Worüber wir reden, wenn wir mit dem Lektor reden

Interview
zuerst erschienen in Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 5.Oktober 2014, S. 41
Fassung des Autors
Seine tiefen Schnitte in das Werk von Raymond Carver machten Gordon Lish berüchtigt. Nun hat er einen Band unverständlicher Prosa veröffentlicht – Vorwand genug für einen Besuch in New York

Gordon Lish ist der Fetisch einer goldenen Vergangenheit, in der man sich als Lektor den Kauf einer Siebenzimmerwohnung in Manhattan leisten konnte. 1969 wurde er Literaturchef des Magazins „Esquire“ und ab 1977 arbeitete er knapp zwei Jahrzehnte lang als Lektor beim Edel-Verlag Knopf, wo er 1981 die Kurzgeschichtensammlung „Worüber wir reden, wenn wir von Liebe reden“ seines Saufkumpans Raymond Carver betreute, deren lakonischer Minimalismus stilprägend wurde. Ende der 90er kam ans Licht, dass Lish den Band um die Hälfte gekürzt, 10 der Geschichten umbenannt und bei 14 das Ende umgeschrieben hatte – und dass es also nicht allein Carvers Stil war, der eine ganze Generation von Schriftstellern beeinflusst hatte.

Lish gilt als brillant, aber auch als leicht wahnsinnig. Seine Schreibkurse, aus denen Schriftsteller wie Ben Marcus und Sam Lipsyte hervorgingen, unterrichtete er in einer Art Safari-Uniform mit Cowboyhut und polierten Lederstiefeln. Im „New Yorker“ schrieb Carla Blumencranz in diesem Jahr in einem Essay, dass Lish mit seinen Schülerinnen systematisch ins Bett ging, was ihn dazu verleitete, das Zeitgeist-Magazin „n+1“, für das Blumencranz auch  schreibt, als „Krug voll Scheiße“ zu bezeichnen. Die Sprache in seinem neuen Band „Goings“ ist derart skeptisch, dass sie weder sich, noch ihrem Autor, noch ihrer oder dessen Skepsis traut. In seiner Vergangenheitskapsel sitzt Lish in einem Ohrensessel, er trägt einen Matrosenpullover, einen geflochtenen Zopf, eine goldene Audemars Piguet und eine zerfledderte Hose wie Pumuckl. Fragen muss man ihn nichts. Er legt einfach los.

Mein jüngster Sohn Atticus hat seinen ersten Roman geschrieben, und mit Stolz wie auch mit absoluter Objektivität kann ich berichten, dass es sich um ein Meisterwerk handelt. Zuletzt hatte ich von ihm ein Buch gelesen, dass er mit sieben Jahren geschrieben hatte, aus dem Don DeLillo in seinem Roman „Die Namen“, in dem eine Figur auf Atticus basiert, längere Auszüge zitiert, sodass diese neue Arbeit meines Sohnes für mich völlig  überraschend kam. „Vorbereitung auf das nächste Leben“, so der Titel, ist ein schockierend guter, kopfüber auf einer Welle aus Entschlossenheit reitender, furioser Roman, der Atticus für großen Ruhm prädestiniert.

Hatten Sie Ihre Finger im Spiel?

Er wollte alles selber machen. Atticus ist bei einem winzigen Verlag gelandet. Wenn er zu mir gekommen wäre, hätte ich ihm natürlich einen Agenten vermittelt und ein Mainstream-Verlagshaus, das ihm ohne Zweifel einen kolossalen Vorschuss gezahlt hätte. Erscheinungstermin ist November, auch mein neuer Roman „Cess“ (in etwa: „Jauche“) sollte im November erscheinen, den ich nun aber in den Frühling geschoben habe, damit wir uns nicht in die Quere kommen. Nicht, dass sich unsere Arbeit in irgendeiner Weise gleicht, ich könnte kein Werk wie das von Atticus hervorbringen, wenn ich mich auf den Kopf stellte. Er hat einen Roman geschrieben, der eine Geschichte erzählt, eine blutige sogar, ohne sich beim Leser anzubiedern, während ich immer nur literarische Ausweichmanöver produziere. Vor kurzem habe ich in einer britischen Zeitung gelesen, Gordon Lish sei die amerikanische Antwort auf Thomas Bernhard. Das ist ebenso schmeichelhaft wie abwegig. Aber Bernhard ist immerhin jemand, den ich lesen kann, und wenn man so alt wird wie ich, ist es wirklich ein „kann“. Es stellt sich eine Störung ein, man kann die Seiten nicht mehr sehen, die Wörter verschwimmen, ich komme gerade vom Augenarzt, ich weiß daher, dass ich keine Durchblutungsstörung der Netzhaut habe, aber das Lesen fällt mir immer schwerer, sodass ich weiterhin viel kritische Theorie lese, aber kaum noch Prosa. Bernhard kann ich lesen, aber von ihm habe ich schon alles gelesen, ein Buch, das ich in guter Erinnerung habe, ist „Spazieren“ …

Sie meinen „Gehen“.

Am Ende haben sie es „Gehen” genannt? Als ich das Manuskript sah, DeLillo zeigte es mir, keine Ahnung, wo er es her hatte, hieß es noch „Spazieren“. DeLillo kann ich lesen, da er ein Kumpel ist, anders als Roth, den ich überhaupt nicht lesen kann, ich habe Erfahrungen mit Roth gemacht, die mich von einer gewissen kindischen Prägung seines Charakters überzeugt haben, die ich nicht tolerieren kann. Obwohl mir Harold Bloom jahrzehntelang einreden wollte, dass Roth Amerikas bestes Pferd im Stall ist, würde ich eher auf DeLillo wetten, oder auf Cormac McCarthy. Bis er bei Oprah Winfrey auftrat, war McCarthy völlig makellos. DeLillo und er sind die einzigen, denen ich nicht widerstehen kann.

Was halten Sie von Jonathan Franzen?

Kann ich nicht lesen, was nicht überraschen sollte, in einem Werk, das möglichst von jedem Menschen auf der Erde gelesen werden soll, sind Kompromisse unvermeidlich. Als ich bei Knopf war, wurde mir klar, dass es weltweit ungefähr zweitausend Leser gibt, die man adressieren kann, ohne Kompromisse zu machen. Aber natürlich, damit hält man keinen Verlag in Huhn und Erbsen. Ich kann Franzen nicht lesen, ich habe gehört, er sei ein intelligenter Bursche, der viel zu sagen habe, über gesellschaftliche Belange und solche Dinge. Es scheint dabei aber immer eine gewisse Geringschätzung mitzuschwingen. Dieser Eindruck basiert allerdings auf minimaler Recherche meinerseits. Viel eingehender habe ich mir diesen Typ David Foster Wallace angesehen, da sich DeLillo mit ihm angefreundet hatte. Für „Unendlicher Spaß“ bin ich zu alt, das kann ich nicht lesen, aber in einer Erzählung aus dem Band „Kurze Interviews mit fiesen Männern“ habe ich den Schlüssel zu seinem Entschluss zum Selbstmord gefunden, bilde ich mir ein. In „Forever Overhead“ wartet ein Junge darauf, seine Position auf einem hohen Sprungbrett einzunehmen. Oben sieht er dann die Haut der abgeschabten Sohlen der Füße derer, die vor ihm gesprungen sind, fasziniert, angewidert. Er sieht das Fleisch, das auf der Beschichtung des Brettes zurückbleibt – eine Vision, gegen deren überwältigende Wahrheit Widerstand wohl zwecklos war.

Wenn Sie so wenige Autoren ertragen können, muss das Unterrichten für Sie ja die Hölle gewesen sein. All diese Schülertexte im Workshop …

Das waren keine Workshops. Ich habe immer nur Vorlesungen gehalten. Allein durch die Teilnahme daran hatte man schon eine gewisse Ernsthaftigkeit bewiesen, da meine Vorlesungen mindestens sechs, oft aber auch zehn Stunden lang dauerten. Ein Wahnsinniger und seine Suada.

Wonach haben Sie gesucht als Lektor und Lehrer?

Ich habe mich davon überzeugt, dass ich die Fähigkeit besitze, mir eine Manuskript- oder Buchseite anzusehen und anhand von deren visuellem Eindruck deren literarischen Wert zu bestimmen. Daher kann ich mir nicht erlauben, etwas zu lesen, dem eine gewisse Dichte fehlt, und möglicherweise ist dies nur illusionär, aber ich bilde mir ein, dass ich auf ersten Blick sehen kann, wenn ein Text schwach geschrieben ist. Darüber hinaus geht es mir darum, dass jeder Satz vom auf ihn folgenden neu zum Leben erweckt wird, und natürlich um Risiko und ein gewisses Mysterium. Ich kann nicht genau sagen, welche Qualität meine Aufmerksamkeit weckt. Ich bin sicher, dies variiert. Nichts an mir ist konsistent.

Was halten sie eigentlich von Magazinen wie „The Believer“ und „n+1“?

Von „n+1” kann ich wohl kaum eine gute Meinung haben. Sie haben mir auf den Kopf geschissen. Eine Redakteurin des Blattes, wie heißt sie, Blumencranz, glaube ich, hat zwei Artikel über mich geschrieben und auch noch einen dritten, der dann auf dem Online-Ding des „New Yorker“ zu lesen war. Es ging darum, dass ich angeblich reihenweise mit meinen Schülerinnen im Bett gewesen sei, ich war entsetzt. Wir hatten zweimal telefoniert, angeblich wollte sie mich für ihre Dissertation befragen, möglicherweise war ich auch mal essen mir ihr, dann begannen diese Artikel zu erscheinen in „n+1“ und daher habe ich mir diesen Doktoranden-Scheiß dann auch mal angesehen. Erst gestern Abend habe ich im „New Yorker“ einen Text über die Frankfurter Schule gelesen, sowohl „n+1“ als auch der „Believer“ wurden darin erwähnt, das ist rätselhaft. Einmal wollte der „Believer“ mich interviewen und es kreuzten hier zwei Leute auf, angenehme Leute, Vernon Chatman und John Lee, die entweder Schreiber oder Produzenten bei der Show von Louis C.K. sind. Es kam zum Interview, die beiden entpuppten sich als literarische Analphabeten, obwohl sie mir versicherten, dass sie in ihrer Produktionsfirma niemanden einstellen, der nicht all meine Bücher gelesen hat, was natürlich eine Verarschung war. Am Ende musste ich den beiden das Interview neu schreiben, ich musste mir Fragen stellen, also zum Beispiel „Was ist Ihnen wichtig?“, und dazu Antworten ausdenken, also „Kekse und Knutschen“. Ich kann nicht nachvollziehen, warum die Leute den „Believer“ Ernst nehmen.

Was halten Sie von Carver heute?

Carver war ein Betrüger. Wenn er der Mann gewesen wäre, für den er gehalten wird, hätte er schon zu Beginn gesagt: Hey, Du hast das ganze Buch neu geschrieben, und wo kommt dieser Titel her, da mache ich nicht mit und so weiter. Ich habe mir die Sachen, die er nach mir geschrieben hat, nicht angesehen, nehme aber an, dass sie auf seine zweite Ehefrau Tess Gallagher zurückgehen. Meine Vermutung ist, dass Gallagher meine Rolle übernommen hat, sie hielt sich für eine Dichterin, da sie als Teil einer Fotoserie über Dichterinnen einmal von Annie Leibovitz fotografiert worden war, ohne Sattel auf einem Pferd sitzend. Auch Carver hielt sich für einen Dichter, überhaupt verblüffte mich, dass er ein so positives Bild von sich hatte, bekräftigt zweifellos von seinen zahllosen Saufbrüdern, die alle in höchsten Tönen von ihm sprachen. Er hielt sich für einen Schriftsteller, einen guten Schriftsteller, er dachte wohl sogar, dass er alles selber geschrieben hatte. Ich habe viel als Ghostwriter gearbeitet, um diese Wohnung hier möglich zu machen beispielsweise, und dabei die Erfahrung gemacht, die sicher viele Ghostwriter machen, nämlich dass die „Autoren“, für die man ein Buch geschrieben hat, sich davon überzeugen, dass sie es selber geschrieben haben. Man wurde bezahlt, 50.000 Dollar bekam ich für ein Buch damals, schrieb es in zwei Wochen und bekam dann ein Exemplar mit Widmung, vielen Dank für das Gegenlesen oder etwas in dieser Art. Carvers Fähigkeiten waren eingeschränkt, er war ein mittelmäßiger Autor, aber sehr auf Veröffentlichung erpicht, er hatte es schwer gehabt im Leben, nicht zuletzt infolge seines Appetits auf Whiskey. Als ich ihn kennenlernte, wir beide arbeiteten damals als Redakteure bei Fachverlagen in Palo Alto, war er völlig besoffen. Unsere Büros lagen in der California Street und wir soffen dort nach der Arbeit in einer Bar, oder mittags in meiner Wohnung, seine Wohnung stand ihm nicht zur Verfügung, da er mit seiner Frau eine Art Krieg führte, seiner ersten Frau, sie hieß Maryann, glaube ich, die mich Jahre später dann kurz vor meiner Entlassung bei Knopf anrief und mir erzählte, dass sie einige von Carvers frühen Erzählungen geschrieben hatte und ihr Recht auf diese einklagen wollte. Ausgerechnet ich sollte diesbezüglich vor Gericht aussagen. Das war absurd, andererseits war ich ihr verpflichtet, da ihre Schwester einmal von James Dickey geschwängert worden war, meinem Lyrik-Redakteur bei „Esquire“, tatsächlich machte ich die Lyrik, aber sein Name stand im Impressum und sah gut aus da. Ich gab also ein Dinner für Dickey in der Redaktion und Carvers Schwägerin, die eine kleine Rolle auf Broadway hatte, kam und Dickey nahm sie mit und schwängerte sie. Ich erzähle Ihnen jetzt einfach mal die ganze Geschichte, da sie mit meiner Sicht auf Carver zu tun hat. Ich hatte Dickey um ein lobendes Zitat für Carver gebeten, für den Umschlag dessen ersten Erzählungsbandes „Würdest Du bitte endlich still sein, bitte“, möglicherweise hatte ich das Zitat auch selbst geschrieben, in jedem Fall stand Dickeys Name auf diesem Buch, das bei McGraw Hill erschien, wo ich eine Buchreihe herausgab, sodass ich mich damit quasi selbst verlegte. Dann rief Dickey an, er habe Carvers Schwägerin geschwängert und wolle ihr Geld zukommen lassen, seine Frau dürfe nichts merken, ich solle Carver anrufen, er müsse irgendwie als Mittelsmann aktiv werden und ich fragte ihn und er ließ Dickey ausrichten, dieser könne sich mal ficken gehen. Und ich dachte mir: Was für ein Hurensohn. Was für ein Bastard! Immerhin hatte Dickey ihm oder ich als Dickey ihm dieses Zitat geschrieben. Und wie viele Frauen hat Carver denn bitte geschwängert, mit denen er dann Hilfe brauchte, um Abtreibungen zu organisieren oder was auch immer …

(Hustenattacke)

Rauchen Sie?

Gelegentlich. 

Gelegentlich, ha! Das ist ein richtiger Raucherhusten, den Sie da haben! Aber keine Sorge, irgendjemand muss ja rauchen. Ich selber habe vier Päckchen am Tag geraucht, so bis Mitte der 80er. Heute rauche ich nur noch Marihuana.