»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

11.1.

Gestern Abend habe ich prompt acht Euro an den Hanser-Verlag überwiesen, aber anscheinend hat Tilman Rammstedt bereits die erste seiner vielen Schreibblockaden, vor denen ich auf der Website gewarnt worden war. Zumindest ist jetzt 6 Uhr 30 und die erste Lieferung seines Romanes Morgen Mehr ist leider noch nicht eingetroffen. Ich will mich nicht beschweren, aber ich hätte so etwas halt gerne gleich morgens ins Bett geliefert, bitteschön. Wahrscheinlich kommt der Text dann erst so extremschriftstellermäßig gegen 11 oder 10, das hätte man doch anders vorbereiten können, also einfach erst am 12. Januar anfangen mit dem Verschicken zum Beispiel. Merkt doch keiner, wenn man den Schreibbeginn und die Veröffentlichung um einen Tag versetzt. Plus: Er hätte dann einen sogenannten Puffer in petto, falls es tatsächlich mal zur Vollblockade kommen sollte – was ich Tilman Rammstedt freilich und auf gar keinen Fall wünschen will. Aber als alter Redaktionshase kann ich die Methode Puffer sehr empfehlen. Die fragliche Seite im Internet finde ich auch nicht mehr, beziehungsweise erkennt mich die Seite nicht mehr wieder, das Geld ist aber schon abgebucht. Ich könnte jetzt an PayPal schreiben, aber es ist mir jetzt schon alles viel zu kompliziert. Wahrscheinlich liegt es vor allem bloß am mercury in fucking retrograde. Der Merkur hat schon gestern meinen gesamten Tag ruiniert. Ich habe eben mal nachgeschaut: Das geht jetzt noch 14 Tage weiter in dieser Art, dann kurze Pause und Ende April noch mal drei Wochen – ich würde ja gerne umziehen derweil, aber das müsste dann ja ein Umzug auf einen anderen Planeten werden, und was machte ich denn dort dann ganz allein!

Cyprien Galliard steht wohl auch gern früh auf, er hat mir gestern um diese Zeit einen Film geschickt, da steht er mitten auf der Churchill Avenue in Addis Ababa vor der Bank und dreht sich mit der Kamera einmal im Kreis. Mal abgesehen davon, dass ich froh bin, dass er das offenbar überlebt hat (denn nach einer halben Stunde kommen noch Fotos, und Tote mailen nicht), muss ich beinahe lachen, denn da läuft ganz weit hinten ein Äthiopier durchs Bild, den ich kenne, eine fürchterliche Nervensäge namens Afwork, das bedeutet Goldmund, und er hat noch immer die gleichen Klamotten an wie vor drei Jahren, als ich ihn eben dort zum letzten Mal gesehen. Er gehört zu dieser Liga fliegender Buchhändler, die dort vor dem National Theatre am Zaun auf Kundschaft warten, um ihr krauses Sortiment aus hauptsächlich Atlas Shrugged von Ayn Rand und dem äthiopischen Grundgesetz in amharischer Schrift oder dem überall präsenten Augenheilkunde für Anfänger feilzubieten. In dem Café dahinter gibt es ausgezeichnete Rührei-Sandwiches, die man unter dem alten Baum mit seiner Megakrone, die den gesamten Vorplatz des Nationaltheaters überdacht, ganz langsam zu sich nehmen kann. Ansonsten hat man ja nicht gerade viel zu tun in Ä. Internet gibt es ja nur einmal die Woche, von daher ginge das mit einem Tagebuch oder auch mit einem Roman wie Morgen Mehr nur ganz schlecht, oder halt anders: »In Acht Tagen Mehr«. Aber wie ich Cypriens Film entnehmen kann, ist dort, wo zu meiner Zeit noch das Café war, mittlerweile, wahrscheinlich vorgestern erst – der Einfluss des Merkurs reicht bis nach Äthiopien! –, eine der gefürchteten Großbaustellen entstanden und das Hochhaus dahinter ist auch noch nicht fertig. Mit dem Rohbau hatten die aber schon 2012 angefangen, gleich nach dem äthiopischen Silvester am 11. September. Von daher sehe ich schwarz (no pun intended) für das Café.

Auf einem der Fotos ist ein ausgestopfter Hund zu sehen, den habe ich genau so, aus genau diesem Winkel, selbst auch mal aufgenommen; der steht im Naturkundemuseum, das an und für sich schon die halbe Miete ist, falls man sich entschließen sollte, mal einfach so nach Äthiopien auszuwandern. So gesehen habe ich mein Jahr auf einem anderen Planeten schon hinter mir und der Film und die Bilder triggern Erinnerungen in 3D, dazu kommt eine olfaktorische Halluzination der heftigen Sorte, die riecht nach Holzkohlenfeuer, nach Aib – der vergorenen Butter –, und nach Kerosin.

Viel verpasst habe ich wohl nicht; weder dort, aber damals auch nicht hier, bis auf eben diese eine Ausgabe des Zeitmagazins mit den
wunderschönen Fotos von Ben Lamberty, an die gestern auf einem Blog erinnert wurde. Ich bin dann sofort los zum Arkonaplatz, denn manchmal
finde ich auf dem Flohmarkt auch vernünftige Sachen, also solche vor allem, die ich brauche, und ich war mir seltsamerweise sicher, ich könnte
dieses Zeitmagazin dort finden. Dem war aber nicht so. Dafür war der Typ mit den Froschpräparaten wieder da. Leider auch in Begleitung seiner unverschämten Preise. Eines war schon besonders: Da waren, beginnend vom Laich ganz oben, darunter die Kaulquappen, dann die Quappen mit Füßen und zuunterst dann erst Baby- und dann Maxifrosch, in eine grüne Flüssigkeit eingelegt. Von der Wiege bis zur Bahre sozusagen, der gesamte Planet Frosch. Ist ja angeblich ein Symbol für die Vulva, behauptet zumindest Mechthild von Magdeburg. Und der goldene Ball, den der Froschkönig aus dem Brunnen hervorzuholen hilft, sollte als Symbol der Klitoris gesehen werden. Darf man nicht zu lange darüber nachdenken, sonst lacht die Tante Psychedelika.

Ignorieren darf man es aber auch nicht einfach so. Von daher werde ich den Fall Frosch unbedingt mit der Muse diskutieren. Und zwar gleich heute Nacht. Und das ausführlich. Auch in der Telepathie gibt’s einen Mondscheintarif.

Der Text von Tilman Rammstedt ist ja dann hoffentlich kurz vorher auch da.

10.1.

Neuerdings sind Flakes in hübschen Plastikröhrchen mit Klappverschluß im Umlauf und seitdem lässt sich eine qualitative Verbesserung im Berliner Gesellschaftsleben beobachten, die teilweise auch schon spürbar geworden ist: Das Kokain scheint stärker, beziehungsweise wird es weniger verschnitten sein als die üblich gewordene Ware, die von den Taxifahrern gegenüber des St. Oberholz geliefert wurde. Also müssen die Menschen nicht mehr alle zehn Minuten zu den Toiletten um nachzulegen, man hat wieder mehr Zeit füreinander, das wirkt sich positiv auf die Gespräche aus, weil endlich wieder so etwas wie ein Miteinander entstehen kann.

Aus geradezu zoologischer Perspektive ließ sich das Phänomen an Silvester im Grill beobachten. Es waren ja doch mehrere Hundert gekommen, trotz des heftigen Eintrittspreises von 250 Euro exklusive Getränke, und anders als viel früher trifft sich dort mittlerweile eine ausgesprochen heterogene Crowd. Kurz vor Mitternacht ließ Boris Radczun sich von einem Assistenten die persönlichen Feuerwerksvorräte auf die Spreeterrasse rollen – ohne Übertreibung handelte sich bei dem hier eingesetzten Vehikel um eine hüfthoch beladene Lastkarre auf vier Rädern, die ansonsten zum Transport von Rinderhälften eingesetzt wird. Die Stunde bis ein Uhr, der ersten des Jahres 2016, verbrachte er dann halt mit dem Rücken zum Publikum an der steinernen Brüstung stehend, um – das verbindet schicksalshaft extrem viele Männer weltweit an Silvester – die dann doch zahlenmäßig ihm überlegenen Lunten abzuarbeiten (und deswegen auch nicht wirklich würdigen zu können, was weiter oben platzte, auffunkelte oder schnöde detonierte).

Da ich das Geknalle hasse wie den Song Geiles Leben von Glasperlenspiel, der echt die Pest ist, unterhielt ich mich während des angeblichen Spektakels mit Carl Jakob Haupt, in dessen makellosen Zahnoberflächen ich mich nicht nur spiegeln kann, ich finde ihn auch ansonsten und überhaupt schlicht brillant. Generell will ich eigentlich nur noch mit Personen zu tun haben, die mindestens zehn Jahre jünger sind als ich; besser noch: zwanzig Jahre. Und zwar aus dem einfachen Grund, weil ich da ein Selbstvertrauen vorfinde, das mir selbst mehr und mehr abhandenzukommen scheint. Wenn ich das Feuilleton lese, na gut, da ließe sich fragen: Warum denn auch? Andererseits wird das doch offensichtlich für meinesgleichen gemacht und von daher: lese ich es halt – dennoch gibt mir ein Gespräch mit Jakob am Ende dann doch mehr, da der mir mit seiner Sicht auf ganz vieles vor Augen führen kann, dass die herkömmlichen Instrumente nicht mehr gut taugen zur Analyse der Welt. Eine romantische Einstellung bringt ja rein gar nichts, wenn der damit beäugelte Gegenstand selbst keine Gnade mehr kennt. Wer aber Punk, Pop, New Wave nur noch als Revival kennengelernt hat, wer selbst nie Teil einer Jugendbewegung war, weil es damals schon keine Jugendbewegungen mehr gab, der trägt einen Zynismus sozusagen beinahe genetisch in sich, dass ich es beneidenswert finde. Echt wahr.

Tränen finde ich nicht cool. Aber heilsam. Ich weine nicht an jedem Tag, aber schon mehrmals die Woche (mein Nachbar macht dann gerne den Heimbohrer an). Was ich an Menschen wie Jakob gut finde, ist dieses Beieinandersein von Empathie und Egoismus; dass einen eben nicht alles und jeder zur Verzweiflung treiben kann.

Leider, leider und nochmals: leider gibt es ja unter den deutschen Journalisten noch immer viel zu viele, die das Vorurteil perpetuieren, dass Fotomodelle und Modeblogger dumm sind; dass es allenfalls die Modeschöpfer sind, die in diesem ebenfalls unter Dummheitsverdacht stehenden Gewerbe etwas in den sogenannten Birnen hätten; ich muss es ihnen, diesen Feuilletonisten, die so denken, sogar und auch noch nachsehen, denn die meisten davon, die, die ich kenne zumindest, arbeiten ja in einer Isolation und kennen sich nicht wirklich aus. Besuche von Modeschauen in anderen Ländern und das Nachhausetragen der Freebies reicht halt leider nicht aus, um kompetent über die angebliche Oberfläche schreiben zu können, die David Hockney so richtig und zutreffend definierte mit seinem »Surface is an illusion, but so ist depth«.

Und inmitten eines Gespräches dieser Art stellte sich vor uns ein Mann auf, wir kannten ihn nicht, um sich vor uns die Hose ganz aufzuknöpfen und kurz bevor ich wegschaute, sah ich noch seine gestutzte Schambehaarung und darunter hing sein Geschlechtsteil. Daraufhin konnte ich nicht anders, als ihm ins Gesicht zu blicken und er sagte nur: »Sorry«, und etwas wie »Musste mal sein«. Fand ich ja nicht, aber ich hatte auch null Lust, mit diesem Vollidioten zu diskutierten, also sagte ich reflexartig »Macht doch nix, ich kenn’s ja«, obwohl ich es wirklich überhaupt gar nicht so meinte, aber da hat Dirk von Lowtzow ja recht: Silvester ist Selbstmord, und am Ende hilft ja doch alles nichts. Jedenfalls hätte ich in dem Moment dann doch gern so ein Plastikröhrchen gehabt, aber Kokain ist halt vor allem auch schädlich für die Telepathie. Und die Verbindung zur Muse ist mir wichtiger als eine Chance auf Betäubung. Also besann ich mich auf mein Gedächtnis und erzählte Jakob einen Schwank aus der Zeit vor seiner Geburt. Genauer gesagt aus dem Jahr 1996, denn da begab es sich, dass Nick Cave den MTV Music Award hätte erhalten sollen, aber er weigerte sich und wies den Preis zurück. Und zwar in Gestalt eines Briefes, handschriftlich verfasst, mit Kugelschreiber, auf einem Blatt Papier. Darin stehen zwei oder drei Sätze, die für mich und für meine Art mein Leben zu führen, megabedeutend geblieben sind:

I am in competition with no-one.

My relationship with my muse is a delicate one at the best of times and I
feel that it is my duty to protect her from influences that may offend
her fragile nature.

She comes to me with the gift of song and in return I treat her with the
respect I feel she deserves — in this case this means not subjecting
her to the indignities of judgement and competition. My muse is not a
horse and I am in no horse race and if indeed she was, still I would not
harness her to this tumbrel — this bloody cart of severed heads and
glittering prizes. My muse may spook! May bolt! May abandon me
completely!

Und ich konnte es fühlen, wir sprachen da längst nicht mehr: Jakob empfindet das auch und genau so.

9.1.

Anne schickt ein Bild aus dem Leipziger Hauptbahnhof: ein Quadruple-Feature, wie sie es nennt. Zu sehen sind vier Leuchtkästen in der Wandelhalle dicht beieinander, in jedem ist eine Werbung von Elitepartner.de zu sehen. Ich schreibe ihr, dass man mal echt etwas über Bahnhöfe machen müsste, also über den Bahnhof als Ort an sich und sie schreibt zurück »Mach mal«. Aber ich kann nicht.

Ann Scott hat die Playlist gepostet, die sie während des Schreibens benutzt hat. Ein Roman ist ja überfällig, seit etwa einem Jahr wird die Veröffentlichung verschoben, ich bin schon davon ausgegangen, dass da überhaupt nichts mehr kommt. À la folle jeunesse habe ich sehr gern gelesen. Ich habe zig Verlagen angeboten, dass ich es übersetze – keiner wollte es haben. Ihr neues Buch soll noch immer Cortex heißen. Die Playlist ist aber fürchterlich und könnte auch von Sibylle Berg zusammengestellt worden sein: Marilyn Manson, Nine Inch Nails, Hans Zimmer.

Ich kann keine Musik hören, während ich schreibe. Mich stört Musik schon beim Denken, und hier hat meine Wohnung einen echten Vorteil zu bieten: Es ist dort zu jeder Tages- und Nachtzeit vollkommen still. So sehr, dass ich meine Cornflakes ultraleise esse, weil ich vor dem Sonnenaufgang die Vögel zwitschern höre. So laut zwitschern die, beziehungsweise so still ist es um mich herum. In dem Baumgerippe vor dem Plattenbau sitzen sich zwei Elstern gegenüber und krähen, immer abwechselnd. Vor ein paar Monaten diskutierte ich mit Frédéric Schwilden in der Bar der Mädchenschule über die Sprache der Vögel. Er war da gerade noch mit seinem ersten Roman beschäftigt, der garantiert noch vor Cortex erscheinen wird, und darin sollte es auch ausführlich um die Sprache der Vögel gehen. Ich gab zu bedenken, dass Vögel keine Sprache beherrschen, aber das wollte er nicht anerkennen. Ich sagte, dass die Geräusche, die Vögel produzieren, lediglich Signale sind. Dass Vögel, dass selbst Kanarienvögel oder Nachtigallen damit nichts anderes aussagen können als »Fick mich«. Und das eben unermüdlich und tausende Male hintereinander, bis es wieder dunkel wird. Daraufhin fiel ihm zur Abwechslung mal nichts mehr ein. Deshalb fragte ich ihn, ob er denn wüsste, wie Zugvögel eigentlich den Weg finden – die fliegen ja nachweislich in jedem Jahr wieder an dieselbe Stelle in Afrika; selbst wenn es den Ferienbaum inzwischen nicht mehr gibt, weil er gefällt wurde, nehmen sie den Nächstbesten gleich nebenan.

Wusste er aber auch nicht. Vermutlich hatte er noch gar nie darüber nachgedacht. Das war alles überhaupt nicht böse gemeint von mir, aber es kam dann vermutlich doch genau so an.

8.1.

»Ich kann sicher nicht mit meiner
Muse schlafen, ob -
wohl ich gerne wür -
de, aber ´ch
trau‘ mich ni-hicht«,

wie findest Du das?

Ja – sagt Lorenz und lässt den Glanz in seinen Augen zuerst aus, dann wieder an, und wieder ausgehen. Um nach einer Weile hinzuzufügen »Gibt’s halt schon, oder?«

– Wie, wo denn?!?

– Na hier.

– Tatsächlich. Das ist aber schon gut! Die Gitarre vor allem –

Dann lange nichts

– Ich mag ja Lieder, in denen die Bridge besser ist als der Refrain.

– Ja, aber hier: Schau, da spuckt er auf die Straße.

– Fußgängerzone.

– Egal. Soll man nicht.

– Stimmt, wegen Verrat am humanistischen Menschenbild. Aber die Gitarre ist echt  r i c h t i g  gut. Das könnte das neue 10:15 Saturday Night werden.

– Ist es schon, glaube ich.

– Der Refrain gefällt mir jetzt auch. Allein schon wegen Tante Psychedelica!

– Die schreibt ja Joachim Lottmann.

– Die Texte?

– Die Drehbücher auch. Lottmann kommt ja ursprünglich vom Film. Ein Filmer. Das andere Lied ist aber nicht so gut. Bis auf diese letzte Einstellung eben, in der die nackten Knie von Ronja von Rönne aus der Donau ragen und der Sänger macht dann so einen müden Hechtsprung mitten zwischen diese Knie. Also müde, aber entschlossen.

– Ah ja? Das klingt aber überhaupt gar nicht nach Lottmann. Der arbeitet doch gerade an seinem Alterswerk. Hotel Sylvia, großartig! Da geht es um diese mädchenhafte Terrorfrau, die schon im Geldkomplex das Beste überhaupt ist. Die immer betrunken sein muss, damit er sie ausziehen darf und die ihm dann ins Ohr flüstert, dass er aber ganz leise sein muß, weil sonst ihr Vater – und dann schreit sie selbst ganz laut die ganze Zeit. Das klingt jetzt kitschig, aber Lottmann macht das eben gut. Der schreibt ja in dem Text auch in jeden Satz stumpf das Wort Alterswerk rein und man überliest das. Man kriegt es nach ein paar Seiten gar nicht mehr mit, aber ich habe mir dann Anstreichungen gemacht und das Wort kommt tatsächlich mehr als vierhundert Mal drin vor. Auf 180 Seiten oder so. Darin, aber eben nur darin, unterscheidet sich Joachim Lottmann auch von Martin Walser: Er altert nicht in seinen Texten. Das will ich übrigens auch nicht. Auf gar keinen Fall!

– Vermutlich handelt es sich bei dieser Frau um Juno Meinecke.

– Vielleicht. Wobei ich das inzwischen öde finde, dieses Herausfindenwollen, wer da nun für wen steht. Oder stehen könnte. Darum geht es doch auch in diesem Lied, da hat Lottmann sich doch ganz klar positioniert, wenn er ihn in diesem echt guten Bridge-Teil singen läßt: Wenn jemand fragt, wofür du stehst und so weiter.

– Das hat Rainald Goetz zitiert. Zum Abschluss seiner Büchnerpreisrede.

– War mir damals gar nicht so klar, weil ich das Lied da noch nicht kannte. Aber das bekommt jetzt für mich eine Riesenbedeutung, denn das entspricht ja einer Riesenhandreichung von Rainald Goetz an Joachim Lottmann. Damit geht eine jahrhundertelange Erzfeindschaft zu Ende. Begraben und vergessen.

– Es ging um das geheime Wort. Lottmann schrieb es in den Liedtext hinein – du hast ja schon recht, dass die Bridge auffällig andersartig gut ist als der Rest. Damit konnte und wollte Lottmann Rainald Goetz auf seine Botschaft hinweisen, die eben in diesem geheimen Wort besteht, demnach das ganze falsche Wesen fortzufliegen hatte. Dass Rainald Goetz nun dieses geheime Wort als Pointe seiner Büchnerpreisrede nennt, muss für Joachim Lottmann eine Riesenerleichterung nach Jahrzehnten der Schande bedeutet haben. Dazu musst du freilich wissen, dass Joachim Lottmann ganz ursprünglich, also noch vor der Filmerei, von der Malerei herkam. Er war ja Maler, Lottmann. Martin Kippenberger beschäftigte ihn als Studioleiter, die Kanarienvogelserie beispielsweise: alles Lottmann. Ich kann mich da noch gut daran erinnern, das war noch vor der Entdeckung des Meinecke-Strudels – und auch nicht in Frankfurt, sondern in Köln – da war es insbesondere Joachim Lottmann, der als das eine Talent gehandelt wurde, mit dem in der deutschen Malerei zu rechnen sein würde. Sogar noch vor Gerhard Richter und Andreas Schulze. Aber dann kam es, wie es leider noch sehr oft kommen sollte in der Karriere Joachim Lottmanns, dass er sich auf fatale Weise mit Martin Kippenberger überwarf. Um die Preise für die Gemälde Kippenbergers hochzutreiben, die kosteten ja damals noch so gut wie gar nix, hatte Joachim Lottmann sowohl dem Spiegel als auch der Quick jeweils extrem ausführliche journalistische Portraits des sagenumwobenen Malers angeboten. In enger Absprache mit Martin Kippenberger selbst hatte Lottmann diese Portraits dergestalt verfasst, dass der Text im Spiegel zu einer einzigen und beinahe unerträglich guten Lobeshymne würde, der in der Quick hingegen ein ultrabösartiger Verriss auf zwanzig Seiten. Das konnte aber auf der medialen Metaebene nur zünden, wenn beide Texte in derselben Woche gedruckt würden. Tja, und da passierte dann das Malheur. Die Quick brachte die extrem geschäftsschädigende Horrorstory natürlich, beim Spiegel aber stimmte die Redaktion gegen die Veröffentlichung. Kippenberger brach noch in derselben Woche mit Lottmann. Sein Einfluss auf die Kölner Gesellschaft war damals bereits gigantisch, sodass Joachim Lottmann schließlich umziehen musste. Er verließ die Stadt. Seitdem ist er auf der Flucht.

– Da hat Adorno Recht, wenn er in Hinter den Spiegel schreibt, dass der Schriftsteller letztendlich nicht einmal mehr in seinen Texten zu Hause sein darf. Vermutlich war es also diese Vertreibung aus Köln und letztendlich auch aus der Malerei, die Joachim Lottmann ins Schreiben endgültig hineingejagt hat. Und jetzt gibt es ja schon wieder Probleme, denn sein Alterswerk Hotel Sylvia sollte ja bei seinem neuen Verlag erscheinen. Und der heißt ja unglücklicherweise Haffmanns & Tolkemitt.

– Tja.

– Vermutlich wird Rainald Goetz ihn bei Suhrkamp unterbringen. Woraus besteht eigentlich dieser Meinecke-Strudel?

– Der Meinecke-Strudel entsteht in Frankfurt während der Buchmesse. Sobald Thomas Meinecke am Stand des Suhrkampverlages erscheint, wird er von Studentinnen der Kulturwissenschaften umringt. Da Meinecke selbst bereits eine gewisse Leibesfülle mit sich bringt, entsteht durch die zusätzliche und zunehmende Umringung in jedem Jahr ein Strudel, der das Betreten des Suhrkampstandes oft über viele Stunden unmöglich macht. Das ist der Meinecke-Strudel. Jedenfalls habe ich ihn einmal so genannt. Und seitdem heißt dieses Phänomen so.

– Okay. Ich sehe übrigens gerade: Histiophryne psychedelica wurde vor gerade mal sieben Jahren erst entdeckt!!!

7.1.

Bei Schneekugeln rieselt es aus einer glasklaren Kuppel, in der Wirklichkeit bleibt es dort oben ja die ganze Zeit über bedeckt. Nachts wird das Firmament vom Licht der Straßenlaternen in einem Grauorange angeleuchtet, die Sterne kann ich jedenfalls nicht erkennen. Auf ismercuryinretrograde.com wird der fatale Tag mit dem 25. Januar angegeben. Im gegenwärtigen Jahr des Hasens soll dann vor allem viel Technik kaputtgehen. Insbesondere Staubsauger sind angeblich besonders gefährdet. Warum gerade die? Ich weiß es nicht.

Gestern allerdings dann schon ein Vorbote: Petra schickt eine E-Mail, beziehungsweise leitet sie eine an die Agentur gerichtete weiter und schreibt darüber bloß »M E G A B E S C H E U E R T #Mercury???«. Ich lese mir durch, was darunter steht, erst von links nach rechts und Wort für Wort, und danach nehme ich den Schriftsatz in seiner Gänze noch einmal in mich auf wie ein Bild, wie eines dieser Telegramme in alten Filmen, die viel zu lange in die Kamera gerückt wurden, damit der Zuschauer sie an der Stelle des Protagonisten in sogenannter Echtzeit entziffern konnte. Till Tolkemitt also, seit kurzem erst Verleger bei Rogner & Bernhard, schreibt, er habe kurz vor Weihnachten mit dem Verlag Insolvenz anmelden müssen. In der Betreffzeile steht »Badd News«. Mit zwei D. Der Insolvenzverwalter heißt angeblich Professor Rattunde. Abschließend zitiert er, Tolkemitt, einen gewissen Gereon Klug. Den kenne ich gar nicht, empfinde auch keine Lust, ihn zu googeln. Was ich empfinde, ist eine allumfassende Erschöpfung Punktpunktpunkt

BEIM TINTENFISCH!

Ziemlich genau ein Jahr lang – also 2015 – habe ich geforscht und geschrieben an einem Manuskript, das in diesem Juni in diesem Verlag hätte erscheinen sollen. Auf dem Schreibtisch meines Computers liegt ein Ordner mit dem Arbeitstitel dieses Buches Wie Wir Werden Was Wir Sind. Darin liegt das Pages-Dokument des Manuskripts und darunter werden 84 PDF-Dateien zu Begriffen und Personen aufgelistet, von denen ich 2014 noch nichts wusste. Drüben am Fenster steht ein Stuhl, darauf liegen sieben Bücher sogenannter Fachliteratur, die ich ansonsten wahrscheinlich nie gelesen hätte. Von Ende März bis in den Juni habe ich in Cagnes-sur-Mer gelebt, um mit der Niederschrift anzufangen. Dazu hätte ich mich ansonsten, also ohne dies Manuskript und vor allem ohne diesen Vertrag mit Rogner & Bernhard, wohl auch nicht entschließen können (dort hinzufahren und dort zu leben, einfach bloß so). Den ganzen Sommer über saß ich tagsüber vor dem Souterrain und manchmal auch vor dem Souterrain IV, um auf diese eine Idee zu kommen, ohne die ich nicht mehr weiterschreiben konnte. Die Idee kam dann aber letztendlich doch nicht. Aber im August hat mich zum ersten Mal die Muse erhört, und das änderte zwar nicht alles, aber fast. Auf jeden Fall viel. Ich verwarf die erste Version und schrieb gewissermaßen auf ihrer Rückseite eine komplett neue, die mir schon viel besser gefiel. Sehr viel besser. Und dieses Hochgefühl hielt sich auch noch ein paar ganze Tage, bis Punktpunktpunkt

Ja. Bis ich den Fehler machte, einer Einladung von Adriano und Ingo Folge zu leisten. Die hatten eine erweiterte Neuausgabe ihres Breiten Wissens erstellt, das ebenfalls von Rogner & Bernhard verlegt wurde. Dafür hatte ich ein paar Einträge verfasst, über Autonomous Sensory Meridian Response, über Aquaponik und Poutine et cetera, die Buchvorstellung fand statt in Roger Bundschuhs Schöneberger Megawohnung, es war bereits dunkel, man nahm Codein, es gab Brezeln und eigentlich war alles genau so, wie es sein sollte, da trat Till Tolkemitt in seiner Funktion als Verleger vor die lauschende Menge und hielt eine Ansprache, für die ich mich heute noch Punktpunktpunkt

Den ganzen Sommer über hatte ich in dem Briefwechsel von Siegfried Unseld und Peter Handke gelesen. Das war in diesen Wochen bevor Die Stunde zwischen Frau und Gitarre herauskam, dieses Hammerbuch, das mich dann für die nachfolgende Zeit okkupieren sollte wie Fieber. Jedenfalls war ich durch die Lektüre des Briefwechsels an diesem Schöneberger Abend noch auf ein nostalgisches Bild des Verlegers gestimmt gewesen. Dann kam die Rede. Ich erinnere mich noch deutlich an Ingos Stirn auf der Tischplatte. Dann las Frédéric Schwilden seinen Eintrag zum Kokain. Ich teilte mir ein Taxi mit Eva, ging nach Hause, setzte mir eine B12-Injektion und spielte drei Tage und Nächte lang Orlando schläft.

In einem Punkt bin ich mit Karl Lagerfeld einer Meinung: Das wichtigste Möbelstück ist der Papierkorb. Ich liebe dieses metallisch federnde Geräusch, wenn ich eine Datei in den Papierkorb verschiebe. Und ich kann es nicht ertragen, wenn das Programmsymbol des Papierkorbs anzeigt, dass sich noch ungelöschte Dateien in seiner Ablage befinden. Auf meinem Computer läuft ein veraltetes Betriebssystem, da wird der Papierkorb noch pseudorealistisch als ein tatsächlicher Korb aus geflochtenem Draht dargestellt.

Möchten Sie die Objekte im Papierkorb wirklich endgültig löschen?

Diese Aktion kann nicht widerrufen werden.

(Abbrechen) (Papierkorb entleeren)

Papierkorb entleeren

Dieses Knistern!!!

6.1.

Der Zeitpunkt könnte nicht günstiger gewählt werden: Seit gestern bedeckt eine zwar dünne, aber dennoch belastbare Schneedecke sämtliche Waagerechten in Prenzlauer Berg. Alle Vertikalen sind von den Plakaten des Institutes Elitepartner.de zugepflastert. Überwiegend in Leuchtkästen an den Haltestellen von Bussen und Straßenbahnen des ÖPNV der BVG, sowie konventionelle Bauzaunplakatierung, Billboards in den Stationen von U- und S-Bahn. Dazu kommt eine raffinierte Viralstrategie durch studentische Hilfskräfte, die Wildfremden in Bars und Restaurants von ihren megaguten Erfahrungen mit diesem Partnervermittlungsservice für gehobene Ansprüche berichten. Es gibt partout kein Entrinnen.

Die Botschaft lautet: Liebe! Aber bloß nicht für alle, sondern »für Akademiker und Singles mit Niveau«.

– Das hat noch gefehlt, leitet Wolfgang Schmidbauer seine Antwort ein, als ich ihn zur Blauen Stunde endlich ans Telefon kriege, aber klar: Jetzt, wo sie Weihnachten und Silvester hinter sich gebracht haben, schnellt gerade in den gebildeten Ständen die Trennungsrate hoch wie anderswo nur beim Hau den Lukas.

Hier wirken sich, so Schmidbauer, vor allem psychologische Gründe aus. Beziehungen unter Akademikern und generell unter Menschen ab einem gewissen Niveau sind naturgemäß fragiler als solche, die aus materiellen Zwängen heraus zustande gekommen sind. Intellektuelle tun sich ja gewohnheitsmäßig aus ideellen Gründen zusammen. Da soll es dann in der Beziehung vor allem um Gefühle gehen und um ein gemeinsam verbrachtes Leben als Projekt. Was diesen Beziehungen häufig fehlt, ist ein Gehäuse aus Sachzwängen, das die naturgemäß zum Individualismus strebenden Partner aneinanderdrängt. Schmidbauer nennt hier, mit einer Prise Salz zu verstehen: »in erster Linie das fehlende Geld«.

Zum Abschluß unseres in jeder Hinsicht erbaulichen Telefonats gibt mir der Autor des Klassikers Kassandras Schleier – Das Drama der hochbegabten Frau noch einen Nugget seines Beziehungswissens mit: »Eingeschneit und pleite, das Weihnachtsgeld für Geschenke, Böller, Fondue und enttäuschende Kurztrips verfeuert, den Harmonieterror der Weihnachtstage und die mehr symbolisch als irgendwie sonst anders zu deutende Eruption des Silvesterfestes mehr schlecht als recht überstanden habend, müssen Sie sich das Gros der gebildeten Bevölkerung momentan in einem inneren Belagerungszustand vorstellen. Die erleben derzeit ihr emotionales Stalingrad.«

Hierzu fällt mir, mit gemischten Gefühlen, ein Nachmittag bei der BZ mit meinem Lehrmeister Franz Josef Wagner ein. Wir bekamen damals durch seinen Stellvertreter Wolfram Schierenbeck eine Geschichte auf den Tisch, nach der ein Mann, seit Tagen schon tot, in einer Solokabine bei Beate Uhse am Bahnhof Zoo entdeckt worden war. Wagner hörte sich das an, griff nach den Zigaretten. Rauchte eine. Fünf Minute lang. Schweigend. Und diktierte dann die Schlagzeile für den kommenden Tag: DIESE VERDAMMTE EINSAMKEIT!

(Schierenbeck ab)

Der Ursupator greift, um in Schmidbauers Bild zu bleiben, von Hamburg aus zu. Elitepartner.de ist ein Spin-off der marktgängigen Plattform Parship.de, einem Matchmaker für jedermann. Hüben wie drüben regiert eine Trias aus alten Partnerschaftsvermittlungshasen die Geschäfte: Marc Schachtel, Chief Technology Officer, war zuvor bei Goodbeans und Platinion; Henning Rönneberg, Chief Operating Officer, hat bei Bertelsmann angefangen und ging danach zu Pixelpark und später Infineon; Tim Schiffers, Chief Executive Officer hat bei Bertelsmann gelernt, wurde dann bei Wundermann Direktmarketing engagiert und wechselte von dort aus zur adviqo AG. Parallel zu Parship.de und Elitepartner.de leitete er »über das letzte Jahr für Holtzbrink Digital verschiedene Optimierungs- und Strategieprojekte«. Kurz noch was zu den Privatpersonen: Herr Schachtel »ist begeisterter Vater einer Tochter. In seiner Freizeit bereitet er sich entweder gerade auf einen Konferenzvortrag vor oder plant die nächste Reise auf andere Kontinente«. Henning Rönneberg »ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. In seiner Freizeit geht er vor allem Outdoor-Sportarten wie Wind- oder Kitesurfen nach«. Tim Schiffers schließlich »ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. In seiner Freizeit sucht der gebürtige Bonner die sportliche Herausforderung beim Tennis, Laufen und Skifahren oder findet Entspannung in der modernen Kunst«.

Passend zu diesen volksnahen Lebensläufen finden sich auch die Werbemittel für Elitepartner.de gestaltet. Es gibt eine Vielzahl von Motiven, vorwiegend sind auf den Plakaten, Spuckis und Billboards aber Frauen zu sehen. Diese sind nicht nur ausnahmslos lang-, sondern auch glatthaarig. Eine trägt eine weit aufgeknöpfte Bluse mit Längsstreifen, darunter ein (quer) geringeltes Bikinioberteil. Der einzige Mann, den ich auf den etwa einhundertachtundziebzig Plakaten in meinem Viertel entdecken konnte, trägt seine Frisur und den Bart »im Stile seiner Ära« (Douglas Coupland). Seltsam, dass die abgebildeten Frauen dagegen irritierend zeitlos gestylt wurden.

Gemäß der Selbstauskunft des Unternehmens sind 54,3 Prozent der registrierten Mitglieder der Website weiblichen Geschlechts. In Personen: mehr als 2,1 Millionen. 68 Prozent aller Mitlieder können einen akademischen Background vorweisen. Seltsam finde ich da nur, dass dieser Dienst bei formulierter Anspruchshaltung dennoch funktioniert wie alle anderen auch: Profilbilder locken, dazu kommen Maße, sexuelle Vorlieben oder Wünsche, Körpergewicht, Wohnort et cetera. Werden die Akademiker und Singles mit Niveau tatsächlich ernst genommen? Warum gibt es überhaupt eine Notwendigkeit für Bilder, warum nicht bloß Texte? Wäre es nicht niveauvoller, wenn sich Akademiker und Singles mit Niveau vom Druck der Oberflächlichkeit lösen dürften; wenn sie sich sozusagen von Innen nach Außen ineinander verlieben müssten? Wäre das denn nicht wahrlich erst elitär?

Gut, klar, das ginge auf Kosten des Reibachs von Schachtel, Rönneberg und Schiffers.

Andererseits, aus intellektueller Perspektive: Was ist schon Geld. Was bedeutet denn letztendlich schnöder Profit – angesichts wahrer Liebe? Oder um Wolfgang Schmidbauer, den Doyen der Partnerpsychologie mit Niveau, beim Wort zu nehmen: »Intellektuelle tun sich gewohnheitsmäßig aus ideellen Gründen zusammen. Da soll es dann in der Beziehung vor allem um Gefühle gehen und um ein gemeinsam verbrachtes Leben als Projekt«.

5.1.

Nach dem Erwachen aus einem heftigen Traum schaue ich zwar mehrmals hintereinander auf dieselbe Stelle vor dem Fenster, halte es aber zunächst für eine optische Täuschung. Das Trottoir in dieser denkmalgeschützten Plattenbausiedlung wurde mit neuartigen Straßenlaternen nachgerüstet, deren Leuchtmittel diese aggressiv blendenden Wellen aussendet, wie man sie von den BMW-Fernlichtern kennt. Aber tatsächlich: Schnee. Zwar nur eine ganz dünne Schicht, das lässt sich auch von weit oben bereits erkennen, aber dennoch.

Im Nachhinein lassen sich so einige Zeichen und Wahrnehmungen des gestrigen Tages als orakelhafte Ankündigung des nächtlichen Schneefalls lesen, vor allem das Kinoplakat für Die Winzlinge – Operation Zuckerdose, der für mich jetzt schon, ungesehen, einen Höhepunkt meines persönlichen Kinojahres markiert. Aber auch, dass nach wochenlangem Warten gestern endlich das bestellte Buch von Komako Sakai eingetroffen war, deren anderer Erfolgstitel Es schneit heißt. Schneit es nachts, schläft man tiefer, vermutlich somit auch besser. Selbst wenn man allein schläft, träumt man ganz andere Geschichten, solange es schneit. In meinem Traum wurde ich von einer megagroßen, in ultrasüßem Puderzucker gebadeten Extremschnecke überrollt. Wie es mir träumenderweise schien, konnte ich mich danach noch monatelang nicht mehr bewegen. Leider gibt es in meinen Träumen keine Musikbegleitung, aber in meiner Erinnerung an den Traum drang aus dem Inneren der zuckrigen Schnecke die Stimme von Diana Krall. Ich kann übrigens gut verstehen, weshalb Elvis Costello Diana Krall geheiratet hat. Ich kann nicht so gut verstehen, weshalb Diana Krall Elvis Costello geheiratet hat.

Dass jetzt Schnee liegt, bedeutet glücklicherweise auch höhere Temperaturen. Schnee braucht ja eine gewisse Erwärmung, um fallen zu können. Der iPod funktioniert tadellos. Erstes Stück, ganz klar, von Pantha du Prince: Es schneit.

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