You know me from Tinder!

von 
Reportage
zuerst erschienen Juni 2014 in Cosmopolitan
Fassung der Autorin

In Berlin, in der Stadt, in der ich lebe, benutze ich Tinder immer genau dann, wenn nichts anderes ansteht: beim Stau und vor einer roten Ampel, in der Schlange bei der Post, im Wartezimmer beim Arzt oder am Flughafen, wenn ich mal wieder verreise. Als ich kürzlich beruflich für drei Tage in Frankfurt war, wollte ich nicht alleine essen.

Direkt nach meiner Landung in Frankfurt schaltete ich mein Handy an und öffnete die neue, derzeit so gehypte Dating-App aus den USA, die Usern erlaubt, potenzielle Flirt-Partner im näheren Umkreis abzuchecken - und gegebenenfalls zu treffen. Das Prinzip ist denkbar einfach: Gefällt einem eine angezeigte Person wischt man mit dem Daumen nach rechts, gefällt diese einem nicht, wischt man nach links. Erst wenn sich zwei Personen gegenseitig geliked haben, entsteht ein Match und die Möglichkeit zu kommunizieren. Eine Chat-Box öffnet sich und daraufhin kann miteinander gesprochen werden.

Wahlloser als sonst schob ich mit meinem Daumen die Bilder von Männern zwischen 25 und 45 Jahren von links nach rechts. It´s a Match! blinkte es dann in Dauerschleife auf meinem Display, obwohl ich erst seit 30 Minuten in der Innenstadt war.

David trug auf seinem Profilbild einen gut sitzenden Anzug. Das Haar sah gepflegt aus, saß aber wild genug, um auch auf weitere wilde Potentiale schließen zu können. Er war 34 und hatte in das Beschreibungsfeld „Dine, Wine and 69“ geschrieben. Das hätte ich möglicherweise zu einem anderen Zeitpunkt, an einem anderen Ort schrecklich peinlich gefunden, aber hier war ich anonym. In Frankfurt. Für drei Tage. Also egal.

David chattete mich mit einem MIRNA! an. Ein klassischer Tinder-Start. Weder niveauvoll noch niveaulos. Bei der erfolgreichsten Dating-App aller Zeiten hält man sich kurz und trifft schnelle Entscheidungen. Ich erzählte David von meinem Business-Trip und er lud mich noch am selben Abend zum Essen ein.

Ich nutze Tinder, das übersetzt Zünder heißt, seit Oktober 2013. Primär, um Spaß zu haben. Und damit bin ich nicht allein. Denn dass das Konzept der App - also eine Unmenge an möglichen Partner vorgeschlagen zu bekommen und gleichzeitig seinen Marktwert abzuklopfen - aufzugehen scheint, beweisen die Zahlen: Jeden Tag melden sich 20.000 neue Nutzer weltweit an. 800 Millionen Mal täglich bewerten User die angezeigten Personen. 10 Millionen Matches ergeben sich daraus. Das ist Rekord. Nicht nur für eine Dating-App. Das Prinzip dahinter ist ganz simpel. Denn die neue Anwendung läuft ganz ähnlich ab wie der Augenblick, in dem man eine Bar betritt. In Sekundenschnelle scannt man den Raum nach potentiellen Partnern ab: Ja, Nein, Ja, Nein. Auch, wenn der CEO Sean Rad versichert, dass es mittlerweile schon Tinder-Hochzeiten gibt, also Paare, die sich auf Tinder kennengelernt und anschließend geheiratet haben, ist der romantische Aspekt der App eher zweitrangig. Schließlich steht der spielerische Umgang an erster Stelle. Basierend auf der Tatsache, dass wir innerhalb von wenigen Sekunden darüber entscheiden, ob uns jemand gefällt oder nicht, funktioniert Tinder.

Nachdem man die Anwendung heruntergeladen hat, meldet man sich mit seinen Facebook-Daten an. Diese werden auf die App übertragen. Das Geschlecht, das Alter, gemeinsame Freunde und Interessen sowie Bilder aus seinem FB-Profil erscheinen auf dem Display. Wer noch mehr über sich verraten möchte, formuliert separat eine kurze Beschreibung so wie David. In den Einstellungen entscheidet man, wonach man sucht: ob nach Männern oder Frauen, in welcher Entfernung (2-160 Kilometer sind hier möglich) sie sich befinden und welches Alter (14-50+) sie haben sollen. Das war´s. Dann kann es losgehen.

Während David und ich in einem teuren Restaurant saßen und guten Rotwein tranken, vibrierte mein Telefon alle paar Minuten. Die Wahllosigkeit hatte sich also bezahlt gemacht. Der Mann mit den wilden Haaren erzählte von seinen gefährlichen Hobbys und obwohl ich gebannt zuhörte, verfiel ich parallel dem, was man als Tinderitis bezeichnen könnte, und las heimlich die Nachrichten der anderen Männer. Da gab es zum Beispiel Stefan, ein Barkeeper, der darauf drängte, dass ich nach dem Essen noch einen von ihm kreierten Drink zu mir nehmen müsse oder Tom, ein 45-jähriger Anwalt, der mit mir am nächsten Tag Lunchen wollte. Genau dieses dauerhafte Umgarnen macht den Reiz der App aus. Jedes Match ruft: Du bist heiß. Und das hört man schließlich gerne. Auch David schielte anfänglich noch auf sein Display, wenn ich sprach. Aber als wir die zweite Flasche Wein anbrachen und merkten, dass dieser Abend in seinem Loft im Westend enden würde, spielten all die anderen keine Rolle mehr.

Vor anderthalb Jahren wurde Tinder von Sean Rad, Justin Mateen und Jonathan Badeen in Los Angeles gegründet, angeblich war hier der College Dorm Room, also das berühmt berüchtigte Wohnheim, die große Inspirationsquelle. So lautet jedenfalls die offizielle Gründungsgeschichte. Recherchiert man genauer, dann findet man heraus, dass diese - anders als bei Facebook - nicht ganz stimmt. Denn Tinder gehört dem erfolgreichen Medien-Unternehmen InteractiveCorp, unter dem auch Match.com operiert. Das führende Dating-Portal der USA wird dem kleinen Spin-Off beim Start mehr als behilflich gewesen sein. Geht es bei einer Dating-App doch vor allem um die möglichst schnell steigende Nutzerzahl. Ohne Nutzer keine Dates. Ohne Dates kein Spaß.

Nach der Entwicklung verbreitete sich die App in Lichtgeschwindigkeit unter Studenten und von da aus dann bis in die Großstadt. Wer homosexuelle Freunde hat, kennt das Prinzip von Tinder schon lange. Schließlich basiert die Anwendung auf der Grindr-App. Auch dort werden nur Personen in der unmittelbaren Nähe vorgeschlagen. Sitzt man also in einer Bar und stellt die Entfernung auf zwei Kilometer ein, ist die Chance relativ groß, Männer angezeigt zu bekommen, die vielleicht sogar neben einem sitzen.

Drei Monate nach dem David und ich uns in Frankfurt sogar zwei Abende hintereinander gesehen hatten, flog ich nach Bangkok und versuchte erneut mein Glück. Die App zeigte mir Traveller-Typen an, die mit freiem Oberkörper vor romantischen Sonnenuntergängen posierten oder mit einer Bierflasche in der Hand in einer Hängematte lagen. Auch dort, viele tausend Kilometer entfernt, funktionierte die Dating-App auf derselben außergewöhnlichen Basis, nämlich sich einzig und allein am Aussehen zu orientieren, und führte nicht nur zu lustigen Abenden in Chinatown, sondern sogar zu Insider-Tipps, die mich in die besten Galerien der Stadt führten.

Wurde in den letzten Jahren viel Wert auf Übereinstimmung und komplizierte Algorithmen gelegt, die den richtigen Partner für einen finden sollten, setzt Tinder auf eine simple Komplexitätsreduktion. Hier geht es um nichts weiter, als den kurzen Augenblick, indem man sich entweder für oder gegen jemanden entscheidet. Das heißt aber nicht, dass diese Entscheidung oberflächlich ist. Schließlich sagt das Gesicht meisten viel mehr über die jeweilige Person aus als ein penibel ausgefüllter Fragebogen. Und jeder noch so kleine Satz sagt mehr als tausend Worte. Denn wenn einer statt „seid“ immer „seit“ schreibt, dann ist das ein nicht zu überwindendes Hindernis. Was bringen einem am Ende all die großartigen Übereinstimmungen, wenn der Typ eine Glatze hat, man aber nun mal auf volles Haupthaar steht? Oder wenn sich jemand ausschließlich über eine Ansammlung von Emoticons ausdrücken kann? Grundsätzlich lesen wir auch sonst, fernab von Dating-Apps, Gefühle, Bedürfnisse und Erwartungen unseres Gegenübers an dessen Gesicht ab. Bei Tinder tun wir das nun auf digitalem Wege: in schnellerer Geschwindigkeit und über die sozialen Grenzen hinweg. Das wird einem relativ schnell klar, zeigt uns die App doch auch Personen an, denen wir normalerweise weder im Beruf noch im Privatleben begegnen würden. Auf Tinder sind sie alle vereint: Kevin, der sich mit Hanteln im Muskelshirt präsentiert oder Sven, der mit seiner Katze im Arm posiert. Für solche Exemplare haben meine Freundinnen und ich längst eigens angelegte Ordner auf unseren Handys. Täglich schicken wir uns die abgefahrensten Profilbilder hin und her und machen uns daraus einen Riesenspaß.

Die Matches, die mit einer Vibration in meiner Handtasche einhergehen, sind das, was früher Komplimente, das Hinterher-Pfeifen auf der Straße oder das Zuzwinkern mit dem Auge waren. Und weil wir das irgendwie vermissen und weil Männer das irgendwie nicht mehr machen können, genießen wir jenes stille Abkommen, es auf diesem Wege wieder zu probieren. Ohne komischen Nachgeschmack. Denn mit der App ist das plötzlich Okay und nicht anmaßend oder frech.
Diese Komplimente machen süchtig, aber die Gespräche im Tinder-Chat versieben schnell. Irgendwann hört immer einer auf zu antworten. Wenn man sich nicht sofort nach drei Sätzen ernsthaft verabredet, passiert nichts. Viel zu schnell schiebt sich die Person, mit der man gerade chattet nach unten. Und neue Männer erscheinen, mit neuen Anmachsprüchen und besseren Profilbildern. Und genau da liegt das große Problem bei Tinder. In einer halben Stunde sieht jeder auf seinem Handy mehr Männer oder Frauen, als an einem ganzen Abend in einer Bar. Dieses Knistern, was die Zünder-App verspricht, kann nur aufrechterhalten werden, wenn man sich direkt trifft. Also nicht lange fackeln!

In Berlin hatte ich erst ein einziges Date. Doch im Laufe des Abends stellte sich heraus, dass Christian der Cousin eines Ex-Freunds ist. So eine Großstadt ist eben doch klein. Das merkt man besonders, wenn man durch die Straßen läuft. Seit ich bei Tinder bin, denke ich ständig, Hey, den kennst du doch. Wie zum Beispiel Max, den ich letztens am Gemüseregal wiedererkannte. Der 28-Jährige, der als Profilbild ein Gruppenfoto hat, das absolute No-Go, weil man überhaupt nicht weiß, wer eigentlich wer ist, und eine französische Bulldogge namens Jack, die im zweiten Bild auf seinem Schoß sitzt. Max, der gerne Radiohead hört aber nichts Ernstes sucht, stand da und checkte die Avocados aus. Wir hatten mal ein Match. Vor drei Wochen oder so, aber niemand hat jemals den ersten entscheidenden Satz geschrieben. Aber das macht nichts: Denn Mitch, ein Kanadier, mit dem ich in Bangkok nicht nur Chinatown unsicher gemacht habe, hat mich längst zu sich nach Toronto eingeladen und in Frankfurt brauche ich kein Hotel mehr. Schließlich habe ich David und sein großes Wasserbett.