Zurück in die Gegenwart

von 
Essay
zuerst erschienen 2016 in Neon Nr. 1
Seit die Autorin Mirna Funk Max Frischs Werk „Biografie: ein Spiel“ in der Schule durchnahm, prägt es ihr Leben. Noch heute nimmt sie das Buch immer dann in die Hände, wenn sie wieder vor einer Weggabelung steht.

Der Regen peitschte gegen die Fensterscheiben und weckte mich auf. Ich lag im Bett in der Wohnung meiner Großeltern, die sich im 21. Stockwerk in Berlin-Lichtenberg befand. Ich war sieben oder acht Jahre alt. Es war 1988 oder 1989. Ich stieg aus dem Bett, lief zu einem Sideboard, das vor einem der Fenster stand, kletterte hoch und stellte mich vor die Scheibe. Ich legte meine beiden Handflächen an das kalte Glas und spürte das Klopfen der Regentropfen. Dann schaute ich bis zum Horizont und konnte den Mercedes-Stern sehen und wie er sich viele Kilometer entfernt auf dem Europacenter drehte. Damals war das noch drüben im Westen. Und dann quetschte ich meine Nase gegen die Scheibe und blickte zu Boden und beobachtete die Straßenbahn, die sich für mich aus dieser Distanz unhörbar, aber für gewöhnlich quietschend auf den Schienen entlang schob. Ich sah in die beleuchteten Fenster auf der gegenüberliegenden Straßenseite und stellte mir vor, was passierte, wenn ich jetzt dieses Fenster vor mir öffnete, mich auf das Fensterbrett stellte und springen würde. Ich begriff, dass mein Leben dann vorbei wäre, aber im selben Moment begriff ich auch, dass mein Leben jetzt gerade stattfand. Dass es nur dieses eine Leben gab und dass ich die Wahl habe, dieses, mein Leben eben, selbst zu bestimmen. Ich begriff, dass ich es beenden, aber auch fortführen könnte. Dann stieg ich von dem Sideboard runter und legte mich zurück ins Bett. Ich erzählte niemandem davon.

Heute weiß ich, dass es mein erster bewusster Moment war. Ein Spiegelmoment ohne Spiegel. Danach machte ich mir ständig Gedanken über die Dinge, die ich tat, weil ich vor dieser Fensterscheibe in dieser regnerischen Nacht begriffen hatte, dass die Anreihung aller Momente, aller Entscheidungen, aber auch aller Begegnungen am Ende mein Leben ausmachten. Sie würden zu meiner Biografie.

Die folgenden Jahre vergingen langsam und quälend. Ich aß, schlief, ging zur Schule und fühlte mich die meiste Zeit unverstanden. Ab der 10. Klasse blieb ich jedes Jahr sitzen, meistens wegen Chemie, Französisch und Mathematik oder wegen einer Kombination aus zwei dieser Fächer. Aber weil mein Direktor mich mochte, ließ er mich jeden Sommer sogenannte „Nachprüfungen“ machen und versetzte mich erneut. Meistens kam ich ein oder sogar zwei Wochen später in meine alte Klasse zurück und hatte schon ein oder eben zwei Wochen in einer anderen Klasse mit jüngeren Mitschülern und anderen Lehrern verbracht. Das ging dann bis zur Zwölften so. Bis ich wirklich sitzen blieb. Drei Jahre lang hatte ich auf diesen Moment hintrainiert, und wenn man etwas drei Jahre lang tut, dann wird man ziemlich gut darin. Also saß ich den ersten Tag in der neuen Klasse und hatte das Gefühl, alles schon zu kennen. Ja, diese Situation zigmal erlebt zu haben. Ein bisschen so wie im Film: „Und täglich grüßt das Murmeltier“.

Gleich in der zweiten Stunde lernte ich Frau Sievert, die Deutschlehrerin, kennen. Sie war eine kleine, flinke, kurzhaarige Frau. Erfrischend. Unkonventionell. Frau Sievert teilte uns mit, dass wir in den nächsten Wochen ein Buch von Max Frisch lesen würden, und ich dachte schon an Montauk. Dann nannte sie den Titel; Biografie: ein Spiel. Ich war erleichtert, weil ich das andere Buch längst aus dem Regal meines Vaters gefischt hatte und es trotz etlicher Versuche nicht geschafft hatte, über Seite 30 hinauszukommen.

Auf dem Weg nach Hause, ich wohnte mittlerweile in meiner eigenen Wohnung, kaufte ich das Buch und begann sofort zu lesen. Ich las von Hannes Kürmann, dem Verhaltensforscher und von Antoinette Stein, der Übersetzerin. Es ist ein kurzes Buch, kein Roman sondern ein Theaterstück. Nach nur drei Stunden hatte ich das Stück ausgelesen und fühlte mich zum ersten Mal in meinem Leben verstanden, ohne dass ich von meinem Spiegelmoment hatte erzählen müssen. Denn auch Herr Kürmann zaudert mit seiner Biografie und will sie ändern. Wie oft haben wir uns das alle schon gewünscht? Die Zeit zurückzudrehen. Wie Kürmann glauben wir, dass unser Leben anders ausgehen könnte. Wir hätten uns nur ein einziges Mal anders entscheiden müssen. Kürmann wünscht sich ein Leben ohne Antoinette Stein, mit der er eine zerrüttete Ehe führt. 50 Seiten lang versucht er, sie aus seiner Wohnung zu bekommen, aber er schafft es nicht. Frisch ermöglicht seinem Protagonisten, sich an einen früheren Zeitpunkt seiner Biographie versetzen zu lassen, um zu verhindern, dass es überhaupt zur Begegnung mit Antoinette kommt. Aber keiner seiner neu eingeschlagenen Wege ändert sein Leben wirklich. Keine seiner anders getroffenen Entscheidungen führen zu einem Leben ohne Antoinette Stein. Er bewohnt dieselben Wohnungen, schläft mit denselben Frauen, macht dieselben Fehler. Immer wenn ich mich an einer Gabelung in meinem Leben befand, habe ich das Buch gelesen. Wahrscheinlich schon über zwanzig Mal, und ich habe selbst einen Roman geschrieben, in dem es darum geht, dass die Vergangenheit für niemanden abgeschlossen ist, ja, dass die Anreihung aller Geschehnisse, selbst die Geschehnisse, die sich unserem Einfluss entziehen, zu unserer Biografie wird. Ich begriff durch diesen Roman, dass alle meine getroffenen Entscheidungen irgendwie richtig waren und dass wir uns in Wirklichkeit immer wieder für ein- und dieselbe Biografie entschließen würden, obwohl wir ständig glauben, wir würden heute ein anderes Leben führen, wenn es möglich wäre, die Zeit zurückzudrehen. Denn wie soll man sich nicht mehr in jemanden verlieben, den man einmal geliebt hat? Und wieso sollte ich in der zehnten Klasse plötzlich Mathematik- und Chemie-Nachhilfeunterricht nehmen? Nur um diesen absurden Sommeranfangs- und Sommerendsituationen zu entkommen und versetzt zu werden? Dann hätte ich niemals das Buch von Frisch kennengelernt, und vielleicht niemals meinen Roman Winternähe geschrieben.

„Hätte, hätte Fahrradkette“ oder etwas kulturbeflissener: „Je ne regrette rien“ sagen wir im besten Fall zu solchen Gedankenexperimenten. Unsere Biografie basiert auf dem Kausalprinzip. Unsere Gegenwart speist sich aus der Vergangenheit. Wenn wir wissen wollen, wer wir sind, müssen wir zurückschauen. Auch Kürmann schaut zurück. 174 Seiten lang. Er dreht an der Uhr und versucht neue Entscheidungen für Altbekanntes zu treffen. Und immer, wenn es mir wieder so wie Kürmann geht, also, immer, wenn ich mich weigere zu glauben, dass unsere Biografie, meine oder deine, oder irgendeine, nicht anders ausgehen könnte, vollkommen anders eben, nehme ich das Buch zur Hand und lese.