn die Beamten am amerikanischen Flughafenzoll nicht richtig aufgepasst oder die Schäferhunde gerade einen Schnupfen gehabt haben.

Dort, in der Tüte, befindet sich das Wu. Sein, dein, unser aller Wu.

Ja, Fremder: Wenn das Grün entzündet ist und der süße Rauch dich einhüllt, wenn das Wu mit aller Macht über dich kommt – dann wirst du erkennen, aus welcher Quelle es geboren wurde. Dann wirst du wissen, wie wu du bist.