Wir haben keine Lehre

Essay
zuerst erschienen am 28. Dezember 2014 in Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 52, S. 42
Der Philosoph Jean Cavaillès ist leider den wenigsten ein Begriff. Dabei war er es, der für Europa kämpfte, als es noch kein Europa gab

Dass Europa am Anfang weder eine gemeinsame Währung hatte noch ein Wirtschaftsraum war, sondern eine Idee, die Idee einer als universell verstandenen europäischen Aufklärung, lässt sich an niemandem genauer erklären als an Jean Cavaillès. Jean Cavaillès war ein Krieger für Gleichheit und Freiheit im Widerstand. Einer, der wirklich etwas für Europa getan hat. Als die deutschen Besatzer Cavaillès zum Tode verurteilten und am 17. Februar 1944 erschossen, hatten sie über einen aktiven Kämpfer der Résistance ihr Urteil verhängt. Im Zivilberuf war Cavaillès damals Professor für Logik und allgemeine Philosophie an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Sorbonne, die ihn 1941 berufen hatte. Als politischer Philosoph ist er nie in Erscheinung getreten.

Eine Tatsache, die von Bedeutung ist, weil sie es einem erleichtert, die Idee Europas gegen die aktuellen Regierungen dieses Wirtschaftsgebildes in Stellung zu bringen, die in großer Zahl den universellen Kampf um Gleichheit und Freiheit aufgegeben haben. Michel Foucault hat 1983 an der Universität von Berkeley in einem Gespräch über Politik und Ethik Cavaillès so vorgestellt: „Einer der französischen Philosophen, die während des Krieges Widerstand geleistet haben, war Cavaillès, ein Historiker der Mathematik, der sich für die Entwicklung ihrer inneren Strukturen interessierte. Keiner der Philosophen des politischen Engagements, weder Sartre noch Simone de Beauvoir, noch Merleau-Ponty, hat irgendetwas getan.“

Das heißt, Cavaillès brauchte für seine Taten, für seinen aktiven Kampf gegen die Barbarei der Nazis keine politische Lehre, es reichte ihm, dass die Feinde die Ideale der europäischen Aufklärung nicht nur mit Füßen traten.

„Wir haben Ziele. Wir haben keine Lehre. Wir wollen zum heutigen Zeitpunkt keine haben“, hat er in einem Leitartikel der ersten Ausgabe der „Libération“ im Juli 1941 geschrieben. Die „Libération“, von Cavaillès mitbegründet, war das im Untergrund erscheinende Hauptorgan der französischen Résistance und der Artikel ein Aufruf zum sofortigen Eintritt in den Kampf gegen die Besatzer. Ein Kampf, den Cavaillès entscheidend mitbegründet hat, weil er den Sieg der deutschen Truppen als Niederlage empfand, gegen die man nur militant ankämpfen konnte. Es gab für ihn nur zwei Möglichkeiten: „kollaborieren oder kämpfen“. Man muss seine aktivistische Entscheidung zum sofortigen Kampf nach der Niederlage betonen, weil sie weder selbstverständlich noch ein Phänomen der großen Zahl war. Im Gegenteil: Gerade die erklärten und zur Vernichtung freigegebenen Feinde der Nazis überboten sich in Anbiederungsversuchen.

In der kommunistischen Partei Frankreichs wurde zum Beispiel 1940 noch die Theorie des „imperialistischen Krieges“ angewandt, nach der der Krieg zwischen Deutschland und Frankreich ein Krieg zwischen imperialistischen Mächten war, aus dem man sich raushalten sollte. Die KPF forderte ihre Mitglieder sogar auf, mit den deutschen Besatzungsbehörden Kontakt aufzunehmen, um das Erscheinen der Parteizeitung „L’Humanité“ zu sichern. Dass die Partei damit auch ihre Mitgliederlisten der Gestapo förmlich übergab und zum Helfershelfer Tausender Tode wurde, ist tragisch genug und kein Einzelfall.

Solch grobfahrlässiger Unfug lag Cavaillès aber nicht nur deshalb fern, weil er keiner kommunistischen Partei angehörte, sondern zuerst weil er wusste, mit wem er es zu tun hatte. Es gab in Frankreich keinen Intellektuellen seiner Generation, der sich mit den deutschen Verhältnissen besser als Cavaillès auskannte. Er war 1927 in Berlin gewesen und hatte dort den Entschluss gefasst, seine Dissertation über die Mengenlehre Georg Cantors zu schreiben.

Wobei das Deutschland der 1920er Jahre generell, also universell zu dem mathematischen Milieu geworden war, in dem sich eine „Neue Mathematik“ entwickelte. Im Oktober 1929 kam Cavaillès dann mit einem Rockefeller-Stipendium ausgestattet zuerst nach Berlin. Er arbeitete dann fast ein Jahr an Universitäten in Berlin, Hamburg, Göttingen, München und Freiburg. Neben seinen philosophisch-mathematischen Studien ist Cavaillès aber auch ein sehr genauer Beobachter der gesellschaftlichen Ereignisse und ein unermüdlicher Briefeschreiber. In den Briefen beschreibt er sehr gut, was er erlebt hat und denkt. Er interessierte sich besonders für die Jugendbewegung und traf mit vielen ihrer Vertreter zusammen. In Hamburg hört er den protestantischen Theologen Karl Barth und ist begeistert. Barth sei, so schreibt er, genauso Polemiker wie er Philosoph sei und ein Vertreter einer militanten Kirche gegen den Nationalismus. Nicht das „Deutsche Christentum“ werde Deutschland retten, sondern nur eine christliche, universelle Kultur, zitiert er Barth. In Hamburg erlebt Cavaillès aber auch eine SPD-Veranstaltung, auf der erst Bismarck als Gründer des ersten Deutschen Reichs gefeiert wird und gleich darauf folgend Friedrich Ebert als der Retter des zweiten Reichs. Cavaillès schildert den Vorgang distanziert und ohne Sympathie. Ihm kommt das Wort „Reich“ in Verbindung mit „deutsch“ ein bisschen zu oft bei der SPD vor. In München hört er schließlich Hitler, der - 1930 - nur über innenpolitische Themen spricht. 1934 wird Cavaillès dann „Mein Kampf“ lesen und daraus den Schluss ziehen, dass das ganze Buch nur in „Pseudo-Philosophie“ endet. Wie für ihn der Nazismus nie eine Philosophie war. Es sei typisch für dieses Volk, notiert er, dass sein Führer, noch bevor er an der Macht sei, den Wunsch verspüre, sechshundert engbedruckte Seiten zu füllen. 1936 trifft er dann, noch einmal nach Deutschland zurückgekehrt, in Hamburg Vertreter der deutschen Widerstandsbewegung, die der Verhaftung entgangen waren.

Man kann also davon ausgehen, dass Cavaillès über die Nazis in einer Form informiert war, die ihm jede Illusion über ihre Absichten genommen hatte beziehungsweise gar nicht erst aufkommen ließ. Es gab aber noch ein anderes Ereignis, das Cavaillès auch die Illusionen um den Zustand der Universitäten und ihre Haltung zu einer europäisch-universellen Idee raubte. Dieses Ereignis wurde erst in diesem Jahr in seiner Bedeutung erkannt, es war der Disput zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger während der „Internationalen Davoser Hochschulkurse“ im Frühjahr 1929. Und dass es der australische Ideenhistoriker Knox Peden ist, der in seinem großartigen Buch „Spinoza contra Phenomenology. French Rationalism from Cavaillès to Deleuze“ auf Cavaillès in Davos hinweist, kann man als einen Hinweis auf die ungebrochen universelle Wirkung der europäischen Aufklärung lesen.

Die Davoser Hochschulkurse, die von 1928 bis 1931 abgehalten wurden, standen ausdrücklich unter dem Zeichen einer europäischen Aussöhnung. Finanziert von den Regierungen Frankreichs, Deutschlands und der Schweiz, sollten sie unter anderem zur Wiederannäherung der französischsprachigen und deutschsprachigen Intellektuellen beitragen. Im Jahr 1929 wurden dazu neben anderen 223 Studenten aus zwanzig Ländern nach Davos eingeladen. Darunter waren mit Joachim Ritter, Emmanuel Levinas, Maurice de Gandillac und Ludwig Binswanger, um nur die bekanntesten zu nennen, diejenigen, die später sehr einflussreich werden sollten. Es war also die akademische Studentenelite Europas in Davos versammelt, vervollständigt durch Studenten aus Palästina, den Vereinigten Staaten und Südafrika. Es ist deshalb auch nicht erstaunlich, dass der Streit zwischen Cassirer und Heidegger als eines der bedeutendsten und bestausgeleuchteten Ereignisse der Philosophie des 20. Jahrhunderts gilt. Erstaunlich ist nur, dass Cavaillès in den vielen Büchern über das Treffen bisher nicht vorkam. Denn was er dort in den Briefen an seine Schwester notiert, ist politisch klarer als das meiste dazu bisher Geschriebene. Cavaillès sieht in Davos die Vertreter der Universitäten nach wie vor gefangen im Kampf um ihre nationalen Identitäten. Den französischen Rationalismus und die deutsche Phänomenologie sieht er im selben spirituellen Nationaluniversum gefangen. Das Gleiche gilt für ihn für Cassirers liberalen Neukantianismus und Heideggers Ontologie. Beide Denkrichtungen beschreibt Cavaillès als Sackgassen, die letztlich versuchen, einem immanenten Rationalismus auszuweichen, indem sie entweder transzendental nach oben schauen, wie Cassirer, oder aber fundamental auf den Boden, wie Heidegger. Dabei entgeht Cavaillès die Verführungskraft und Brisanz von Heideggers Denken nicht.

Wie fast alle Beobachter des Streits bemerkt er eine Überlegenheit Heideggers vor allem in der Kraft von dessen stakkatohaften Statements gegenüber Cassirers wohlabgewogenem Liberalismus. Dass er nicht zum Fan Heideggers wird, liegt neben dessen Denken auch am zu starken Funkeln in den Augen von Heideggers Schülern in Davos. Für Cavaillès waren damit gleich zwei Tore zum Irrationalismus zu weit aufgerissen. Eine Erkenntnisgabe, die ihn nie verlässt, wenn es um den Rationalismus der europäischen Ideale geht.

Er kannte nämlich nicht nur die Nazis und Heidegger, sondern auch de Gaulle. Als er sich im Frühjahr 1943 zwei Monate in London aufhält, um die Aktivitäten im Untergrund mit den französischen Exilkräften zu koordinieren, trifft Cavaillès mehrmals mit de Gaulle zusammen. Ihn störte dabei ganz allgemein das zur Schau getragene Stammesbewusstsein der Gaullisten. Für Cavaillès ging es natürlich auch um Frankreich, aber sein Kampf war zuerst einem allgemeineren Ziel verpflichtet: Es war ein Befreiungskampf gegen den Horror einer nichtuniversellen Pseudo-Philosophie.