»The Life Naija«

»The Life
Ghanatic«
Tagebuch

31.12.

Profi-Tipp: Silvester am 30.12. feiern, das ist immer lustiger. Außerdem sind die Taxis günstiger bzw. leichter zu bekommen, es gibt wenige Konkurrenzveranstaltungen, der fehlende Druck, die Nacht des Jahres zu erleben, führt oft dazu, dass es die Nacht des Jahres wird.

Die Einladung zur Party von Efua und Fred erreichte mich über Efuas beste Freundin, die leider verhindert ist. Ich hatte also besser noch einmal nachgefragt, mit den Worten: »Mein Deutschsein erlaubt es mir leider nicht, da einfach unangekündigt aufzutauchen. Ist es wirklich okay?« und bekam zur Antwort: »Feel free. Wenn du sie nicht suchst, wirst du die beiden in der Menge wahrscheinlich nicht mal sehen.« Große Vorfreude. 

Mein Taxifahrer, Azumah (»der Krieger«) von einem Unterstamm der Ewe aus der Voltaregion, erklärt mir, wie er Silvester feiert: morgens Kirche, es sei schließlich Sonntag, dann arbeiten, dann Essen mit der Familie, von 21 bis 1 Uhr wieder Kirche, danach feiern. Es gäbe um Mitternacht durchaus Feuerwerk, Knockout genannt. »Dann betet ihr zum Geräusch von Böllern?« – »So ist es.« Wir passieren ein gigantisches Plakat, auf dem eine Kirche für eine übernatürliche Fußwaschung (das steht da wirklich so) beim Überqueren der Jahresgrenze wirbt – auch eine Option. 

Die Party ist dann schon von weit her zu hören, die Buckelstraße, die zum Haus führt, von Autos gesäumt. Viele Ghanaer, so viel weiß ich inzwischen, fangen in der Regel früh an zu feiern und laufen sich schnell warm. Es ist kurz nach acht, der Hof schon gut gefüllt. Es gibt ein Barbecue, auf einem Tisch eine offene Bar plus zehn große Kühlboxen voller Getränke, einen gelben 25-Liter-Kanister, der mal Frittieröl enthielt und in dem jetzt frischer Palmwein schwappt (Eyes full of love), einer schiebt eine Schubkarre voller Kokosnüsse durch die Menge. Ich treffe die Gastgeber Fred und Efua, letztere fällt mir um den Hals, und tatsächlich zwei, drei Leute, die ich von ganz woanders her kenne: Yorm zum Beispiel, die ein Jahr lang in Frankfurt gelebt hat (es aber eher schwierig fand, wie sie sich ausdrückte, essenstechnisch und sozial) und derzeit in Johannesburg ist, ihr ebenfalls ghanaischer Mann Edward lebt in New York, über die Feiertage haben sie sich (und ihre Familien) in Accra getroffen. Das nenne ich Fernbeziehung.  

Auf dem Rasen tanzen schon Leute, es läuft ausschließlich Afrobeat, der laut mitgesungen wird. Mein Vater fragte mich vor vielen Jahren, als ich auf meine ersten Technoparties ging (ich war 13 oder 14 - danke noch mal, Mama!), darüber aus, wie wir da tanzten und als ich es ihm erklärte (»Jeder für sich, aber doch irgendwie alle zusammen«), betrauerte er, dass es keinen Paartanz mehr gäbe (was ja so auch nicht unbedingt stimmt).

Ich freue mich, berichten zu können, dass es hier sehr viel Paartanz gibt – auch dergestalt, dass zur Abwechslung die Frau den Mann von hinten nimmt, oder ein Mann s c h e r z h a f t einen anderen (No homo! Dazu bitte mein Interview mit Jane Ward aus dem März lesen, ist online), und als Dreiertanz: Mann-Frau-Mann-Sandwich. 

Der Höhepunkt – der Party, meiner Zeit hier, vielleicht sogar meines Ausgehjahres (obwohl: die Herzchenaugenparty im Januar, auf der wir auf der Tanzfläche stehend Stille Post spielten und einander »You just don’t love me yet« ins Ohr flüsterten; das pfälzische Weinfest im Juli, als der Alleinunterhalter Come on Eileen spielte und wir nach Hause tanzten) – der Höhepunkt ist erreicht, als jemand »Circle!« ruft und etwa 50 Leute eine Polonaise durch den gesamten Hof tanzen, ohne Anfassen, Tekno-Style (ich meine den Musiker): kleine Bewegungen, stampfend, immer in Richtung Boden, die Arme angewinkelt wahlweise mit dem weißen Schweißtuch wedelnd, ab und zu ein Bein abspreizen wie ein pinkelnder Hund. Wenn der DJ, der manchmal auch rappt, den Ton rausdreht, werden die Hände in die Luft geworfen und alle kreischen. Ich lege mich einfach mal fest: Wo!! von Olamide ist der Song des Jahres. Meines Jahres.  

30.12.

Die drei meist gehörten Sätze:

1. »Obruni!« 

2. »Where from you?« Pidgin-Englisch, kann sowohl: »Aus welchem Land kommst du?«, als auch »Wojer kommst du gerade?« heißen, meist gefolgt von: »Where you goin’?«

3. »Entschuldigung, aber wir haben derzeit ein Problem mit dem Internet.«

Was davon abgesehen nicht fehlen wird: die Verrenkungen, die ich angesichts der Religionsfrage lächerlicherweise immer noch anstelle. Meistens gebe ich vor, Protestantin zu sein, was ja nur halb gelogen ist. Ich habe keine Lust, das zu diskutieren. Es ist uninteressant und bringt einfach nichts. Bei der Kinderfrage sage ich je nach Stimmung: »Da, wo ich herkomme, entscheiden sich manche Leute gegen Kinder, das ist ganz normal« oder »Noch keine«. Worauf mich ein Jungspund mal nach meinem Alter fragte und mich, nachdem ich wahrheitsgemäß geantwortet hatte, auf meine drohende Menopause hinwies. Gotta love it.  

Ein Nachtrag zu gestern, auf Wunsch von Joachim, der schrieb: »Berichte bitte auch, wie genau die Kirchen geformt sind«. Also gut:

Sie können jede Form annehmen: Baracke mit Wellblechdach, mehrstöckiges Haus, mit Turm und Kirchenschiff, in Jamestown gibt es sogar eine Kathedrale, gebaut von demselben Architekten wie das Victoria and Albert Museum in London. Vor allem aber gibt es viele. Also: unvorstellbar viele. 2014 waren es angeblich mehr als 10.000 - bei 28 Millionen Menschen. Tendenz steigend. Mitunter überbieten sich an einer Straßenkreuzung drei Schilder, die in die gleiche Richtung weisen: Pentecostal Church, New Methodist Church, Mega Church (Nach diesem Muster sieht man manchmal auch eine Muslim Mosque, ein niedlicher Pleonasmus). Hier in Osu stehen sich die St. James Catholic Church und die gerade im Entstehen begriffene Church of Christ in einer kleinen Straße direkt gegenüber. Die kleine, weiße Christiansborg-Baptistenkirche um die Ecke (Wahlspruch: »Where everybody is somebody«) bot im November kostenlose Gesundheitschecks an, heute veranstaltet sie eine Weihnachtsfeier »für Kinder und Witwen« (nein, Witwer gibt es offenbar nicht; ja, Weihnachten geht noch eine Weile; ja, der auf dem Transparent illustrierte Weihnachtsmann ist wie das restliche Weihnachtspersonal auch: weiß). 

Zutritt zur Kirche hat, im Gegensatz zu etwa Äthiopien, erstmal jeder und jede. Zumindest wurde ich bislang immer eingelassen und auch wenn mir eine Einladung zum Kirchenbesuch ausgesprochen wurde, hat man mich nicht gefragt, ob ich gerade menstruiere. Neben den Kirchen gibt es in ländlicheren Gegenden Prayer Camps, auf die mit gigantischen Werbetafel hingewiesen wird, gern mit einem Jesus am Kreuz, Gesicht schmerzverzerrt. Eines befindet sich mitten in Accra im Achimota Forrest. Über ein anderes, das Hebron Prayer Camp, heißt es im Netz: »It is reported to host up to 10,000 congregants on a monthly and annual basis with their advertisement and social media tactics said to be one of the best in Ghana«. Da ist dann jeden Tag von früh bis spät Programm. So in etwa stelle ich mir den Vorhof zu meiner persönlichen Hölle vor. Gleichzeitig werde ich mich ärgern, dass ich mir das nicht angeschaut habe, genau wie ich mich bis heute ärgere, keinem äthiopischen Exorzismus beigewohnt zu haben.

Auch auslassen musste ich das Mount Horeb Prayer Center im Inland, zu dessen nächtlichen Veranstaltungen Ladeninhaber und -innen anreisen, um einen Priester gegen die Zahlung von Geld für gute Geschäfte beten zu lassen. (Das war in Ausflugstipp von Eric, dem Belgier auf der Fähre, der mir aber auch mehrmals Myanmar als Traum-Reisedestination empfahl. Im November, als schon lange klar war, dass dort Tausende Rohingya umgebracht wurden. Wie weit kann man selektive Wahrnehmung treiben? Sehr weit anscheinend.)

Ich habe noch ein paar Mal versucht, das Thema Kirche und ihren Einfluss mit Ghanaern zu diskutieren, die im Westen leben oder für eine Zeit dort lang gelebt haben, also vom Atheismus zumindest gehört haben müssen: sinnloses Unterfangen; auf das Gesprächsangebot wird überhaupt nicht eingegangen. Die Kirche ist, scheint mir, unantastbar. Mit der Religion ist es wohl so wie mit den Kindern: Hauptsache, jeder hat eine. Viel wichtiger als die genaue Beschaffenheit deines Glaubens, ist, ob er dich zu einem guten Menschen macht. Und das ist halt leicht überprüfbar.

Was fehlen wird:

Luft. Frisch ist sie zwar meist nicht so sehr, aber nachdem ich – bis auf einem Kinobesuch und drei Fahrten in klimatisierten Bussen – praktisch drei Monate bei geöffneten Fenstern gelebt habe, wird mir das komisch vorkommen: abgeschlossene, schallisolierte Räume. 

Das Krähen der Hähne zu Unzeiten. Gut zu wissen, dass immer jemand vor einem wach ist. Das Geräusch des Reisigbesens auf dem Boden. Sittiche in der Kokospalme. Die Straßenstände mit frischen Kokosnüssen. Das Hupen der Eisverkäufer. Die Unterhaltungen und Diskussionen in der Nachbarschaft, die auf Twi oder Ga oder Fante abgehalten werden und von denen ich also nichts verstehe. Die irren Farben einer Siedleragame in der Sonne. Sowieso: das Licht und die Farben.

Diese grundsätzliche Nicht-Angepisstheit der Ghanaer und Burkinaben, die durch nichts so leicht zu erschüttern ist. Auch wenn es mir immer noch nicht richtig gelingt, angesichts dysfunktionaler Bankautomaten (die dann gern meiner Bank die Schuld zuschieben), sehr entspanntem Service und ausgefallener Strom-, Wasser- oder Internetversorgung zu relaxen – und mich die Aufforderung »Relax!« dann erst so richtig ausrasten lässt. Fluchen ist übrigens sehr verpönt, Beleidigungen auch im Straßenverkehr gelten als äußerst grob. Ständiges Hupen, auch wenn es rein gar nichts an der Situation ändert, ist dagegen absolut okay.

Der ewige Sommer. Neulich waren abends 27 Grad und ich fror. Soweit ist es also gekommen.

Eine von Christoph Schlingensiefs Fragen war ja, was von Afrika zu lernen sei. In diesem Sinne (unvollständige Aufzählung):

Man ist nie zu arm, um den anderen auf ein Getränk oder eine Mahlzeit einzuladen. Und sei es als Geste. 

Fremde sind ein Grund zur Freude und verdienen besondere Fürsorge.

Ein Kompromiss oder ein Provisorium ist auch eine Lösung und oft keine schlechte. Oder zumindest die einzige, die zu haben ist. Perfektionismus ist kompliziert und langweilig.

Wie man sich kleidet, ist niemals zu vernachlässigen. Um mit dem Motto eines burkinabischen Modegeschäftes zu sprechen: »Le style et le goût, ça parle de la reputation«. Und damit demnächst zurück ins Mutterland von Camp David. 

29.12.

Die Antwort auf die Frage, wie die christlichen Ghanaer Silvester feiern, in einem Claim: »Pray Your Way Into 2018«. Das Ganze nennt sich Crossover und geht um 20.30 Uhr los, in a church near you. Das islamische Jahr geht am 11. September 2018 zu Ende – ich glaube also, es wird ein ruhiger Abend in Accra. 

Apropos Ruhe: Ich finde ja, auch deutsche Tankstellen sollten grundsätzlich mit lauter Musik beschallt werden – Highlife und Afrobeat, versteht sich. Das hebt die Laune. Kwame, ein  sehr süßer und belesener Taxifahrer, mit dem ich gestern eine Stunde im Feiertagsrückkehrerstau verbrachte und der sich bereitwillig von mir den Weg zeigen ließ (»Ich versuche von jedem meiner Fahrgäste etwas zu lernen«, sagte er. Er interessierte sich besonders fürs deutsche Schulsystem. Er hat zehn Vollgeschwister, darunter drei (!!) Zwillingspaare. Ich rief: »Wie hat das deine Mutter nur hinbekommen!«, er sagte: »Ihr geht es gut, nur mein Vater ist schon tot«), wünschte sich, dass ich ihm zum Abschied ein deutsches Lied singe. Mir fiel tatsächlich als erstes Atemlos ein – das darf doch bitte nicht wahr sein! Ich sang dann LaLeLu, was Besseres hatte ich auf die Schnelle nicht zur Verfügung. Der populäre ghanaische Tanz, das lernte ich dann von Kwame, heißt übrigens Azonto.

28.12.

Zum Einschlafen auf Deutschlandradio Kultur ein Hörspiel gehört. Der Autor ist an die Bänder geraten, auf die Wolfram Siebeck in den 1980ern seine Restaurant-Verrisse gesprochen hat.  

»Die Schalotte ist von der ordinärsten Zwiebel.«  

»Die Karte ist allgemein verseucht von Touristen. Alle wollen sie fein kochen.« 

»Dazu gab es, und das war ganz besonders dämlich, einen Chinakohl. Um noch mal die Dummheit dieses Menschen zu dokumentieren: Die Käseplatte war von erbärmlichster Auswahl.«

»Das machen wir zu Hause besser. Da gehen wir nicht mehr hin.« (Wir, das sind er und seine Frau Barbara, die stets im Hintergrund zu hören ist, beipflichtend brummend.) 

»Primitiv« ist sein liebster Diss, »dagegen ist nichts zu sagen«, das höchste Lob im Rahmen eines Verrisses, etwa in: »Gegen diese Fischsuppe für ihre acht Mark {acht Mark! Das sind vier Euro!} ist nichts zu sagen«. Johanna Adorján schrieb mal sinngemäß: Wer »Da kann man nicht meckern« sage, wollte eigentlich meckern, fand aber leider nichts.

Einmal hat Siebeck während des Diktats einen Schluckauf von der ordinärsten Sorte. Auch nicht schön.

Dazwischen werden Leserbriefe verlesen: »Sehr geehrter Herr Siebeck, ich verfolgte ich Ihren Bericht im Fernsehen und dabei auch Ihre Demonstration des Tafelns. Mit vollen Bäckchen kauend nach dem Glase zu greifen, ohne vorher die Serviette benutzt zu haben, und zu trinken, ist ganz schlimm. Der passende Ausdruck hierfür ist Wasserspülung. Pfui, bäh. Das Aufstützen des Ellenbogens beim Trinken: Also wissen’se, nee.« Laut gelacht. 

27.12.

Am Abend nehmen die drei Angestellten des Resorts mich also auf eine Party. Sie heißen Mary, Margaret und Monica – kann man sich nicht ausdenken. Sie wohnen auch noch zusammen im Ort, nur ein Stück die Hauptstraße hinunter. Als ich da ankomme und mich auf einen Monobloc neben die Imbissfrau setze, tanzen sie alle in Tücher gehüllt und mit Eimern in der Hand vor dem Haus herum, in dem sie ein Zimmer bewohnen, bevor eine nach der anderen im Hinterhof verschwindet. Als sie zurückkommen, haben sie ihre kleinsten Kleider an. Laune: bestens.  

Die Action ist da, wo die gesamte Jugend Beyins hinzuströmen scheint: in einem größeren, teuereren Resort als dem unseren. Es handelt sich um eine Poolparty. Als wir eintreffen, ist der Palmwein schon alle, die Stimmung kocht nicht, simmert aber schön vor sich hin. Es läuft gepitcher Afrobeat, ich kann inzwischen die Refrains fast aller Hits mitsingen, im und am Pool tanzen Jungmenschen in verschiedenen Stadien der Angezogenheit. Es ist wie in dieser MTV-Show aus den 90ern, The Grind, nur dass die Leute nicht so weird tanzen und MTV das eindeutig nicht ohne Zensur ausstrahlen könnte. 

Es ist tatsächlich das erste Mal seit drei Monaten, dass ich ausgehe – von der Ashanti-Beerdigung mal abgesehen. Zu anstrengend. In Begleitung der Mädchen aber geht das gut. Ich habe die Rolle der Sugarmama inne und gebe Malzbier, Bier und Smirnoff Ice aus (seit 15 Jahren nicht getrunken, ich weiß jetzt auch wieder warum). 

Und passend zum Thema Sugarmamas telefoniere ich am nächsten Tag endlich mit meiner Informantin in Sachen afrikanischer Feminismus. Selbstständig, alleinerziehend mit einem zehnjährigen Sohn und einem neun Monate alten Baby, bei deren Betreuung ihr, seit sie sechs Wochen nach der Geburt wieder arbeiten ging, ihre ältere Cousine und ihr pensionierter Vater helfen. Die bezahlte Elternzeit in Ghana beträgt zwölf Wochen. Manche ihrer männlichen Freunde haben sich bei ihrem Arbeitgeber ein paar Monate frei genommen, als sie Kinder bekamen. 

»Als Weiße kann ich nicht sagen, welchen Anteil Sexismus und welchen Exotismus daran haben, dass mir auf der Straße jeden Tag irgendwer irgendwas hinterher ruft und dass ich, wenn ich nicht reagiere, höre: »It’s nice to be nice!«. Mir fehlt die Zeit, die Kraft und ehrlich gesagt die Hoffnung auf Verständnis, jedes Mal zu erklären, dass ich es nicht nice finde, entweder zum Objekt gemacht zu werden oder zur arroganten, grenzrassistischen Europäerin. Aber warum passiert das überhaupt und HOW THE FUCK DO YOU COPE WITH IT?
Das Catcalling auf der Straße ist von klein auf gelernt. Die Männer wachsen auf, sehen es überall und halten es für normal. Gleichzeitig dient es manchen von ihnen dazu, ihr Selbstbewusstsein ins Lot zu bringen. Viele, viele der Männer hier haben sehr fragile Egos. Ihre Aggressionen gegenüber Frauen verschaffen ihnen eine Überlegenheit, mit denen sie versuchen, ihr Selbstwertgefühl wiederherzustellen. Es ist die einzige Möglichkeit, die sie kennengelernt haben, sich gegenüber attraktiven und starken Frauen zu behaupten. In dem Moment, in dem du ihre Annäherungen zurückweist, fühlen sie sich in ihrer Gesamtpersönlichkeit abgewiesen. Das gilt für alle Schichten, Bildung spielt da keine Rolle. Ich habe mir einen Blick antrainiert, der in dem Moment, in dem ich die Straße betrete, kommuniziert: Ich lege keinen Wert auf Annäherung. Darin bin ich mittlerweile sehr gut.

Woher rühren aber die fragilen Egos der Männer?
Viele Frauen besonders in der Generation meiner Eltern wurden dazu erzogen, sehr stark zu sein. Sie arbeiteten, führten die Haushalte und kontrollierten einen Großteil der außerhäusigen Angelegenheiten. Die meistens Ehemänner wurden ihrer Rolle nicht gerecht, also suchten sich die Frauen für ein erfülltes Liebesleben andere Männer. Sie störten sich dann auch selten daran, was ihre verantwortungslosen Ehemänner derweil trieben. Das hat eine neue Generation von Männern heranwachsen lassen, die nicht wissen, was ihre Aufgaben in der Familie und der Gesellschaft sind - und wie man mit Frauen kommuniziert. Das läuft dann alles auf einen Sexismus hinaus, in dem sich Männlichkeit darin ausdrückt, wie atemberaubend deine Frau ist, ob sie sich dir unterordnet oder wie viele Konkubinen du hast. 

Der Horror!
So haben wir also unser halbes Leben mit diesem Nonsense zu tun. Wenn Frauen dann die 50 erreichen, passiert etwas Interessantes: Die Kinder sind erwachsen, sie sind erfolgreiche Geschäftsfrauen, und sind auf einmal an einem Punkt, an dem sie jüngere Männer erfolgreich kontrollieren können. Junger Mann, ältere Frau  - das ist in vielen afrikanischen Kulturen eingeschrieben und dient dazu, Männer, etwa aus den Königsfamilien, sexuell zu initiieren und sie auf den Kontakt mit Frauen in ihrem Alter vorzubereiten. Damit sie sich da nicht blamieren.

Das ist doch genial!
Ich bin noch nicht so alt, aber auch ich habe schon solche Angebote von jüngeren Männern bekommen. Sie zeigen entweder explizit oder andeutungsweise, dass sie für so ein Arrangement zu haben wären. Und Frauen lassen sich auf so etwas ein, finanziell, sexuell und emotional. Und manchmal hält es ein ganzes Leben.  

Hatte #MeToo hier irgendeinen Effekt?
Vielleicht den, dass sich ein paar Leute Gedanken um ihr eigenes Verhalten gemacht haben. Aber das breite Echo blieb aus. Dafür sind hier einfach viel zu viele verstrickt – kaum einer hat saubere Hände. Wenn du jemanden eines Übergriffs bezichtigst, musst du damit rechnen, dass er auf dich zurück zeigt und eine Situation findet, in der du mitgemacht hast. Viele  Frauen hier sind leider darauf angewiesen, sich gegen Geld oder geldwerte Vorteile auf sexuelle Gefälligkeiten einzulassen. 

Wie erziehst du deine Söhne?
Ich bringe ihnen das Putzen, Waschen und Kochen bei. Und ich versuche ihnen klarzumachen, dass ein großer Seelenfrieden und viel Schönheit darin liegt, wenn man auf gute Art und Weise mit Frauen zusammenlebt.« 

Überall dasselbe: männliche Anspruchshaltung, ausgespielte Macht und sehr, sehr viel zu tun. 

(Für Mascha und Sabine)

26.12.

Da will man zu Weihnachten einmal in Ruhe arbeiten, da überschlagen sich die Ereignisse. Am frühen Nachmittag dringen vom Strand her Rufe hinauf. Als ich nachschauen gehe, steht im Palmengarten des Resorts ein Dutzend junger Typen und zieht mit nackten Händen an einem Seil. Ich nicke zum Gruß und gehe dem Seil nach zum Strand. Dort ist es in einer Schlaufe um einen in den Sand gerammten Pfahl gelegt, weitere Männer stemmen sich gegen die im Wasser wirkenden Kräfte. Der am Pfahl winkt mich heran, er heißt Abraham, der Rufer ist Tony, er hat das Kommando. »Arrrrrrrrr, ar, arrrrrrrr. Moko! Moko!«

Am und im Wasser stehen zehn weitere, teils mit Sonnenbrillen, teils mit Turbanen aus T-Shirts, zwei haben diesen ausgestülpten Bauchnabel, den man oft sieht - Nabelbruch wegen schwerer körperlicher Arbeit. Manche sind noch Kinder oder Teenies, darunter ist auch der, der mir die Kokosnuss schenkte, ein Mann muss um die 70 sei. Er heißt Sylvester und trägt einen zerknautschten lilafarbenen Strohhut, der auch einer Dame seines Alters gut zu Gesicht stünde. Ich setze mich in den Sand und schaue zu, beobachte den Rhythmus aus Ziehen und Warten. Gewartet wird immer dann, wenn die Strömung so stark ist, dass das gegen sie Stemmen nichts bringt. Ich stelle Tony und Abraham Fragen, auf die es so halbwegs befriedigende Antworten gibt (»Wie oft macht ihr das?« - »Immer, immer«; »Wer ist der Chef, wer bezahlt die hier alle?« – Wir arbeiten alle zusammen, jeder hilft mit«), ich werde losgeschickt, um leere Plastikflaschen mit Trinkwasser aus dem Hahn zu füllen und irgendwann soll ich mit am Seil ziehen. Na gut. Die, die hinten fertig sind, laufen nach vorne ins Wasser, zwei tauchen weit draußen. Als am Ende des Seils das blaue Netz mit den gelben Plastikbällen darin zum Vorschein kommt, wird 500 Meter weiter den Strand hinunter eine zweite Schlange eröffnet, die Hälfte der Leute wandert ab und zieht dort. Der Teil des Netzes, der herausgezogen wurde, wir in Schlaufen auf Stöcken zusammengelegt.

Zweieinhalb Stunden nachdem die Operation begonnen hat, hat die Strömung sie einige Hundert Meter den Strand hinunter getrieben. Es liegen fünf Fischlein im Trog, mir wird etwas bang. Und dann ist der Mittelteil des Netzes an Land gewuchtet, darin Hunderte, wenn nicht Tausende Fische. Flapp, flapp. Und Quallen, leere Muscheln, ein paar Krebse, Plastiktüten, Treibgut. Auf einmal sind auch Frauen da, mehr Kinder, ein paar Hunde, über allem kreisen schon die Weihen. Die Fischer benutzen Blechtröge als Schaufeln, um den Fang erst in einem Transportcontainer mit Löchern aus dem Netz und von da aus auf Haufen zu verteilen. Zur Sortierung. Zwei, drei Schlangenähnliche mit Zähnen sind dabei, ein riesiger Octopus, Rochen mit ihren Grinsegesichtern, eine Schnecke, Haus und Tier zusammen dicker als ein Fußball. Ein großer Gelber, viel vom Fisch-Mittelbau, Sardinen. In den kopfgroßen Quallen verstecken sich auch welche. 

Die kleinen, runden, wie plattgehauen aussehenden Fischchen mit den goldenen Rücken sind die schönsten. Sie wirken wie aus Silberfolie genäht, unwirklich glatt und perfekt, ohne Schuppen. An ihnen ist wirklich gar nichts dran. Ein kleiner Junge im Spongebob-Shirt merkt, wie ich sie genau anschaue und mit dem Finger darüber streiche, er bringt mir ganze Hände voll davon. Die Krebse scheinen für niemanden von Interesse zu sein, sie laufen zurück ins Meer. Die Kinder sammeln das, was die Fischer nicht gebrauchen können, die Hunde fressen den Rest. Das Netz wird auf ein blaues Holzboot geladen und zurück in den Ort gebracht. Für die Standardware stehen Frauen mit ihren Blechtrögen bereit. Es entspinnt sich ein Streit zwischen Fischern und Händlerinnen um den Preis für einen, schätzungsweise, 30-Liter-Trog voller Fisch. 30 Cedis, sagt Abraham, sei ein guter Preis. Knapp 5,80 Euro. 

Eine junge Frau namens Charlotte sagt, ich solle mir was aussuchen. Nein, nein, als Geschenk und doch, doch, die im Resort würden mir das heute Abend zubereiten. Ich sage, mal wieder: »Ihr Leute seid unglaublich«.
Einer der Fischer reicht mir den Octopus. Als ich entsetzt schaue, versucht er es mit dem großen Gelben. Ich lasse ich drei Fische in überschaubarer Portionsgröße reichen, einen für mich, die anderen beiden für die Hotelmannschaft. 

24.12.

Nichts geht über ein Glas hausgemachten Gin am Weihnachtsmorgen. 

Auf der Fahrt von Elmina schaue ich wieder aus dem Trotrofenster in die Landschaft, fünf Stunden lang - wird einfach nicht langweilig. Dass für einen Teil der Bevölkerung Weihnachten ist, merkt man nur beim genauen Hinsehen: Ab und zu liegt am Straßenrand eine Decke voller Kuscheltiere zum Verkauf, manchmal trägt ein Bauarbeiter oder Taxifahrer eine Weihnachtsmannmütze oder eine glitzernde Spaß-Brille, die die Zahl 2018 beschreibt. Die Kirchen sind schon um die Mittagszeit so voll, dass manche draußen stehen müssen. Keiner wünscht »Merry Christmas« - vielleicht weil nun mal nicht alle feiern. Dafür tragen die Leute, die feiern, ihre schönsten, buntesten Outfits, manche Frauen gehen unter weißen Stoffsonnenschirmen, was zusammen mit ihren ab dem Knie ausladenden weißen Kleidern fast viktorianisch wirkt. Der Soundtrack der Weihnachtstage ist ohrenbetäubender Highlife aus dem Autoradio – alles wie immer also. Der Fahrer gibt entsprechend Gas. 

In Beyin angekommen, ich war der letzte Fahrgast an Bord, stellt sich der diensthabende Manager im weihnachtsschmuckfreien kleinen Resort als »Bossman« vor, er ist aber sehr zuvorkommend. Bossman hat die Schildkröten-Nachtschicht: Er passt am Strand auf, das niemand die im Sand vergrabenen und durch eine Holzbox ohne Boden geschützten Eier klaut. Knapp zehn Euro zahlen sie jedem Dorfbewohner, der 200 intakte Schildkröteneier abgibt, statt sie zu essen. Die Eier sind so groß wie Tennisbälle, drei bis fünf Monate bleiben sie im Sand, bis die Babys schlüpfen und ins Meer laufen wollen. Das ist der Moment, in dem Bossman vor Ort sein und die Holzboxen entfernen muss, deswegen kuckt er jeden Tag nach dem Rechten. Je nachdem, wie warm es war, schlüpfen kleine Weibchen oder Männchen.    

Die riesigen Wirbel und der ein Meter lange Schenkelknochen auf der Terrasse der Rezeption wurden hier am Strand angespült. Die Wirbel könnten einem Wal gehört haben, der Schenkel nur einem Elefanten. 

Bis zur Elfenbeinküste sind es nur 15 Kilometer. Hätte ich zwei Tage mehr Zeit, würde ich fuer die vier Stunden nach Abidjan fahren. Es soll sich um eine rechte Glitzermetropole handeln, mit einer Pyramide im Zentrum. Außerdem: Restaurants. Selassie, die Köchin, hat mir bestätigt, dass die Kolonialmacht Frankreich einen positiven Einfluss auf die Esskultur der frankophonen Länder hatte: mehr Gänge und mehr Raffinesse als die Engländer. Auf die Frage nach den drei afrikanischen Foodie-Ländern – sie kennt 45 von 57 der Staaten auf dem Kontinent –, sagte sie: Côte d’Ivoire, Kamerun und Senegal. Der Gewinner beim Baguette-Wettbewerb in Paris kam im vergangenen Jahr aus dem Senegal. Voilà. Emma, eine Exil-Ivorin, die ich am Krater-See traf, erzählte mir: Wenn man in ihrem Land jemanden wegen seines Kleidungsstils beleidigen will, sagt man: »Du siehst aus wie ein Burkinabe«. Und die fand ich ja schon sagenhaft. Kann aber auch sein, die Ivoren finden die Burkinaben altmodisch gekleidet. Also genau das, was ich mag. Côte d’Ivoire dann: nächstes Mal.

Hier ist es aber auch gut. Ziemlich sogar. Wort-Instagram: Ich bin der einzige Gast. Von meiner Hütte mit den bodentiefen Fenstern und der Terrasse sind es ein paar Meter zum Meer. Himmel und davor Palmen wie in Miami Vice. Am Strand kein Mensch, nur in der Ferne ein paar Fischerboote und ein paar Kinder, die angelaufen kommen und fragen, ob ich gern eine Kokosnuss zum Trinken hätte - einfach so. Nchts gibt es hier so reichlich wie Kokosnüsse. Der Älteste öffnet sie mit ein paar gezielten Schlägen seiner Machete. 

Der (deutsche) Weihnachtsmorgen: Am Strand steht eine ponykleine, schwarz-weiße Kuh. Kurz nach Sonnenaufgang schießt jemand im Palmenhain ein kleines, bunte Funken sprühendes Feuerwerk in den rosafarbenen Himmel. Dann ein Ausflug.

Kein Mensch weiß so genau, warum die Bewohner von Nzulezo im 15 Jahrhundert entschieden, ihr Dorf auf Stelzen ins Wasser eines Sees zu bauen - nicht einmal sie selbst. Sie sind keine großen Fischer, sie verehren keinen Wassergott, es ist sicherlich nicht praktisch. Aber schön sieht es aus. Eine Stunde dauert die Kanufahrt durch die Wetlands von Amansuri. Die Affen sind schon weg, dafür gibt es bunte Vögel. Eine Zeit lang paddeln wir durch Dschungel, nur eben in nass und sumpfig. Meinem Kanu-Staker und mir kommt ein Einbaum entgegen, der Typ darin haut mit einer Keule nach Katzenfischen im Wasser. Im Stelzendorf selbst gibt es eine Bar, eine sickbay genannte Krankenstation und drei Kirchen: römisch-katholisch, methodistisch, Pfingstgemeinde. Die kleinsten Kinder müssen gut beaufsichtigt werden, damit sie nicht ins Wasser plumpsen, mit drei bis vier Jahren lernen sie das Schwimmen, danach das Kanupaddeln. Ich trinke einen Schluck vom apatche, destilliert nicht aus Wacholderbeeren, sondern aus der Bastpalme, aus der auch die Dächer der Häuser und die Staken gemacht werden. Um den Häuptling des Dorfes treffen zu dürfen, muss man allerdings eine Flasche gekauften Alkohol mitbringen. Er lächelt dann nur und lässt seinen Zögling sprechen.  

Die zwei Mädchen aus der Küche des Resorts fragen mich, in welche Kirche ich ginge, und ob ich heute Abend gern mit ihnen käme. Hm, nö. Aber morgen Abend zur Nicht-Kirchen-Musik begleite ich sie gern.

Nach einem Meerbad beobachte ich die sandfarbenen Krabben. Wenn man stillhält, erscheinen sie auf einmal wie aus dem Nichts – Hunderte von ihnen. Manche sind fingernagelklein, manche so groß wie Handflächen. Jede von ihnen gräbt sich mit einer ihrer beiden Schaufeln ganz schnell ein Loch, der Sand wird ein paar Zentimeter weiter abgeladen. Dann setzt sie sich so rein, dass nur noch die Stieläuglein rauskucken, und wartet auf Fliegen und Käfer. Mit einem Satz ist sie i m  K r e b s g a n g hingeeilt, hat das Insekt gepackt und verspeist.  

Ein Gedanke, der mich ein bisschen verrückt macht: dass das Meer schon seit jeher genau so Wellen schlägt und rauscht, seit Millionen von Jahren, ohne auch jemals nur eine Sekunde aufzuhören. Dass da etwas auf diesem Gesteinsbrocken im All hin und her schwappt, vielleicht für immer. 

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