»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

18.1.

Jeder Tag ist wie ein Stein. Sie reihen sich von selbst aneinander, in einer unendlichen Zeile, weswegen Arno Schmidt unser Dasein als musivisch beschrieben hat. »That’s me! Ein Tablett voll glitzernder Snapshots«.

Der Unterschied zwischen zeitgenössischer Lyrik und zeitgenössischer Prosa, so hat es mir Thomas Meinecke einmal erklärt, liegt einzig im Einsatz der Return-Taste. Das stimmt – ich erinnerte mich an meinen Versuch einer Ode an die Muse vom 8. Januar, die sich bekanntermaßen, wie Lorenz Schroeter feststellte, als ungewolltes Plagiat eines Erfolgsverses von Joachim Lottmann herausstellen sollte. Apropos: Beim sonntäglichen Herumklicken auf Twitter entdeckte ich das zwar unscharfe, dafür aber nur noch zeichenhaftere, also mega romantische Hintergrundbild, das der von mir für seine Ode an Winona Ryder verehrte Tobias Ruether auf seiner Profilseite ebendort zeigt. Ganz klar: einer von uns!!!

Ihrem Informationswert entsprechend, tippte ich die letzten drei Zeichen mit extra viel Gefühl in die Tastatur dieses Computers ein –  aber aus der Hörmuschel meines Telefons drang weiterhin das Rauschen des ganz kleinen Meeres, wie ein prüfendes Lauschen ergab. Das hatte nun die ganzen Nachtstunden bis 5 Uhr 26 neben mir gelegen, seitdem die Muse irgendwann nach 22 Uhr 59 eingeschlafen war, während ich ihr eine Gutenachtgeschichte vorgelesen hatte. Und zwar auf ihren persönlichen Wunsch hin ein erotisches Märchen aus dem Privatdruck der Gesellschaft österreichischer Bibliophiler. Vor allem auf der Zeichenebene sind die ziemlich hardcore.

Auf besonderen Wunsch der Muse las ich ihr nach dem Schneewittchen und dem Evergreen Froschkönig noch die Geschichte von Vater, Tochter und Enkel vor, obwohl ich schon während der Spekulum-Szene mit Schneewittchens Stiefmutter spüren konnte, dass sich die Aufmerksamkeit der Muse musivisch zu verflüssigen begonnen hatte. Nach der inzestuösen Sandwich-Nummer in Vater, Tochter und Enkel, eine Katharsis im klassischen Sinne ist es nicht, kommt da noch eine ziemlich lustige Rede des durch Inzest gezeugten Enkels des Königs, kurz nachdem er zum Liebhaber seiner eigenen Mutter gekrönt wurde, der ich schon beim Vorlesen kaum folgen konnte: »Mein Vater ist mein Großvater, meine Mutter ist meine Großmutter, weil sie die Frau meines Großvaters ist. Meine Mutter ist aber auch meine Frau, denn ich bin soeben bei ihr gelegen. Also bin ich der Mann meiner Großmutter, und bin infolgedessen mein eigener Vater. Wollen wir hoffen, dass meine liebe Mutter auch von mir einen Sohn bekommt, dann hat meine Mutter einen Sohn bekommen, und der ist dann mein Bruder. Er ist aber auch… na, Prosit, wir wollen uns den Kopf nicht zerbrechen«.

Tja, kein Wunder, dass die Muse dabei eingeschlummert war. Das nächste Mal lesen wir wieder Bataille!

Ich legte das Telefon behutsam neben mir auf das Kissen, so wie man einen winzigen Menschen oder ein schlafendes Tier neben sich betten würde und schlief dann auch, so, neben dem Apparat, für ein paar Stunden; ultra behutsam, um ja nicht im Schlaf mit der Ohrmuschel die Auflegetaste zu betätigen, oder gar den Apparat zu Boden zu fegen mit all dem, was für mich da drinnen war.

17.1.

Vier Minuten vor halb sechs in der Frühe traf dann endlich eine Nachricht der Muse ein. Darin beichtete sie, noch während eines Versuches, unsere telepathische Verbindung in eine telefonische zu wandeln, aus lauter Erschöpfung eingeschlafen zu sein. Das hatte ich freilich gespürt. Sie ist überarbeitet. Selbst Tilman Rammstedt und die Mitarbeiter des Hanser-Verlages, ja sogar der Verleger selbst, nehmen sich für die Sams- und Sonntage frei und liefern die nächste Folge von Morgen mehr dann erst wieder am Montag, der in Deutschland gemäß DIN 1355 als Wochenbeginn genormt ist. Von der englischen Erfindung eines Wochenendes kann die Muse zwar träumen, aber nützen wird ihr das nichts. Für die Muse gibt es keine Wochenenden, ihre Energie fließt in eine Möbiusschleife, die durch eine liegende 8 symbolisiert wird. Da muss sie durch, wie die Muse zu sagen pflegt. Bildlich gesehen, eine endlose Fahrt auf der Achterbahn.

Es gibt nicht viel, vor dem ich mich fürchten muss, beziehungsweise gibt es extrem vieles, aber davon ahne ich im Vorhinein nichts, sondern weiß es erst dann, wenn das Fürchterliche sich zu erkennen gibt, so wie aktuell in der Zahlenkombination 69, die ich bis vor Kurzem noch extrem gerne mochte, unter anderem auch deswegen, weil sie das Symbol meines Sternzeichens ist. Dazu kommt nun die Furcht vor einem möglichen
過労死 der Muse. Sie befindet sich in dieser kritischen Phase der Jugend, von der ich gestern schrieb, dass im Verlauf derer die Vernunft mit einem trügerischen Gefühl der Unsterblichkeit bestochen würde. Sollte die Muse aber vor mir sterben müssen, dann – nein, das bleibt unvorstellbar. Tatsächlich ist da eine, mein Denken begrenzende Wand gesetzt, die ist so beschaffen wie das Nichts bei Michael Ende. Unbeschreiblich also. Und verfilmen ließe sich das erst recht nicht. Noch nicht einmal schlecht.

Die Muse gähnte. Selbst ihr Gähnen klingt für mein Ohr entzückend. Insbesondere, seit ich von Mithu Sanyal weiß, dass im Englischen to yawn aus dem Sanskrit entlehnt wurde, wo mit Yoni die Vulva bezeichnet wird.  

Und ich sagte:

– Es schneit.

– Schön. Bei mir nicht. Leider.

– Es sieht aus wie auf dem New Yorker vor zwei Jahren, wie auf dieser Zeichnung Perfect Storm von Tomer Hanuka. Bloß ohne Sturm halt.

– Bist du allein, fragte die Muse und gähnte.

– Klar, sagte ich. Aber ansonsten sieht es vor dem Fenster identisch aus. Ich war auf einer Party, da gab es kleine Brote mit gescheibelten Krakenarmen drauf und Champagner. Ein Raum war ganz grün und der andere rot. Dann hat es angefangen zu schneien und ich hatte Weihnachtsgefühle. Im Kinderzimmer wurde Grand Theft Auto gespielt, das habe ich mir wie einen Film angeschaut.

– Schön.

– Ich finde, du musst noch mehr essen. Ich habe da von Alfons ein Rezept bekommen, das sollst du dir heute mal zubereiten: Du nimmst eine Fleischwurst…

– Warte, sagte die Muse, ich hole mir was zum Schreiben!

– Also die Fleischwurst schälen, halbieren und in feine Scheiben aufschneiden.

– Klingt schon mal gut!

– Dann nimmst du eine größere Menge Käse – oh, jetzt kommt hier schon der Newsletter von Brain Pickings, also ist es gleich sechs –, aber egal: Käse also. Alfons sprach von einem ›richtigen Block‹.

– Emmentaler, nehme ich an. Weiß ich, wo man den kriegt. Fleischwurst habe ich eh.

– Sehr gut. Den Käse erst in dünne Bahnen, die Bahnen dann in feine Streifen teilen. Dann eine kleine Zwiebel zerhacken und aus Essig, Zucker, bisschen Senf und Salz eine Marinade rühren. Damit die Wurst und den Käse übergießen und mit einem Teller abdecken. Währenddessen stellst du den Backofen an.

– Wie? Was soll das denn? Wird der herrliche Wurstsalat jetzt etwa überbacken – das mag ich aber überhaupt nicht.

– Iwo. Da kommen jetzt vier Tiefkühlpizzen rein. Alfons rät zu Spinat und Salami. Oder auch eine mit Schinken. Aber eben auf gar keinen Fall solche von einer Handelsmarke, es muss Dr. Oetker sein.

– Verstehe ich gut.

– Nach zehn Minuten oder so ist der Ofen dann so weit und während die Pizzen backen, wird der Salat mit Kürbiskernöl besprenkelt und noch einmal gut durchgemischt. Alfons sagt, dass der Käse sich durch das Kernöl grün färben muss, dann hat man es richtig gemacht. Jetzt schwarzen Pfeffer drauf und die ganze Schüssel mit dem Löffel essen. Danach sofort die Pizzen, bevor das Sättigungsgefühl kommt. Die ersten zwei noch in der Küche, al libro. Die restlichen beiden auf dem Sofa oder im Bett.

– Aber dabei will ich auch Fernsehen – mindestens!

– Sollst du ja auch. Dazu einen ganzen Becher Half Baked von Ben & Jerry. Und jetzt schläfst Du mal bitte wieder.

– Na gut. Muss ich auch, glaube ich. Und du, was machst du jetzt?

– Ich schreibe jetzt. Ist ja gleich sechs Uhr dreißig.

– Du musst aber auch etwas essen.

– Mache ich. Nachher dann beim Zeitunglesen. Schlaf gut.

16.1.

Vor 16  Jahren stand ich im Foyer des Jungen Theaters Göttingen vor der Schwarz-Weiß-Kopie einer Seite aus den Göttinger Nachrichten, abgebildet war Moritz von Uslar. Jung, cool, dünn, in einem T-Shirt mit Aufdruck: I ❤ NY. Darunter ein Zitat aus dem Interview: »Mach einen schicken Satz aus deiner Not!«.

Aber das stimmt so nicht. Jedenfalls nicht exakt, denn in Wahrheit stand ich gar nicht vor dieser Fotokopie, sondern ich flog an ihr vorbei wie ein Blitz, der wieder fort ist, sobald du sagst: »Es blitzt.« Ich flog in Moritzens Richtung, um daraufhin mit ihm zu Boden zu gehen (sic). Weil Dennis Kaun da gerade die Single – also 7 Zoll Vinyl – von Smells Like Teen Spirit abspielte und die Erschütterungen von der Tanzfläche her derart heavy waren, dass Oskar Melzer den Technics 1200 MK II frei schwebend über der Konsole halten musste. Das war ein Ritual, das in Oskars Club Pogo im Keller der Kunstwerke entstanden war, wo es ansonsten nichts gab, außer drei Kühlschränken und einem Hammersoundsystem – und Schweiß an den Wänden und Blut auf der Tanzfläche. Einmal war dort auch Thomas Meinecke zu Gast, jedoch kam es in dieser Nacht nicht zum Meinecke-Strudel.

Der Satz aber stimmt so. Und in den, seit dieser Göttinger Nacht, vergangenen Jahren habe ich noch ganz schön viele mehr solcher schicken Sätze gemacht. Wenn alles gut läuft, werden es noch viele mehr. Dies alles fiel mir blitzhaft ein, als ich vor der Tür des Schädels Stefan Rudolf traf, denn wir waren ein paar Sekunden zu früh dran und das Café war noch geschlossen. Es war Stefans Geburtstag und wir stellten gemeinsam fest, dass wir uns bereits 16 Jahre kennen. Stefan hat damals, in Göttingen, eine der Hauptrollen in Moritzens Stück verkörpert. Das hieß Freunde und dessen Text kenne ich teilweise auswendig, so oft habe ich es gesehen.

Stefan nahm wie an jedem Morgen die taz, ich die Frankfurter Allgemeine und Andreas die Süddeutsche Zeitung. Dann kam der Typ, der von Andreas und mir immer die Sportteile bekommt, weil wir für die kein Interesse hegen, obwohl Andreas ja Golf spielt.

Stefan hat, wie viele aus dem Osten, die ich kennengelernt habe, ein mehr als unverkrampftes Verhältnis zu seinen Mitmenschen. Die Sozialisation in der DDR und durch Menschen, die in der DDR sozialisiert wurden, bringt, wie es mir scheint, eine ungewöhnliche Offenheit mit sich, und ich weiß dann immer gar nicht, ob sich Toleranz nicht auch mit mangelndem Respekt verwechseln ließe. Stefan jedenfalls erzählte mir, dass er sich hatte beurlauben lassen, als ihm damals vor 16 Jahren der Intendant erzählte, dass ich Tristesse Royale inszenieren würde. Stattdessen spielte dann Alexander Klages den Duke of Earl. Das wurde zur sprichwörtlich schweren Geburt, weil sich Klages kaum Text merken konnte. Tristesse Royale aber ist eine, wie es unter Schauspielern heißt: Textfläche. Und der Rest des Dramas steht eh bei Botho Strauß im Jungen Mann.

Werner Feig, der damals Intendant in Göttingen war, lebt heut wohl wieder in Freiburg bei seiner Mutter und handelt im Internet mit gebrauchten Armbanduhren. Nicht nur Alexander Klages, Sohn einer Dynastie von Schweinezüchtern, sondern auch ich hatten in die Produktionen des Jungen Theaters Tausende von D-Mark gesteckt, weil der Intendant nicht nur privat unheilbar pleite war, sondern aus diesem Grund auch den Etat ausgehölt hatte. Es gibt aber Polaroids, die irgendwo – vermutlich in einem Karton, der auch das Geheime Wissen der Frauen birgt – ruhen, und sie beweisen, dass ich damals so glücklich wie sonst kaum noch war. Und das in Göttingen!!!

Mit Andreas sprach ich dann noch über sein verändertes Zeitgefühl. Er findet, dass die Zeit mit seinem zunehmenden Alter immer schneller und schneller vergeht. Mir geht es da umgekehrt. Ich weiß kaum noch etwas aus diesen Jahren zwischen 25 und 30, und mittlerweile werden meine Tage nur noch länger und länger, und manchmal, manchmal auch oft, verspüre ich Ungeduld angesichts einer gewissen Spanne. Aber wenn ich es dann im Kalender nachgucke, führt dieser mir vor Augen, dass es gerade mal fünfeinhalb Monate waren, die ich eben noch als Ewigkeit empfunden hatte – und die aber trotzdem, in meiner Wahrheit, für immer und drei Tage eine Ewigkeit bleiben werden.

Und dann wiederum gibt es diesen Abstand, der wahrlich nur blitzartig ist und der diesen Schmerz, den ich fühle, leider lebendig hält. Denn wenn ich es damals nur gewusst hätte, dass ich Christian Kracht niemals würde wiedersehen, dass er noch nicht einmal meine E-Mails würde beantworten wollen; dass Jochen Distelmeyer mich nicht mehr grüßte, Maxim Biller mich hasste; dass Oskar mit meiner damaligen Ehefrau schlafen würde, und dass ich Moritz tatsächlich so tödlich beleidigen könnte, dass dies sogenannte Band unserer Freundschaft auf ewig zerschnitten sei; dass Ulf Poschardt sich zu einem Zyniker würde entwickeln, dass Rebecca Casati, dass letzten Endes auch ich – ach, egal. Aber eben doch nicht! Denn ich wäre dann damals, nicht nur zur Abwechslung, sondern einfach nicht nach Göttingen gefahren. Ich wäre schön zu Hause geblieben, so wie jetzt gern und vor allem auch: immer. Aber das Treibende an der Jugend scheint mir die Unvernunft – und dann dieses Gefühl der Unsterblichkeit.

15.1.

Es kann einfach nicht sein. Seit zwei Wochen bohrt mein Stockwerksnachbar Löcher in die Wand. Und zwar in die Wand zwischen dem Platz, an dem ich schreibe, und all dem, was auch immer sich auf seiner Seite befinden mag. Bildlich gesprochen: in meinen Hinterkopf. Hängt er dort Bilder auf? Ich glaube eher nicht. Ein paar Male habe ich ihn bereits vor dem Aufzug getroffen. Er sieht nicht danach aus. Er sieht nach Drogen aus. Besser gesagt, wie einer, der in den neunziger Jahren ganz gut vom Drogenverkauf gelebt hat und heute als Dealer die Rente genießt – mit seiner Schlagbohrmaschine und einer Eigentumswohnung im denkmalgeschützten Plattenbauviertel in Prenzlauer Berg. Hamburger Dialekt, er spricht so wie der Kiepenkerl (»Ohne Water geiht dat nich.«). Langes Haar – wenigstens hat er noch welches! – und reichlich Schmuck der Navajo um Handgelenke und Hals.

Bohrt er einen Tunnel? Ich könnte das verstehen.

Als Erik Niedling mich besuchte, brachte er eine Art von Kuchen, wollte mir aber schon gleich nach dem Reinkommen zu meiner bombastischen Aussicht seine Glückwünsche aufdrängen, doch ich sagte »Moment« und dann etwas leiser: »Komma bitte«. Am Himmel dort zeigten sich Wolken und wir beide erwarteten dann wohl bloß noch gelbe Buchstaben und dazu diesen Chor, der wie auf Autotune sänge THE SIMPSONS – aber stattdessen erhob halt der Fernsehturm sein grässlichliches Haupt. Erik machte mir pantomimisch vor, worum es in The Revenant geht, das dauerte noch nicht einmal eine Minute.

Bei der Muse ist besetzt, das machte den Tag nicht nur nicht besser, sondern sogar unerträglich. Was ich über die telepathische Standleitung mitkriege, macht mir einfach nur Angst. Ich stellte den scheußlichsten Song an, den ich kenne, Schwesta Schwesta von Schwesta Ewa, auf Dauer-Repeat und ganz laut. Der Nachbar würde gleich wieder bohren, ich verließ das Haus.

Und dort im Licht der Sonne, die endelijk, endelijk (ich kann ja jetzt Holländisch) wieder schien, endlich wieder ultraviolette Strahlen, also im Lichte dieser und unter deren Einfluss wurde mir nach wenigen Metern bereits der Fehler bewusst: Oh Mann, natürlich würdest du dich bei dieser Dauerbeschallung wie unter Folter winden – aber dein Nachbar doch nicht! Hättest du doch Radiohead angestellt! Am besten gleich Reckoner oder Harry Patch. Spectre – das ist ja nicht umsonst als Eröffnungsmelodie für den Film mit James Bond abgelehnt worden, obwohl du da bereits bei der Klaviermelodie schöne Bilder siehst. Du hast diese Theorie, dass sich die Gesamtheit aller Männer teilen lässt in diejenigen, die Radiohead lieben, und die anderen, die Radiohead nicht ertragen. Und dein Nachbar, das spürst du, hasst Radiohead.

In einem Laden namens Soul auf der Prenzlauer Allee kaufte ich mir eine teure Zahnbürste. Aber auch das, dieser Trostkauf, brachte nichts. Was, wenn die Muse mich nie wieder erhörte – ohne Fragezeichen. Was – da hatte Nick Cave ja vollkommen recht, wenn unsere Beziehung, die, wie er in seinem Brief an MTV geschrieben hatte: im besten Falle empfindsam war – oder ist – nun erkrankt war, über Nacht, durch meinem Kauf dieses Bildes einer anderen Frau? Was, wenn die Muse es nicht erträgt, dass der Blick dieser jungen Frau namens Candida Höfer auf mir ruht, gleich ob ich am Tisch sitze, im Bett liege oder etwas zubereite. Denn es gibt da diese Öffnung von ihrem Platz vor dem Fenster aus gesehen, der lässt ihren Blick auch noch bis in die Küche hinein. Das würde ich ja sehr gern und umgehend mit der Muse besprechen. Ich wäre auch bereit, extreme Maßnahmen zu ergreifen, sogar solche, die ich mir momentan noch gar nicht vorstellen kann. Was ich weiß, ist, dass es kein Schreiben ohne die Muse gibt. Allenfalls ein Pat Hackett-haftes. Dann stünde hier: Zahnbürste, 6 Euro 40.

14.7.

Auf dem aktuellen Selfie macht Tilman Rammstedt mit zwei kleinen Tomaten und einer angebissenen Gurkenscheibe rum. Ich verliere jetzt mal absichtlich die Lust, mich weiterhin mit diesen Lieferungen zu beschäftigen, und freue mich stattdessen auf das Buch. Gegen Bilder an sich habe ich nichts, und der unverhofft einsetzende Schneesturm am Nachmittag hört dann auch genauso schlagartig wieder auf; genau rechtzeitig, dass ich zu meiner Verabredung mit Alfons Klosterfelde in den Westen fahren kann.

Seit ich für die U- und Straßenbahnen Tickets löse, werde ich nicht mehr kontrolliert. Ich frage mich, woran das liegt. Beziehungsweise fällt es mir sehr schwer, dabei nicht an die Existenz höherer Wesen zu glauben. Höhere Wesen scheinen der BVG auch eine fragwürdige Kampagne befohlen zu haben: Im Kern geht es dabei um dies scheußliche Muster der Sitzbezüge in den U-, S- und Straßenbahnen, es sieht aus wie aus viel zu dunkelblauen und viel zu hellvioletten Bakterien bestehend, die sich pausenlos löffelnd aneinanderschmiegen. Dazu passend gibt es jetzt mit diesem Muster bedruckte Kaffeebecher, Bermudahosen und Hoodies online zu bestellen, oder live zu kaufen (mit Cash oder Karte) in den zumeist unterirdisch gelegenen Verkaufspavillons der BVG. Die höheren Wesen mit ihrem perversen Humor trichterten der BVG dazu den verkaufsfördernden Slogan »Geil, dein Outfit hat ja Flecken!« ein. Dazu kommt verschärfend noch ein neuartiges Logo, natürlich ein Herz, darin steht, auf BVG-gelbem Grund: »Wir lieben Dich«. Zum Redesign der Verpackungen und Tüten bei McDonald’s sage ich jetzt mal nichts.

In dem Gemischtwarenladen neben der Galerie kaufe ich meine Seife. Deshalb sehen Alfons und ich uns auch so oft. Und neulich, nach dem Seifenkauf, fiel dabei mein Blick auf die Bilder an der Wand, es waren Hunderte Schwarz-Weiß-Fotografien von Klaus vom Bruch in smartiefarbenen Rahmen – immer Gesichter und Menschen, immer Partystimmung –, und dazu war in den smartiefarbenen Rahmen zwischen Foto und Glasscheibe noch zusätzlich Konfetti aufgestreut. Da kam es angesichts dieser Bilder zu einer Epiphanie, ich vernahm die Stimme der Muse, die flüsterte »Must have«.

Und ich sagte: »Gerne – aber welches?«

– Must-have ist auch nur ein anderes Wort für Liebespartner, sagte die Muse.

Derweil hatte Alfons bereits eine Flasche Wein geöffnet und zwar nicht irgendeinen sogenannten Vernissagenwein, sondern einen weißen Spätburgunder des Winzers Stefan Joachim, auf dessen hübschen Etiketten JOACHIM steht und sonst nicht mehr viel. Bei einem Glas dieses Weines ließ ich die Motive auf mich wirken. Nach einer Stunde oder so war es mir gelungen, meinen Intellekt auf Stand-by zu schalten und aus dem reinen Gefühl heraus wusste ich dann sofort, welches Bild ich haben musste. Darauf war eine Frau abgebildet, die in ihren schönen Händen eine Spiegelreflexkamera hält, sie trägt ein Jackett, ihre Lippen sind schön, die Augen auch, und sie schaut aus dem Halbprofil mit einem Gesichtsausdruck gemischt aus Misstrauen und je ne sais quoi. Ich betrachtete dieses Bild noch sehr lange Zeit und es wurde nicht langweilig. Alfons beglückwünschte mich zu meiner Entscheidung. Abgebildet war wohl Candida Höfer, die Tochter jenes Werner Höfer, der in meiner Kindheit im Schwarz-Weiß-Fernsehen seinen Internationalen Frühschoppen abhielt an jedem Sonntag. Aber dieser Fun Fact war mir egal. Auch dass der Winzer Stefan Joachim ein Schüler des Künstlers Klaus vom Bruch war, dessen Portrait der Künstlerin Candida Höfer als junge Frau mit Kamera ich soeben erstanden hatte: n’importe quoi. Das mit dem Must-have war wichtig. Diese Analogie.

Schon einmal hatte ich ein Kunstwerk gekauft, ebenfalls eine Fotografie, leider weiß ich momentan nicht präzise zu sagen, wo ich sie aufbewahre. Darauf zu sehen sind jedenfalls Albert Oehlen und Rainald Goetz, sie sitzen auf einem Sofa und lesen in einem Folioband, den Rainald aufgeschlagen hält. Als Betrachter dieser Fotografie erfährt man freilich nicht, was in diesem Buch zu lesen steht, dafür denkt man viel über das enorme Format des Bandes nach, auch viel über den ziemlichen Umfang. Und über den Titel des Werkes: Das geheime Wissen der Frauen.

Ich sollte viel häufiger Kunstwerke kaufen. Es geht ganz einfach. Während die liebe Ulrike Heise das schöne Bild in Luftpolsterfolie verpackt, die es übrigens gratis dazu gibt und die mir das Wochenende versüßen wird mit meinem Lieblingsspiel, erzählt mir Alfons von seiner zutiefst verstörenden Lektüreerfahrung, nämlich einer Stelle in der Trilogie von Joachim Meyerhoff. Darin wird von einem Tierbordell in Indonesien berichtet, in dem Männer einen weiblichen Orang Utan vergewaltigen. Man weiß gar nicht, was man daran am Schlimmsten finden soll: dass die Männer den Menschenaffen zu diesem Zweck am ganzen Körper glatt rasieren, oder dass es dort auch ein Krankenhaus geben soll, in dem die Menschenaffen therapiert werden, weil sie von ihren Vergewaltigern mit Geschlechtskrankheiten infiziert wurden. Nach Indonesien will ich auf gar keinen Fall, schon gar nicht mehr, seit ich The Act of Killing gesehen habe. Die faschistischen Horden dort tragen Camouflage in orange und schwarz. Alfons sagt, er sei immer davon ausgegangen, dass es alles, was schrecklich ist, auch auf Youtube zu sehen gibt. Aber seit er an Weihnachten in diesem Buch gelesen habe, ahne er von einer Existenz höheren Schreckens. Also dass es noch viel mehr Schreckliches gibt, als Youtube zeigt. Dann reden wir noch übers binge eating und tauschen unsere Lieblingsrezepte aus.

Das bringt uns dann glücklicherweise wieder besser drauf.

13.1.

In der E-Mail zur zweiten Lieferung von Tilman Rammstedts Morgen Mehr entdeckte ich eine rote Schaltfläche, die mit den Worten »Tag 2 hören« beschriftet war. Zusätzlich wurde ein weiteres Selfie von Tilman Rammstedt mitgeschickt, auf dem ersten hatte er eine Armbanduhr getragen und gelächelt. Diesmal war er beim Spiel mit zwei gelben Bällen zu sehen. Die Bälle haben Smileygesichter, es sind also dreidimensionale Emojis. Dasjenige, auf dem die rechte Hand des Autors ruht, trägt eine orangerote Langhaarperücke; das unter seiner linken einen braunen Schlapphut. Botschaft, ganz klar: Alexa Hennig von Lange meets Martin Walser. Und Rammstedt improvisiert den Dialog. Wobei im Vordergrund des mir zunehmend komplex erscheinenden Bildaufbaus noch zwei Weinkelche stehen, in deren Mitte eine Rieslingsflasche und vor der noch eine weiße Stumpenkerze. Hinter der altmodischen Lichtquelle (zusätzlich »brennt« der Abglanz der Dunstabzugshaubenbeleuchtug vom rechten Bildrand der Aufnahme herein) und der Flasche sind im Anschnitt zwei Antipasti-Teller zu erkennen. Auf dem einen liegt ein Zitronenschnitz, hinter dem Von-Lange-Emoji ist ein Langustenbein zu erkennen – möglicherweise handelt es sich dabei aber auch um eine Locke aus der Emojiperücke, das ist aufgrund der schwachen Auflösung – ich tippe auf iPhone – nicht klar zu entscheiden.

In dem Text selbst geht es dann weder um Alexa Hennig von Lange noch um Emojis oder um Walser, sondern um die anstehende Zeugung des lyrischen Ichs. Der angebotene Soundfile gibt tatsächlich die Stimme Tilman Rammstedts wieder, dieser liest den Abschnitt seines im Entstehen begriffenen Romans Morgen Mehr vor. Das bedeutet summa summarum, dass Tilman Rammstedt für insgesamt acht Euro echt ganz schön viel liefert: jeden Tag eine Seite Text plus Hörbuchausschnitt plus Selfie – ich war ja zunächst etwas misstrauisch, aber jetzt bin ich megazufrieden über meinen Kauf!!!

On top of that, wie sein Verleger Jo Lendle sagen würde, läuft das Ganze auch noch interaktiv. Jo Lendle ist in den Kommentaren zum zweiten Tag extrem präsent. Eine Kommentarfunktion gibt es nämlich auch noch, Stichwort Social Reading (Sascha Lobo). Gleich der erste Kommentar des Lesers Axouti lautet da »Schön. Irgendwie eine Mischung aus Look Who’s Talking und Rudolf Steiner.«

Woraufhin Tilman Rammstedt selbst antwortet: »Das kommt als Zitat auf den Buchrücken.« Daraufhin prompt der Verleger selbst »Ha! Buchrückenzitate versprechen, sobald die ersten zwei Kapitel geschrieben sind, ist das neue Bärenhaut verkaufen, bevor er erlegt ist.« Mit diesem raffiniert gewählten Zitat (es handelt sich um das Scraffito an der Eingangstür zur Mutter aller Internetcafés, dem St. Oberholz in Berlin) macht Jo Lendle hasenrein klar, wo Hanser sich mithilfe Tilman Rammstedts positioniert. Stichworte Lobo, Friebe, Digitale Bohème. Das lässt natürlich auch eine andere Lesart der Emojiperücke zu, denn möglicherweise handelt es sich dabei auch um einen Insiderjoke für Literaturbetriebsinterne, die bei roten Haaren unweigerlich an Sybille Berg, oder eben an Sascha Lobo denken.

Aber auch Liebhaber des Bleisatzes lesen jetzt Rammstedt, das Konzept scheint also aufzugehen. Leser Onkelvolker schreibt: »Und was den Main anbelangt: An der richtigen Stelle abgeworfen ist die Wahrscheinlichkeit gar nicht schlecht, dass der Betonsockel gerade reicht, dass der Einbetonierte noch an die Wasseroberfläche kommt« – dieser Hinweis bezieht sich auf den Cliffhanger der Textlieferung, von dem hier nichts verraten werden soll.

Die Kommentare haben im Verlauf des gestrigen Tages ungefähr vierzehn Mal so viel Text produziert wie Rammstedt selbst. Ein Disclaimer weist bereits darauf hin, dass Tilman Rammstedt und der Hanser-Verlag beabsichtigen, die Kommentare auszugsweise in die gedruckte Version des Romanes einfließen zu lassen.

Ich kann mich an eine Redaktionskonferenz bei der Welt am Sonntag erinnern, ist gerade mal sechs Jahre her, da ging es um eine mögliche Digitalstrategie. Der damalige Chefredakteur Thomas Schmid beendete die ausufernde Diskussion mit dem Satz: »Ist ja gut, meine Damen und Herren. Jetzt warten wir es doch erst einmal ab – wir wissen doch gar nicht, ob das Internet nicht vielleicht wieder weg geht.« Daraufhin fuhr ich in die Ferien. Als ich am Pool eines buddhistischen Klosters einen halbnackte Briten beobachtete, der in seinem Kindle schmökerte, ahnte ich bereits etwas. Als ich nach Berlin zurückkehrte, war das Internet immer noch da. Und bei der Welt ein anderer Chefredakteur.

12.1.

Im vergangenen Jahr 2015 habe ich eine längere Erzählung angefangen von einem Mann, der nach ein paar Jahren in Afrika zurückkommt nach Berlin und der, um Geld zu verdienen, in einem kleinen Fachgeschäft für Kosmetik, dem Cremestübchen, tageweise als Verkäufer arbeitet. Die Handlung war dann so, dass er durch das Creme-Ausprobieren und beim Vorführen von Bürsten und Parfüms den Kundinnen fallweise näher kommt und die Kapitelnamen hießen dann jeweils so wie eine dieser Frauen, weil er im Verlauf der Handlung dann mit jeder von ihnen schläft.

Zwar nicht selbstverständlich, aber jedenfalls habe ich das Manuskript mit dem Arbeitstitel »Unter die Haut« dann nie vollendet, aber aus Recherchegründen habe ich ein paar Monate lang in einem Cremestübchen gegenüber des Wasserturmes als Verkäufer gearbeitet. Vor dem Laden stand ein Ginkobaum und im Herbst waren dessen Fruchtkugeln reif. Aber obwohl die wie die schöneren Mirabellen ausschauen, riechen sie im vollreifen Zustand halt nach Erbrochenem. Leider!

Davon abgesehen wurde mir aber in dieser Zeit einiges vom geheimen Fühlen der Männer zuteil; das war wirklich irre, weil ich mir bis dato gar nicht vorstellen konnte, wirklich wahr: dass die so sind. Wenn ich nämlich zu einem sogenannnten Geschlechtsgenossen beispielsweise sagte: »Schau mal, das ist eine schöne Augencreme für dich, weil du hast da schon diese Fältchen, die auf Geweberisse hindeuten«, oder »Hier, dieses Peeling für die Lider heißt Blue Orbital und du darfst das jeden Abend vor dem Schlafengehen auftragen – fühl doch mal, wie zart meine dadurch geworden sind«, waren die Reaktionen meiner Kunden noch harmlos mit abwehrend beschrieben. Da drückte sich für mich eine Irritation in deren Haltungen aus, als hätte ich soeben angeboten, ihnen eine eingecremte Salatgurke a tergo einzuführen oder noch Schlimmeres.

Bei einem Becher Früchtetee aus der Bregenzer Manufaktur von Susanne Kaufmann versuchte ich mich dann in male bonding, wobei der Horror vor einer Sorge um sich (Foucault) sich verlässlich darin ausdrückte: Wenn ich mich eincreme; wenn ich mich selbst berühre in anderer Absicht, als zu onanieren; wenn ich generell gut zu mir sein will: Infiziere ich mich dann nicht selbst mit Homosexualität?

Fand ich todtraurig. Das Kaufen von echt teuren Klamotten, von Gadgets, Wohnungen et cetera wurde ja offenbar als 100 Prozent hetero-männlich erlebt.

Im Cremestübchen ging es uns aber ums Geldmachen. Also importierten wir aus den Staaten ein schwachsinniges Männerprodukt nach dem anderen. Eins war ein Geschirrspülmittel in einer markigen Glasflasche in der Duftnote Bourbon. Das andere ein Raumspray mit dem Geruch von Pistolenöl. Wenn ich in den Verkaufsgesprächen behauptete, jeden Morgen mit Kerosin zu gurgeln, kam das allseits und spitzenmäßig an.

Von daher wundert es mich nicht, aber ich finde es trotzdem todtraurig, dass nach dem Attentat im vergangenen Winter alle Charlie sein wollten, nach dem 11. September waren alle Amerikaner, im November 2015 dann alle Franzosen, bloß: WIR SIND ALLE FRAUEN – das geht dann halt einfach nicht.

Ich mag die Musik von Prince nicht – außer Purple Rain oder When Doves Cry. Aber ich habe mir »If I Was Your Girlfriend« mal auf den Arm tättowieren lassen, da war ich ungefähr sechzehn. Weil das ein sehr schöner Satz ist - vor allem konnte dieser dem Satz zugrundeliegende Gedanke vor einhundert Jahren, ja noch nicht einmal vor dreißig Jahren von keinem Mann weder so gedacht, geschweige denn öffentlich so ausgesprochen werden. Ich bin total dafür, dass er ins Grundgesetz eingemeißelt wird. Und zwar, vorschlagsweise, in dieser leicht gekürzten Form:

If I was your girlfriend, would you let me wash your hair?
Could I make you breakfast sometime?
Or could we just hang out?
I mean could we go to the movies, cry together?
´Cause to me baby that would be so fine

Would you let me give you a bath?
Would you let me tickle you so hard?
You’d laugh and laugh and would you
Would you let me kiss you there?
You know down there where it comes
I’ll do it so good I swear
I’ll drink every ounce

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