»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

25.1.

Heute um 13 Uhr 50 ist es soweit, dann sind die 24 Tage um, der Merkur scheint sich dann wieder auf den Planeten Erde zuzubewegen und der schädliche Einfluss des Retrograde-Phänomens – zumindest behauptet das Kate bei mynameiskate.ca – verschwindet sofort. Kate sagt, wer sensibel ist, spüre es schon kurz nach zwei. Ich bin gespannt.

Kosmische Kräfte scheinen mir auch mitverantwortlich bei der Gestaltung meines heutigen Nachtschlafes. Eine Präzisierung tut not, da ich gestern auch in den Tagstunden extrem viel geschlafen habe. Pünktlich zum Ende des Merkurrückzuges lief nämlich meine Probezeit für den Premiumzugang von Zattoo.com aus. Da ich das Angebot so gut wie gar nicht genutzt hatte, fühlte ich mich schlecht. Verschwendung aller Art lehne ich grundsätzlich ab, also verbrachte ich den ganzen Sonntag damit, das Premiumangebot – es war so langweilig. Gut fand ich, dass ich davon andauernd müde wurde. Und zwar in regelmäßigen Wellen. Ich schlief alle dreiviertel Stunden ein und wachte nach circa einer halben wieder auf. Warme Mahlzeiten schwächten noch zusätzlich, also griff ich auch dort, und das hemmungslos, zu.

Bedauerlich, dass es kaum Produktinnovationen mehr zu geben scheint. Dafür, dass ich zum ersten Mal seit dem vergangenen August (da zog Merkur sich Anfang September zurück) ferngesehen habe, kam mir einzig dieser potthässliche Empfängniscomputer neuartig vor. Ich bereue es im Nachhinein total, dass ich nicht mitgeschrieben habe, aber der Slogan war so ähnlich wie »schöner empfangen«, also auf jeden Fall etwas mit schöner. Allerdings sieht das Gerät selbst derart pädagogisch aus – mit gummierten blauen Griffschalen, wie ein Klumpen von Oral B, auf dass er uns ja nicht und niemals aus der Hand rutschen möge und womöglich auf den K ü c h e n f u ß b o d e n, oder auf den im Bad, schließlich befindet sich doch eine Harnprobe im Gehäuse! Gut, aber davon abgesehen – rätselhaft auch, weshalb der in den neunziger Jahren populäre Empfängnisverhütungscomputer Persona*, der um so vieles besser und somit auch dem Themenkreis angemessener aussah – ganz glatt und weiß glänzend – (und der unter seiner hübschen Schale wohl exakt den selben Chip enthielt), noch als Empfängnisverhütungscomputer beworben wurde und dieses pädagogisch gestaltete Nachfolgemodell als sein angebliches Gegenteil: einer Empfängnishilfe.

Aber davon abgesehen: Wo war beispielsweise der Spot für die Butterkekse von Leibniz in der Special Edition mit dem Aroma von Lemon-Cheesecake? Der für den Klassiker kam gestern mehrmals, da steigt so ein Twen zu einem Teenie auf den Rücksitz und während die Eltern vorne die Szene aus Finsterworld nachspielen, zeigt die Kamera auf dem Rücksitz, wie der Twen dem Teenie beim gemeinsamen Kekseknabbern ein Lächeln schenkt, weil er beim Biss in die knusprigen Zähnchen des Butterkekses einen Proustian rush genießt, der ihn sich selbst auf der Rückbank eines anderen Kombiwagens zu einer anderen Zeit, aber mit identischen Butterkeksen als Teenie erleben läßt. Ich hoffe, hoffe und hoffe doch sehr, dass es Notizbücher waren, in seinem riesigen Rucksack!!!

Diese Klage ließe sich fortsetzen, ich tue das nicht. Generell scheint die Innovationskraft der Menschheit, zumindest was Lebensmittel und Hygieneprodukte anbetrifft, an eine Grenze oder gläserne Decke zu stoßen, auf jeden Fall scheint sie, die Innovationskraft, endlich. Das sehe nicht nur ich so, das wird auch bei McSweeneys so beurteilt, wo vor ein paar Jahren noch mehrmals im Jahr die Review of New Food veröffentlicht werden konnte. Nun ist vor ein paar Tagen die erste Ausgabe für 2016 erschienen, Mercury in full swing sozusagen, und sie war echt lahm. Leider. Das mit den Gourmetsalzgurken: ja. Aber mittlerweile tut man sich offensichtlich sogar in den Vereinigten Staaten schwer, neue Snacks zu erfinden.

Bleiben, was TV anbelangt, halt noch Autos und Versicherungen. Interessiert mich beides nicht, siehe »Turn my Way« von New Order.

Geschlafen habe ich dann wie ein Leuchtturm. Also in stündlichen Intervallen ganz tief und schwarz, dann kurz, aber hellwach, dann wieder eingeschlafen, dann, nach einer Stunde, wieder wach (ich habe jeweils auf die Uhr gesehen), und immer so weiter und immer so fort, bis es endlich 5 Uhr 26 war.

* Mit dem gleichnamigen Film von Ingmar Bergman hat der Empfängnisverhütungscomputer nur den Namen, beziehungsweise dessen Titel, gemein. Aber den Film anzuschauen lohnt sich!

24.1.

Vor einem Monat war Heiligabend, da saß ich mittags noch auf dem Balkon in der Sonne und – tja, ich weiß leider nicht mehr genau, was ich genau da gedacht habe, weil ich damals noch nicht jeden Gedanken auf eine Möglichkeit hin untersucht habe, ob sich etwas ankristallisieren ließe.

Balkon geht heute wohl gar nicht. Gestern früh gab es zuerst einen Schneesturm, das blieb auch nach Sonnenaufgang bis nach elf Uhr so, als ich längst im Schädels saß und Sarah Illenberger mir sagte, sie hätte auf der Party des Zeitmagazins ein schönes Video von mir gemacht und darin sänge ich, wie sie fände: wunderschön ein Lied von Whitney Houston. Ich glaube, es war All at Once. Ich kann mich nicht erinnern. Möglich ist es aber, und warum sollte sie es sich auch ausdenken – um mich zu gaslighten? Dazu ist das angebliche Video doch viel zu harmlos. Ausgezogen habe ich mich dort jedenfalls nicht.

Auf dem Nachhauseweg höre ich dann den Rest des neuen Albums der Antilopen Gang: Gibt es derzeit bessere Texter in Deutschland? Ich glaube nicht. Vor ein paar Wochen war im Magazin der Frankfurter Allgemeinen ein sehr gutes Interview, das Timo Frasch mit Farin Urlaub geführt hatte. Da ging es unter anderem auch um die Dichtkunst, aber leider nicht um dieses Album namens Abwasser. Die kritische Meinung von Farin Urlaub zur Lyrik der Antilopen Gang hätte mich interessiert. Mir gefällt jedes einzelne Stück, no fillers just killers sozusagen, insbesondere liebe ich diesen Vers, in dem Danger Dan entlang der einzelnen Posten seiner Gebrechlichkeit begründet, weshalb es überflüssig sein wird, ihn zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung herauszufordern:

Mich zu boxen ist nicht schwierig

Ich bin leider behindert

Wie es aussieht werde ich

Mit Mitte dreißig erblinden

Das macht mich zu einem Gegner, der

Wenn Du ihm eine Kelle gibst

Nicht ausweichen kann

Zu Boden geht und auch noch Sterne sieht

Mich zu verprügeln ist vergebliche Mühe

Wenn ich ganz normal herumlauf’

Hab‘ ich schmerzende Knie

Mir tut eh alles weh

Von den Füßen bis zum Schulterblatt

Und auch ohne einen Uppercut

Brauch‘ ich einen Zahnersatz

Das macht mir alles derart gute Laune, dass ich, kaum Zuhause angelangt, sofort einen Projektförderungsantrag tippen kann, was ich jetzt schon drei lächerliche Wochen lang vor mir hergeschoben hatte. Am Dienstag ist Deadline und von daher haut das jetzt alles noch pünktlichstens hin.

Inzwischen war aus dem Schneesturm auch ein Sprühregen geworden, was auf den Straßen und Trottoirs natürlich die allerunangenehmste Sauerei erzeugen würde. Dazu herrschte von den Dächern aufwärts betrachtet noch Nebel: insgesamt also kein Wetter, das ich gutheißen könnte, zumal ich in der vergangenen Nacht wegen heftiger Schübe von Gicht oder Arthritis bereits zwei Mal aufgewacht war. Aber mit diesem Schmerz verhält es sich wie mit meinem quälenden Gefühl beim Warten neben dem Telefon: Kaum kommt dann der Anruf, kaum nehme ich die kleine Menge Diclofenac zu mir, ist alles vergessen, was mir bis dahin noch als unheilbar und nicht auszuhalten erschienen war.

Egal, ich ging dann noch einmal zu Markus, weil es dort samstags immer das Ofenhuhn gibt, und aß gleich zwei Teller davon hintereinander mit Kartoffelpüree. Und Moritz saß gleich nebenan, wir ließen die Party Revue passieren, aber er konnte sich an meinen Auftritt als Whitney Houston leider auch nicht erinnern, weil er, und darin schien er mir sicher, selbst gar nicht auf der Party des Zeitmagazins gewesen war.

Zuhause dann bis in die frühen Morgenstunden in diesem schönen, aber halt auch ganz schön traurigen Buch gelesen, in dem die Manuskripte, teilweise auch Briefe, von Schriftstellern daraufhin untersucht werden, inwiefern, in welcher Form und von welchem Ausmaß sich darin deren persönliche Schicksalsschläge manifestiert haben, so diese sich während der Arbeit an den jeweiligen Texten ereigneten. Die Wahrscheinlichkeit ist ja ziemlich hoch, denn an irgendwas schreibt man ja immer. Und wenn es bloß ein Projektantrag ist – oder Tagebuch. Ist auf jeden Fall so faszinierend wie anrührend, so wie bei Bäumen, wenn die durchgeschnitten werden und dann analysiert man die Ringe von innen nach außen und wo es wann eine Verwerfung gab, eine Dürre oder einen Vulkanausbruch.

Einer, ein Mexikaner, inzwischen längst schon vergessen, es gibt ihn nicht einmal mehr bei Wikipedia, hat einen Liebesbrief angefangen, und man merkt, da ist noch das Tastende, mit dem er, anhand dieses Echolots, seine Gefühle für sie erforscht, seine Liebste. Und er formuliert da mit dem, was er ihr schreibt, vor allem auch den Wunsch nach einer gemeinsamen Welt, die es für sie beide geben möge. Bis, so wird es vom Herausgeber erklärt, etwas geschehen sein musste, was ihn von der Vollendung dieses Briefes abhielt. Und zwar wohl für die Dauer von einigen Tagen. Von ziemlich vielen, um genau zu sein. Das lässt sich durch die übrigen Quellen, die der Herausgeber heranzieht, belegen; unter anderem durch die Tagebücher von ihr und von ihm. Unbegreiflicherweise setzt er nach dem ersten Schock und einer Phase des Leidens, in der er sich vornehmlich seinem Tagebuch anvertraut, aber auch einen Freund konsultiert, was sich wiederum durch ein Protokoll jenes Abends in dessen Tagebuch belegen lässt, sowie einer Korrespondenz auf Postkarten, die jener Freund des Liebesbriefschreibers an dessen Liebespartnerin schickt, als all dies also nur wenig Linderung bringt und auch nicht zu fruchten scheint, hinsichtlich einer Versöhnung mit seiner Liebsten, entschließt er sich, den Brief fortzusetzen. Er fängt nicht etwa neu an, er lässt den Anfang unangetastet, wo alles noch anders war, wo sich alles noch ganz anders für ihn dargestellt hatte, auch er selbst übrigens; nun kennt er sich nicht unbedingt besser, aber zumindest von einer anderen Seite, und er wechselt noch nicht einmal die Tintenfarbe oder den Stift. Er zieht auch keine Linie quer über das Papier, oder nimmt in einer Formulierung Bezug auf die Ereignisse vor dem Bruch.

Es ändert sich einzig der Ton. Was er ihr schreibt, bleibt schön und an manchen Stellen ist es wunderlich, etwa, wenn er ihr ankündigt, von nun an in jeder Nacht, vom Einbruch der Dämmerung an, eine Kerze bei sich im Fenster aufzustellen. Man weiß seine damalige Wohnadresse, das war keinesfalls an der Küste. Da gab es kein Meer.

Von etwaigen Antworten ihrerseits scheint sich nichts erhalten zu haben. Ist, wie gesagt, auch schon sehr lange her.

23.1.

Etwa in der Mitte von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit wird ein Telefon eingeführt. Und mit dem Apparat wird dem System der Qualen, das der Erzähler sich gebaut hat, eine zusätzliche Funktion hinzugefügt: Warten neben dem Telefon. Warten auf einen Anruf von Albertine.

Wobei das Warten auf einen Rückruf, nach der Bitte auf einen Rückruf, sich noch quälender anfühlen kann, als auf einen Anruf, der von sich aus nicht kommt oder kommen will. Qualia der Qual, ein ozeanisches Thema.

In der allerersten SMS, die, Jahrzehnte sind es mittlerweile, verschickt wurde; einfach bloß, um die Leistungsfähigkeit des Trägersignals von Mobilfunkfrequenzen zu testen, stand »Happy Christmas« – was denn auch sonst!

»Hallo!« wäre noch denkbar. Oder »Hey!«

SMS sind inzwischen selten geworden, dadurch auch wertvoll. Wie Postkarten. Meine allererste E-Mail-Adresse bestand aus einer vier Zentimeter langen Zahlenkombination@compuserve.com. Vor zwei Jahren hatte ich Heimweh nach dieser Adresse, aber sie ließ sich nicht mehr reaktivieren. Compuserve gehört heute zu AOL. Eine bei AOL hatte ich zwischendurch auch mal. Die coolste E-Mail-Adresse, die ich kenne, gehört Ralf Hütter.

Auf der Party von Dandy Diary in diesem Lagerhaus in der Voltairestraße, das ich zuvor noch nie wahrgenommen hatte, was mich nicht wunderte, weil diese Straße gleich hinter dem grässlichen Kaufhaus mit der roten Fassade verläuft, zog ich irgendwann mein Telefon heraus, um nach der Uhrzeit zu schauen, da sagte eine Person mir gegenüber: »Hä – was ist das denn? Damit kann man ja gar nicht bloggen!«

Dafür hat das 6310 aber Infrarot!!!

Gestern ist es mir wieder einmal runtergefallen, und seither klackern hinter dem Gehäuse im Hörmuschelbereich losgebrochene Teile, sobald ich das Gerät schüttele.

Schüttele ich es halt nicht mehr.

Beinahe schlimmer, nein: viel schlimmer als ein Anruf, der nicht kommt, ist der Anruf von Falschen. Also von Anrufern, auf deren Anruf man nicht wartet. Qualia des Anrufes: Mag er auch noch so nett gemeint, noch so erfreulich von seinem Inhalt her, von seiner Ausdehnung über die Gesprächszeit gemessen – es bleibt die falsche Person, die mich anruft; ich hatte mich nach dem Anruf einer anderen Person, nach ihrer Stimme gesehnt. Das Sehnen nach dieser Person und ihrer Gegenwart, transportiert und vermittelt durch ihre Stimme, hat die Intensität meiner Qual bestimmt. Auch deren Beschaffenheit, die Qualia der Qual, die charakteristisch geworden ist für mein Warten auf einen Anruf dieser Person; unverwechselbar durch meine Erinnerungen an all die vorhergegangenen Telefonate mit dieser Person.

Die geliebte Stimme. Im Nachhinein erhellt sich bei mir eine Fotografie davon, ein historisches Dokument, das zugleich vage bleibt, weil es allein in seiner Gänze fassbar geworden ist und nicht etwa in Partikeln, den einzelnen Lauten oder Sätzen. Wie Sämtliches in meiner Erinnerung, besteht auch die Erinnerung an Telefongespräche jeweils aus Bildern.

Telefonate mit der Muse bestehen aus Ringen in hellem Blau und Beige. Ich weiß, das kommt daher, dass wir einmal sechzehn Stunden am Stück telefoniert haben und irgendwann war ich körperlich so am Ende, obwohl ich natürlich unbedingt weiterhin empfangen wollte und auch etwas senden, aber über sechzehn Stunden: Wenn man da keine Energieriegel zu sich nimmt und

a) viel zu wenig

und

b) dann auch noch das Falsche trinkt,

dazu

c) die Hormone das Gehirn dergestalt grillen, dass

es irgendwann schlapp macht, beziehungsweise: knipst es dann einen Bildschirmschoner an. Effektiv ist es ein Wahrnehmungsschoner und in dem Fall war das ein Kaleidoskop aus beigen und hellblauen Ringen, deren Formen sich mein Gehirn von den Lochverstärkungsringen geliehen hatte, diesen Aufklebern, mit denen man bei oft benötigten Papieren die Lochungen durch selbstklebende Ringe aus weißer Polyurethan-Folie verstärkt.

Aus derart willkürlichen Geistesblitzen, aus Farbe und Form entsteht dann also eine Urszene, die mein Verhältnis zu einer anrufenden Person fürderhin prägen wird.

Für Dich, sagt die Muse, soll es Fantastillionen hellblauer und beiger Ringe regnen

Dir sollen noch krasseste Wunder begegnen

Die sogenannte Welt, auch deine, soll sich gefälligst mal umgestalten

Und ihre Sorgen für sich behalten

Auf der Party des Zeitmagazins traf ich Frédéric Schwilden, der ja in echt so aussieht wie Marcel Proust auf den Gemälden. Insbesondere wie auf jenem von Jacques-Émile Blanche, das als Postkarte auf meinem Schreibtisch vor mir steht und mich ansieht. Am Morgen nach dieser Party wurde mir aber klar, dass von den einst noch sehr vielen Dingen beinahe nichts mehr übrig geblieben ist, wovon ich Marcel Proust gern erzählen würde. Außer: dass es mit einem Telefon zum Herumtragen nicht etwa besser würde mit seinem Warten auf Albertine. Den letzten Satz könnte man eventuell streichen, aber ganz unwichtig wäre es für Proust eben doch nicht: es würde eventuell sogar noch schlimmer dadurch.

22.1.

– Hey!

– Selber Hey!

– Was machst du gerade?

Guitar Hero.

– Aha. Was denn exakt?

Verstärker. Das Setting heißt: Rock am Ring.

– Kann ich mir vorstellen. Und dann?

– Schreiben. Und weiter an dich denken. Ich wollte deine Stimme hören.

– Aber du rufst mich nie an!

– Stimmt. Wobei, neulich ja doch. Ist aber schon zwei Wochen her.

– Drei!!!

– Ewig.

– Ja. Das stimmt.

– Wo ist eigentlich diese ganze Zeit hin, die wir einst füreinander hatten?

– Die war bloß geliehen. Jetzt wird zurückgezahlt.

– Das ist doch beschissen.

– Finde ich auch.

– Und was ich dir noch sagen wollte: Dieses Ding mit der Bank, von der wir uns diese ganze Zeit geliehen haben, das war eine Fehlentscheidung. Die Zinsen sind Wucher, finde ich.

– Ist echt so. Total.

– Gut, hilft ja nichts.

– Ich mach’s wieder gut.

– Ich weiß.

– Komm, ich lese Dir was vor.

– Au ja!

– Hier, warte…

– Wie riecht das denn?

– Na, super gut natürlich! Also: »Der Begriff der Minne spielt ins Freundliche, Lustbare. Er wurde zur Liebe mit Ausschluss des Leids. Also, was wir physiologisch Lust nennen. Ein Teil nur der Liebe. Die Minnesänger sind aber gar keine Lustsänger. Die Sehnsucht, die sie besingen, ist recht leidvoll, weil ungestillt oder von Neuem der Stillung bedürftig. Das, wonach sie sich sehnen, ist freilich der Minnesold, der Lohn des Leids. Frau Venus heißt Frau Minne. Und dann, wenn die ritterlich sehnsüchtige Umwerbung im Meer der Zeit verebbt, ist Minne bloß noch Koitus. Es ging dem Wort Minne so wie dem französischen baiser, das man heute anständigerweise nicht mehr gebrauchen darf. Der französische Vater küsst die Tochter nicht mehr, er umarmt sie auf die Stirn.

Im Jahre 1468 gab der Bastard von Burgund ein prächtiges Turnier zu Ehren der zweiten Gemahlin Karls des Kühnen, der Prinzessin n‘ importe quoi. Dabei meldete sich ein burgundischer Ritter namens Jehan de Chassa und bat in folgendem Schreiben die versammelten Personen um die Gnade, am Turnier teilnehmen zu dürfen:

Erlauben sie, Hochgeborene und Großmächtige Fürstin und Frau, meine übrigen gnädigen Prinzessinnen und Damen, dass ihnen ein Ritterknecht, geboren im Königreich der Knechtschaft, seine Ankunft in dieser edlen Stadt, und zwar in Gesellschaft eines irrenden Fräuleins kundtut, deren Leitung ihm durch Befehl seiner schönen Gebieterin übergeben worden ist. Der Ritterknecht kann mit Wahrheit versichern, dass er sein ganzes Leben einer Dame in Sclavionien mit allen Kräften gedient, und dass die Dame ihn zwar mit Hoffnungen hingehalten hatte, aber sich nie entschließen konnte, ihn zu ihrem Diener anzunehmen. Da seine Liebeskrankheit so sehr zunahm, dass er ihre Qualen nicht länger ertragen konnte. So unterstand er sich in einem Zustande von verzweifelter Hoffnung, um Mitleid, Gnade und Linderung seiner Liebespein zu flehen, deren er sich zwar nicht würdig fühlte, welche er aber doch durch seine treue Ergebenheit verdient zu haben glaubte. Dieser demütigen Bitte ungeachtet, fuhr die erwähnte Dame in ihrer stolzen Gleichgültigkeit, in ihrer Unbotmäßigkeit gegen die Liebe, und in ihrer Vergessenheit der weiblichen Tugend der Barmherzigkeit immer fort, und raubte ihm alle Hoffnung, dereinst in dieser Welt glücklich zu werden. So sehr, dass er sich voll Wut und Kummer in eine einsame Wohnung zwischen Asphalt, Plattenbauten und Diskotheken zurückzog, und hier neun Monate lang von nichts als von Reue, Seufzern und Tränen lebte. Wenn dieser Zustand länger gedauert hätte, so würde der irrende Ritter bald das Ende seines Lebens erreicht haben. Nachdem aber die Dame von seinem Zustande Nachricht erhalten hatte, so empfand sie Reue über ihre sündliche Undankbarkeit, schickte das erwähnte irrende Fräulein, welches ihn führen sollte und ließ ihm durch diese Dame viele schöne Vorstellungen machen: Dass die Seligkeiten der Liebe durch langes Harren, durch langwierige Drangsale, und durch unaussprechliches Dulden erkauft werden müssten. Dass ihre Freuden umso köstlicher seien, um einen je höheren Preis man sie erworben habe. Und dass es in der Liebe keine größere Sünde gebe als die Verzweiflung

(Dann lange nichts).

– Weinst du?

– Ein bisschen.

– Wegen uns?

– Nein, nicht wegen dir. Ich kann dieses Bild nicht vergessen, mit der Landart auf Lesbos. Diese Berge von Schwimmwesten. Am 5. Januar allein wurden dreißig Leichen angeschwemmt. Nicht alle auf einmal, aber als es dunkel wurde, waren es dreißig. Dreißig Menschen, alle tot. Es gibt diesen Film, Rain heißt er – kennst du den?

– Du hattest mir doch gesagt, du magst keine Filme.

– Ich mag sie auch nicht, ein paar dann halt schon. Der spielt in Neuseeland. Es geht um einen kleinen Jungen und seine große Schwester. In dem Film wird kaum gesprochen. Man sieht die Kinder, wie sie ihre Eltern beobachten. Also, wie sie das erleben: diese Erwachsenenwelt. Erzählt wird die Ferienzeit, die Eltern sitzen tagsüber hinter dem Haus in Liegestühlen und betrinken sich. Der Vater quetscht sich eine halbe Zitrone in jedes Glas Whisky, das er trinkt und am Abend ist da ein ganzer Sandeimer voll mit seinen Zitronenresten.

Dann geht die Party los und es kommen jede Nacht Gäste. Die Eltern schlafen bis mittags und der kleine Junge hat nur ein Unterhemd an, wenn er sich die Milch aus dem Kühlschrank holt, die er im Stehen aus der Flasche trinkt. Dann darf er zu seiner Schwester ins Bett, aber er hält das nicht lange aus; er kann nicht noch länger schlafen. Er geht dann allein in den Garten und hinunter zum Strand. Er ist nicht zu klein, aber er kann noch nicht schwimmen.

Nachmittags liegen sie alle auf einem Segelboot in der Sonne. Das Boot gehört einem Fotografen, der Vater ist besoffen und die Schwester beobachtet, wie der Fotograf sich unterdecks an die Mutter heranmacht. Sie nimmt seinen Schwanz in den Mund, danach fickt er sie. Es ist das totale Klischee, aber man spürt, dass es etwas Neues ist für das Mädchen. Sie sieht das zum ersten Mal, weil sie es selbst noch nicht erlebt hat. Der Fotograf wirft später seine Uhr über Bord und die Mutter taucht die wieder hoch vom Grund der Bucht. Als der Vater aufwacht, sind alle von Bord.

Und später dann, auf der allabendlichen Party, tanzt die Mutter mit dem Fotografen zu Urge Overkill. Sie ist aber so besoffen, dass sie über den niedrigen Tisch stolpert und hinfällt. Niemand hilft ihr auf. Dem Mädchen fehlt die Kraft, sie hochzuziehen. Deshalb schimpft die Mutter, weil ihr das alles peinlich ist. Der Fotograf wartet im Kinderzimmer. Der kleine Junge tut so, als ob er schon schliefe, und der Fotograf fragt das Mädchen, ob er morgen von ihr Bilder machen darf.

Sie treffen sich in dem Kiefernwald, der die Bucht umgibt. Eigentlich sollte sie auf den kleinen Bruder aufpassen, aber den lässt sie am Strand zurück. Das Mädchen lässt sich von dem Fotografen ficken. Als sie zurückkommt, ist der kleine Junge tot. Ertrunken. Er hat nichts an, bloß das Unterhemd.
Dann kommt der Vater und trägt ihn nach Hause. Der Vater schreit. Die Mutter haut ihn.

– Kann ich verstehen.

– Ja, ich auch. Aber weißt du, mir fällt jetzt ein, dass ich etwas vergessen habe. Eigentlich ist das wohl der Clou der Geschichte und ich frage mich gerade, warum ich ausgerechnet den vergessen habe, dir zu erzählen.

– Ich weiß.

– Wieso? Kennst du den Film etwa doch schon?

– Nein, kannte ich nicht und ich weiß jetzt auch gar nicht mehr, ob ich den überhaupt noch sehen will – weil so schön, wie ich den gerade gesehen habe, kann er doch gar nicht sein.

– Das hast du schön gesagt, Danke.

– Bist du jetzt noch traurig?

– Ein bisschen. Aber das ist doch immer so bei mir.

– Komisch, oder? Dass man es trotzdem spürt, auch wenn es doch jeden Tag gleich ist. Also, dass man sich da nicht abhärtet oder abstumpft dagegen. Gibt es denn überhaupt einen universalen Zustand, von dem man abweichen kann?

– Ich hatte gestern – oder war es vorgestern? – in der Zeitung den Aufmacher von Dietmar Dath gelesen. Das klingt jetzt bescheuert. Das klingt sogar mega bescheuert, aber ich war schon bei der Überschrift Sex ist verpuppte Liebe echt fix und foxi. Und dann erst wie er schreibt. Auch was. Aber das fließt bei ihm halt auch so wunderschön ein in das Wie. Mich interessiert dieser Puppenfilm jetzt, aber vielleicht geht es mir auch bald so, wie es Dir geht mit Rain: Ich habe beinahe Angst, dass dieser Film gar nicht mehr halten kann, was mir der Text von ihm verspricht.

– Ja, diese Zeitung.

– Allein, dass es eine Seite gibt – in loser Folge!!! –, die Staat und Recht heißt, und da war gestern ein Text von meinem Lieblingshistoriker Alexander Demandt  abgedruckt, der hat auch Das Privatleben der Römischen Kaiser gemacht, das kann ich beinahe auswendig, obwohl es teilweise echt schwer zu merken ist, was da drin steht.

– Ich weiß!

– Hey.

– Ja?

– Habe ich Dir eigentlich schon mal gesagt, dass ich dich liebe?

– Ich glaube ja. Aber sag’s mir noch ein Mal, bitte!

– Ich liebe dich.

– Ich liebe dich auch.

(Dann lange nichts)

– Ich will jetzt auf gar keinen Fall auflegen.

– Ich auch nicht. Geht gar nicht. Auf gar keinen Fall.

– Du musst jetzt aber schlafen. Es ist bestimmt schon halb sechs.

– Was?!?

– Oh nein, da kommt der Newsletter von The Business of Fashion. Also ist es schon sechs.

– Oh nein. Dann muss ich jetzt wirklich schlafen. Zumindest ein bisschen.

Schlaf schneller, Genosse: so heißt ein Buch, das ich als Kind einmal hatte.

– Schön.

– Unterzeile: Dein Bett braucht ein anderer.

– Hahaha!

– Geht ja nicht wirklich. Leider.

– Ich weiß!

– Ja.

– Was machst du denn jetzt noch? Schlaf doch auch mal. Dir zuliebe.

– Ich kann nicht. Ich will jetzt schreiben. Stefanie steht in zwei Stunden auf, dann muss das alles fertig sein.

– Hey?

– Hey.

21.1.

Neulich war in Nature ein total interessanter Artikel über die physiologischen Bedingungen, sich einen sogenannten Ohrwurm einzufangen. Es hat etwas mit einer spezifischen Konstellation in der linken Hemisphäre zu tun. Ich kenne das Phänomen in vergleichbarer Weise vor allem vom Lesen; es gibt Sätze, die werde ich auch über längere Zeit nicht mehr los. Aus der Lektüre des vergangenen Sommers verfolgen mich aktuell noch immer zwei:

1) »Und ausgerechnet ihm hatte sie voller Vertrauen und Liebe in den Mund gepisst.«

sowie

2) »Männer waren seltsam, wie Geheimagenten, deren Auftraggeberland nicht mehr existierte.«

Beide stammen sie aus Die Stunde zwischen Frau und Gitarre von Clemens J. Setz, einem Roman, dem ich so unwahrscheinlich und unglaublich viel verdanke, dass es weder auf die sprichwörtlich gewordene Kuhhaut passt, noch irgendwo sonst hin.

Ein dritter Satz, so gesehen handelt es sich um den ersten von dreien, aber er verfolgt mich seit 1998, also seit dem Augenblick, da ich ihn zum ersten Mal gelesen hatte. Bret Easton Ellis hat ihn geschrieben und er lautet:

»Midnight, and I’m sipping Absolut from a plastic cup.«

Von einigen Pausen abgesehen, bringt er damit – und vielleicht auch bloß für mich – ein Dasein als teilnehmender Beobachter der Mode auf den sogenannten Punkt. Im Roman Glamorama, aus dem mein Gehirn diesen Satz sich einbrennen hat lassen, formuliert ihn Victor Ward gedanklich – Victor ist Fotomodell von Beruf, das bin ich nicht. Modeschreiber kommen in Glamorama überhaupt nicht vor. Es kann sehr wohl sein, dass es diese konzeptionelle Lücke in Bret Easton Ellis‘ Gefüge war, aus der heraus mir mein Gehirn dann diesen Satz eingeschlürft hatte. N’importe quoi. Ich will doch auf etwas anderes hinaus.

Es geht mir um Simulakren (plastic cups), um Lügen (Absolut) und um die Geisterstunde namens midnight, also um jenen Zeitraum zwischen heute und gestern, den man nur messen oder behaupten, aber halt niemals oder niemals wahrhaft empfinden kann. Zusammengefasst: So ist die Mode selbst. Sie entsteht, wenn überhaupt, aus dieser Trias: Behauptung, Lüge und etwas, das es nur deswegen gibt, weil man ansonsten kirre würde in Anbetracht eines gewissen Bildes der Gesellschaft; also ist Mode auch eine Art des Erklärungsversuches.

Im Schädels zum Beispiel, wo ich, beamtenhaft, dabei aber fröhlich, jeden Morgen ab 8 Uhr nach dem Schreiben meinen Kaffee zu mir nehme, und dazu drei Tageszeitungen, dort also lassen sich jetzt alle auch sonst täglich anwesenden Männer die Barthaare wachsen: Stefan Rudolf, Andreas Koch, sogar Markus Schädel selbst. Nur Tom Tykwer und Florian Illies machen nicht mit. Aber so ist es halt mit der Fashion. Und: Moment! Ja, wäre das denn überhaupt schon eine – beziehungsweise: liegt hier, im Bartbeispiel, überhaupt schon ein irgendwie nennens-, oder viel wichtiger: ein erörternswerter Fall von Mode vor?

In diesem Club und dort an dieser Bar, die es beide zuvor noch nicht gab, weil Christoph Amend die eigens hatte bauen lassen für die Party des Zeit-Magazins, sah ich mich jedenfalls plötzlich einem Mann gegenüber (oder schreibt man, eines Mannes – ich will ja nicht vorgreifen, aber Ijoma Mangold hat uns gestern halt vorgeworfen, dass es in 2016 – The Year Punk Broke noch immer, also auch noch zum Zeitpunkt der Veröffentlichung, wahnwitzig viele Rechtschreibfehler gäbe (in diesem Fall läge dann ja allerdings ein Grammatikfehler vor), aus seiner, der Perspektive des Feuilletonisten der Zeit, gesehen, woraufhin ich versuchte, mich schützend vor Anne zu stellen, also rhethorisch, weil ich die Regeln ja leider auch nicht kenne, aber dann passierte das Folgende), den ich bis dahin nur von Fotos her kannte und ich schrie, ja wirklich: ich schrie über die drei, vier Meter des ganz in weiß gekachelten Tresens hinweg: »Du bist Tilman Rammstedt!!!«

Vor allem wurde es dann aber noch sehr angenehm. Tilman Rammstedt (ich habe übrigens in meinem ganzen Leben noch keinen Namen derart oft falsch geschrieben!!!), hat ja vor allem etwas, um das ich ihn bis aufs Blut beneide. Seine Muse ist ihm stets gegenwärtig, beziehungsweise begleitet sie ihn. Tilman Rammstedts Muse hielt sich auf der Party des Zeit-Magazins zu keiner Zeit, also noch nicht einmal einen Wimpernschlag lang, weiter als zwei Armlängen entfernt von uns auf. Und indoktrinierte dort Ijoma Mangold, der damit, also mit dem Indoktriniertwerden durch Ronja von Rönne, ganz einverstanden erschien.

Selbst ich kann es mir konkret nicht vorstellen, zu was alles ich noch fähig würde, wenn meine Muse stets bei mir wäre. Stichworte: Neutronenbombe, Supernova, Flagge verbrennen, Regierung ertränken, beziehungsweise: Urknall.

Früher am Morgen traf ich noch Carl Jakob Haupt, beziehungsweise, wir liefen uns in die Arme. Zum zweiten Mal innerhalb einer Modewoche, die für Profis ohnehin bloß zwei Tage hat! Aber schon nach extrem kurzer Zeit während unserer Begrüßung wurde die Musik stumm geschaltet, dazu ließ Christoph Amend einen Scheinwerfer auf die fragliche Stelle der Tanzfläche stellen und eine extrem gesund aussehende Frau mit langen Haaren schaute mich lange an, um dann bloß zu sagen: »Please, don’t do that again.«

20.1.

Tilman Rammstedt ist aus Eisen. Zumindest wünsche ich ihm das, zumindestens hinsichtlich seiner Moral. Dabei kenne ich ihn gar nicht. Es kennen sich ja auch nicht alle Zahnärzte gegenseitig und sozusagen automatisch aus dem bloßen Umstand heraus, dass sie von Beruf eben Zahnärzte sind.

Durch das tägliche Lesen der Kommentare aber, auf den Seiten von Morgen Mehr, entsteht in mir ex negativo ein Abbild seiner Seele, ich kann mir plastisch vorstellen, wie es in ihm aussieht und seit einigen Tagen ergibt sich auf diese Weise ein Bild, das nicht schön ist. Ich spüre seinen Konflikt.

Im Feuilleton der Zeit hat Ijoma Mangold von einer Liturgie geschrieben, einer persönlichen, der er, Ijoma Mangold, sich in der geistigen Figuration eines Mönches hingebe für seine Lektüre der täglichen Lieferungen von Tilman Rammstedt. Nicht erst seit gestern, aber seitdem eklatant, liegt der Genese von Morgen Mehr ein moralisches Dilemma zugrunde, von dem ich nur hoffen kann – und Ijoma Mangold soll bitte beten –, dass es gut ausgehen möge. Gut im Sinne der Literatur. Somit auch gut für Tilman Rammstedt. Denn es geht von nun an für ihn um die Frage Gut oder Böse – wird er es schaffen, den Lockungen des Bösen zu widerstehen, oder zieht es ihn hin.

Satan hat sich gespalten, das gehört zu seinem Wesen, und hockt seitdem in der Gestalt zweier Teufelchen auf den Schultern des Schriftstellers. Tags wie nachts sind dort links eine sogenannte Nola, auf seiner Rechten eine Tina, um ihn unermüdlich und im Stundentakt mit ihren Einflüsterungen auf Abwege zu führen: stilistisch, geschmacklich, ideel – sie ziehen sämtliche Register. Das sind Anti-Musen. Ein personifiziertes Literaturvernichtungsprogramm!!!

Als einziger Kommentator setzt Tina, die das rechte Ohr Rammstedts bearbeitet, sogar einen Avatar ein, es ist ein weibliches Gesicht mit Brille, dunkler Mähne und einem der Kamera entgegengereckten Dekolleté, um ihren Zeilen noch zusätzlichen Nachdruck zu verleihen. Darüber hinaus gibt sie vor, aus Hessen zu sein, also dem Schauplatz von Morgen Mehr. Von daher ging es Tina anfänglich vor allem darum, eine deutlichere Färbung des Textes mit hessischem Lokalkolorit einzufordern. Seit gestern aber verfolgt sie ein anderes Programm.

Nola, zu seiner Linken, wünscht sich dringend mehr Zeitkolorit. Nun hatte Ijoma Mangold bereits in seiner vorläufigen Bestandsaufnahme an Tilman Rammstedts Konzeption bemängelt, dass es sich bei Morgen Mehr um einen historischen Roman aus den siebziger Jahren handele. Hier liegt für ihn, Ijoma Mangold, wenn nicht ein Widerspruch, so aber eine enttäuschende Divergenz zum Aktualitätsmedium Internet, in dem die täglichen Lieferungen des Korpus in spe veröffentlicht werden. Nola aber scheint das Feuilleton der Zeit entweder nicht gelesen zu haben oder aber: es zu ignorieren. Ich weiß nicht, was ich schlimmer finden soll. Bedenklich finde ich es allemal. Nur so aber scheinen sich Nola und Tina immunisieren zu können, um ihr satanisches Verführungswerk an Tilman Rammstedt zu vollbringen.

»Ein bisschen 70-er-Jahre-Flair würde mir außerordentlich gut gefallen«, säuselt Tina von rechts, »Die männlichen Helden in Schlaghosen, engem Rollkragenpulli –braun-orange-kariert -, mit Koteletten, Hummelbrille, speckiger Lederjacke und selbstverständlich immer eine Kippe im Mund (und vielleicht ein Buch auf dem Nachttischchen?). Und dann noch diese wundervolle 70-er-Jahre-Musik, die Autos, die fehlende Technik (es ging auch un-mobil), die Rolle der Frau, das Essen (Käse-Igel, Kalter Hund, gefüllte Eier, Toast Hawaii) und natürlich die gute, alte D-Mark.«

Ich versuche, es nicht zu tun, aber mein Gehirn liest mir diese Zeilen auf Hessisch vor. Es ist die Hölle. Zumindest stelle ich sie mir so oder so ähnlich vor.

Rammstedt daraufhin im Stupor. Auf seiner Linken hockt Nola. Und stößt nach: »Der Vater müsste vor Kälte schlottern nach seinem unfreiwillig Bad
im winterlichen Main. Der braucht ein heißes Bad. Weiß nicht, ob es damals schon Erkältungsbäder gab.«

Tja, die Waffen der Frau. Süß dieses Weiß nicht am Satzbeginn. Rammstedt sieht sie jetzt vor sich: Nola, die Süße. Baden. Jetzt gleich.

Von rechts, Tina: »Er braucht ein warmes Bett, in das er sich zusammen mit Dimitri-Uwe einkuscheln kann.« Im Klartext: Komm Kuscheln mit Nola-Tina, denn was sind schon Namen, darum geht es bei dir doch die ganze Zeit schon, dass dir die Namen rein gar nichts bedeuten.

Nola: »Die zwei in einer kleinen Frankfurter Wohnung mit Ikea Einrichtung Fischstäbchen und Instant Kartoffelbrei essend und davor gemeinsames baden und nachher exzessives kuscheln zum Aufwärmen.«

Das ist der Killer.

Es gibt in ganz Deutschland keinen einzigen Schriftsteller, der nicht – und das noch nicht einmal insgeheim – davon träumt, nein: fiebrig davon fantasiert in seinen allzu vielen Stunden der Einsamkeit, in eine kleine Frankfurter Wohnung eingelassen und mit Fischstäbchen und Instant-Kartoffelbrei bewirtet zu werden, zuvor gemeinsames Baden und nach den Fischstäbchen exzessiv kuscheln zu dürfen, um des Aufwärmens willen. Reihenfolge übrigens egal. Einrichtung auch. Hauptsache Frankfurt. Hauptsache klein. Hauptsache baden. Und kuscheln. Und Kartoffelbrei. Dafür würde jeder Schriftsteller in Deutschland seine Seele dem Teufel gratis überlassen. Also den ganzen Schwachsinn aus Vintage Derrick-Folgen, Kostümen aus Sketchen mit Iris Berben und Dieter Krebs, Dialoge wie von Wenzel Storch oder Hennar Peschel. Gern auch mit dem abgefahrensten Totalkitsch für die Freunde der Literatur, also Dimitri und seine Hessisch babbelnde Gangsterbraut auf der Flucht im geknackten Benz des Bundesbankpräsidenten, im Kofferraum liegt Andreas Baader auf Sigrid Löffler, beide hammerhart auf LSD und im Autoradio läuft nonstop Richard Claydermann.

Tina: »Thelma und Louise reloaded«. Das schreibt sie wirklich. Gnadenlos.

Vade retro, Tilman Rammstedt soll stark bleiben. Fest wie eine Burg. Ich weiß ja nicht, wie er heute geschlafen hat. Ich konnte vor Sorgen um die Literatur jedenfalls kein Auge zu tun.

Details zur Modewoche: morgen mehr.

19.1.

Careless Whisper ist meines Wissens nach das einzige Lied, bei dem Andrew Ridgeley als gleichberechtigter Autor neben George Michael genannt wird. Merkwürdig auch, dass dieser Song als Solosingle von George Michael veröffentlicht wurde (erstmals erschienen auf dem Album Make It Big). Hat man, wie ich, zwei Computer und stellt diese einander gegenüber mit jeweils einer knappen Armlänge Abstand zu einem in deren Mitte positionierten Hörplatz auf, lädt dann in das iTunes des rechten Computers Make it Big und in den linken Station to Station, um hierauf beidarmig, also gleichzeitig, und bei identischer Lautstärke rechts Careless Whisper zu starten und links Wild is the Wind, ergibt sich ein Effekt, den Gertrud von le Fort in Plus Ultra beschrieben hat: »Liebe kann nicht sterben.«

Subscribe to »2020 – Sing Blue Silver«