»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

29.2.

Iren sind eine in Deutschland irrelevante Volksgruppe (no pun intended), in den Vereinigten Staaten von Amerika verhält sich das anders - Stichwort House of Pain. Dementsprechend war gestern in der New York Times auf deren sonntäglicher Liebesseite ein Artikel zu dem für Amerikaner wohl denkwürdigen Umstand, weshalb es Frauen noch immer solche Schwierigkeiten verursacht, Männern einen Heiratsantrag zu machen. Historisch führte die Recherche dann eben dorthin, nach Irland, wo kurz vor dem Ausbruch der legendären Kartoffeldürre ein Oberhaupt der katholischen Kirche von Irland den irischen Frauen die Erlaubnis erteilt hatte, auserwählte Männer zu beknien - allerdings nur an einem einzigen Tag eines Jahres und das auch nur alle vier, nämlich speziell an einem wie heute: dem 29. eines Februars, einem sogenannten Schalttag (so als ob es von deren Sorte gleich mehrere gäbe). Einem, interessiert man sich fürs Kalendarische, doch seltsamen Phänomen, denn: Wie geht es beispielsweise jemandem, der am Schalttag geboren wurde? Geburtstag bloß alle vier Jahre - feiert man dann zwangsläufig, und wenn ja, geht es dann tatsächlich ums Geburtstagskind an und für sich, oder schwingt bei der Freude auch die Lust am Exotischen mit, so wie beim Schlüpfen eines Albinopfauenkükens?

Ich persönlich kenne nur eine einzige Person, die von ihren Eltern circa neun Monate vor einem Schalttag gezeugt wurde, Margit J. Mayer nämlich und es ist mir jetzt ganz bestimmt passiert, also: unterlaufen, aber die Folgen sind bereits kaum auszudenken, denn mit Sicherheit habe ich ihren Namen falsch buchstabiert. Das geht mir sonst nur noch mit einer anderen Frau so, und auch diese nimmt es mir dementsprechend heftig übel, aber mittlerweile ist das Quartier 206 ja nicht nur etwas, sondern extrem abgemeldet und von daher brauche ich mich von dieser Wie schreibt man die eigentlich-Panik nicht mehr quälen zu lassen.

Die New York Times ist ja von ihrem Format her eine gute Zeitung. Deren Motto »All the news that’s fit to print« weist bereits darauf hin. Außerdem halt der Comicstrips wegen ein Muss. Und dann das Logo! Angeblich eine spezial angefertigte Fraktur, sagen die Winkle Picker in den Typografie-Foren. Mit einem Font namens Old England kommt man dem Ergebnis wohl am nächsten, so heißt es dort.

Es gibt eine Aufnahme von John Lennon, auf diesem Portrait trägt er ein T-Shirt mit dem Logo der New York Times quer über der Brust. Mir schleierhaft, weshalb das die Frankfurter Allgemeine Zeitung nicht macht: also solche T-Shirts! Stattdessen iPad-Gutscheine oder Thermomix wie alle anderen. Dabei ist doch dieses Logo der Kracher, um das sollte es gehen, und muss!

Zumindest haben die in Frankfurt aber noch eines und haben es nicht etwa wie, ganz fürchterlich, bei der Welt am Sonntag, zu vermeintlichen Gunsten einer VW-Geschäftsberichtsoptik geschleift wie die US-Navy die mesopotamischen Bauten. Dafür müsste man halt zumindest wissen, dass sich beispielsweise der Detektiv in Mortelle randonée in der Maschine nach Baden-Baden hinter einer Ausgabe der Welt versteckt, deren einst schönes Logo damals ja noch in Schwarz auf Weiß gedruckt ward. Dies Logo mit dem Globus in seiner Mitte, ist also durch die Filmgeschichte veredelt. In unserer schnöden Wirklichkeit ist es bereits whack.

Kann man alles machen.

Sollte man aber besser nicht.

»Wenn man so lange alleine gelebt hat wie ich jetzt«, sagt die Frau in ihrem bodenlangen Steppmantel, der selbst dann noch immer bodenlang reicht, als sie längst auf einem Barhocker sitzt, »dann weiß ich gar nicht, ob ich mir dann nicht selbst auf die Nerven gehen würde, wenn ich mich mit anderen Augen sehen könnte - also mit seinen in dem Fall.«

Kurzer Abstecher nur in die DDR-Kneipe ohne Namen, wo ich vor einer Woche den Hund zu dressieren half. Aber man hatte mein Gesicht dort glücklicherweise vergessen, so wie Michel Foucault das einst in seiner Strandfantasie vorhergesagt hatte.

Und es wird dort nicht nur geduldet, es wird gerne gesehen, wenn ich mir Notizen mache. Schließlich sind das alles hier ehemalige Schriftsetzer, die heute allesamt arbeitslos sind. Die Jungs hier, die könnten, wenn sie wollten und vor allem dürften, sogar in Fraktur morsen. Und wenn jetzt bald wieder Silvester ist, dann würde ich, wenn schon Bleigießen, am liebsten mit ihnen und allen und zusammen.

Einer macht jetzt Kunst mit den Lettern von einst, und an der Wand hängt eines seiner Werke, wahrscheinlich wiegt es ziemlich schwer. Man muss es rückwärts entziffern, wie Arabisch, weil die Letter ja verkehrt herum gegossen sind. Jedenfalls steht dort

LET’S FUCK FOR THE HARD WANKING CLASS

Und das ist, fällt mir auf dem Nachhauseweg ein, exakt meine Lebensphilosophie. Aber dieses Hochgefühl hält sich nicht lange, denn als ich die Wohnungstür aufschließe, merke ich sofort, dass sich etwas verändert hat dort drinnen, im molekularen Gefüge. Und im Badezimmer dann wird es deutlich, denn das Wasser in der Wanne ist ganz trüb. Und einer von beiden, ich kann sie ja leider nicht auseinanderhalten und keiner von beiden hatte sich bis heute geschält, aber einer von beiden, aus diesem Ehepaar zweier Hummer treibt belly up.

28.2.

In der aktuellen Ausgabe des New Yorker paddelt in einem der Cartoons ein Alligator einem Artgenossen entgegen und trägt dabei eine menschliche Leiche zwischen den Kiefern, die wiederum einen Strauß Rosen umklammert hält*. Der andere Alligator daraufhin: »You’re such a romantic!«

(* Wie Freunde der Serie Twin Peaks wissen, und von dorther aus dem Munde des so angenehm unorthodox denkenden wie handelnden Pathologen Albert Rosenfield, ergreift »the rigor mortis the body from head to toe, but it’ll leave the body from toe to head«. Ergo ist diese Leiche entweder schlachtfrisch oder bereits ziemlich gereift, was wiederum die romantische Annahme des beschenkten Alligators schon etwas in Zweifel ziehen kann, aber, na gut: Haben die etwa und überhaupt Geruchssinn, beziehungsweise wo liegen da, unter Alligatoren, die Präferenzen; was empfinden Alligatoren als romantisch, hinsichtlich von animierend wirkenden Gerüchen? Oder wie Geza Schoen es mal total richtig und fachlich kompetent auf jenen Punkt hin formulierte, um den es mir im Folgenden gehen wird: »Aus der Sicht eines Parfümeurs unverständlicherweise sprühen sich Menschen noch immer mit Blumendüften ein, dabei wollen sie ja gar keine Bienen anlocken, sondern andere Menschen.«)

Ist das Liebesgefühl aber erst einmal entstanden, sind ja letztlich sogar wir Menschen bereit, die abstrusesten Dinge nicht nur gut zu finden, gar zu tun oder zu vermissen. Das Vermissen selbst, jener etwas schwer zu definierende (#Bagel-)Zustand, an dem ja schon Gerhard Nebel gescheitert ist, gewinnt dann an Bedeutung. Gerhard Nebel, ein mittlerweile in Vergessenheit geratener Dichter des Pathos, von dem sein Studienkollege Carl Schmitt etwas hämisch behauptete: »Tja, der Herr Nebel, der ruft ja schon Poseidon an, wenn er einen Hering auf seinem Teller vorfindet«. Nun gut, eben dieser, ein Nachbar von und ein ebenfalls begeisterter Spaziergänger wie Ernst Jünger, hat immerhin eine unsterblich gewordene Überschrift formulieren können für einen seiner Aufsätze, sie lautet Schmerz des Vermissens.

Was tun? Im Folgenden werde ich in keiner als nach Wirksamkeit gestaffelt zu verstehenden Reihenfolge eine Liste von Maßnahmen untereinander reihen, die sich zumindest als eine in palliativer Absicht auszuprobierende empfehlen will. Albert Rosenfield selbst hält, übrigens, nur wenige Folgen später einen angesichts der abschreckenden Manieren seiner Figur verblüffend schönen Kurzmonolog, dessen Zitat lautet wie folgt: »While I will admit to a certain cynicism, the fact is that I am a naysayer and hatchet man in the fight against violence. I pride myself in taking a punch and I’ll gladly take another because I choose to live my life in the company of Gandhi and King. My concerns are global. I reject absolutely: revenge, aggression and retaliation. The foundation of such a method… is love.«

Nun aber unverzüglich zur Liste an Maßnahmen, die möglicherweise Abhilfe leisten können, so man denn jemanden schmerzlich, also von Herzen vermisst:

I Wie lange geht das denn schon - mehr als sechs Stunden? Komisch, oder? Den Anruf ihrer Mutter zum Beispiel vermissen Sie dann doch wohl noch nicht. Woran also liegt es? Darüber nachdenken. Und falls es nicht lange genug dauern sollte: noch etwas gründlicher, bitte.

II Anrufen. Falls das nicht möglich sein sollte - weil die von Ihnen schmerzlich vermisste Person wahlweise anderweitig beschäftigt sein sollte, außerhalb der Reichweite sich aufhalten dürfte, Sie vereinbart haben sollten, auf gar keinen Fall zu telefonieren oder aber das Telefon abgeschaltet ist et cetera: dann halt nicht.

III Etwas Schönes backen. Dauert lange, man hat beinahe nie sämtliche Zutaten im sogenannten Haus und selbst wenn, dann fehlt eben die Waage. Und selbst wenn sie eine solche Ihr Eigen nennen dürfen: Nirgendwo sonst geht so viel schief wie beim Backen. Das wird Sie in Atem halten. Und Ablenkungen aller Art sind genau das, wonach es Ihrer dürstenden Seele verlangt.

IV FIFA spielen auf dem iPad. Ich weiß, Fußball ist Dreck. Aber dieses 3D-Spiel ist derart kompliziert, gleichzeitig jubeln alle die ganze Zeit über aus allen vier Lautsprechern. Selbst wer sich wie ein Trottel anstellt, fühlt sich dabei noch wie ein King.

V Aufräumen. Geht immer. Sozusagen ein Klassiker. Aber wenigstens einer, der funktioniert.

VI SMS abschreiben. Durchgelesen haben Sie die ja bereits mehrfach. Jetzt aber handschriftlich auf ein Medium ihrer Wahl übertragen - Notizbuch, Bütten, Papyrusrolle oder eine gekachelte Wand in ihrer Stammkneipe. Ihrem kreativen Furor sind hierbei keine Grenzen gesetzt. #Festhalten.

VII Körperpflege und sich etwas Superschönes anziehen für das Vermissen. Sie dürfen jetzt nicht desillusionieren und annehmen, dass die vermisste Person keinesfalls und wie von Ihnen so innig gewünscht, nämlich blitzartig vor Ihnen auftauchen wird. Von daher: be prepared! Bekanntlich wird schon in der Bibel gefordert, dass die persönliche Traurigkeit eben nicht schlampig oder gar wurschtegal zu Markte getragen werden sollte.

VIII Ein Gedicht verfassen. Das scheint schwer, anfänglich wird das auch so sein. Wer kann schon ausdrücken, was er fühlt. Andernfalls wirkten diese Gefühle doch auch nicht so derart bedrohlich.

IX Gummibären. Zur Not tut es auch Wackelpudding. Und diese Filme. Interessanterweise nutzen die sich ja nie ab.

X Vor die Tür gehen. Beinahe allen anderen geht es noch viel schlechter als Ihnen.

27.2.

Gestern war ein seltsamer Tag. Bald kam es mir so vor, als ob ich mich durch einen Remix bewegte, als fänden da andauernd Begegnungen statt, die sich genau so, bloß halt anders, schon einmal ereignet hatten. Und in einer Restaurantkritik tauchte wie eingeklebt plötzlich ein Wort auf, das eindeutig aus einem Brief von mir an die Muse ausgeschnitten ward.

Abends saß ich dann beim Friseur und dort wurde mein seltsames Lebensgefühl noch verstärkt, denn ich war dort schon seit sieben Monaten nicht mehr gewesen. Aber es ändert sich im Salon von Robert Stranz nie etwas, es sieht immer alles so aus, wie es schon immer ausgesehen hat, und sämtliche Szenen, die sich dort abspielen zwischen Robert Stranz und Steffen Pfeiffer und zwischen Robert Stranz und Steffen Pfeiffer und ihren jeweiligen Kunden, ähneln sich. Sogar die Musik ist seit Jahren dieselbe. Ich habe diese Frage noch nicht gestellt, aber ich vermute, dass dieses ultrakonservative Konzept als eine Art Beruhigungsmittel angeboten wird, denn die Vorstellung, dass Haare wachsen, also immerzu, auch nachts, ist ja im Grunde mindestens so bedrohlich wie der Gedanke an Bakterien.

Steffen Pfeiffer, der einer veritablen Dynastie von Friseuren entstammt, denn schon sein Vater wie auch sein Großvater haben diesen Beruf ausgeübt, ist der erste Friseur, den ich aufgesucht habe, und der mir nicht schon bald auf die Nerven ging.

Neulich bin ich in der Invalidenstraße an einem dieser mittlerweile doch extrem zahlreichen Salons vorbeigekommen, die sich ausschließlich männlicher Kundschaft anbieten und mit rotweißblau-gestreifter Drehstange, Ledersitzen und halt Bartpflegeservice so ein ausgedachtes Williamsburg mimen. Gleich daneben auch immer ein Burgerladen, ist leider so. Also betrat ich den, es war niemand drin, außer dem Bartpfleger selbst und der machte an seinem Telefon herum, also fragte ich ihn, ob er mal kurz den Bart etwas in Form bringen könnte, denn ich hätte in letzter Zeit Angst, meiner langen Haaren wegen einen Isadora Duncan-haften Tod zu sterben, wenn nun doch die Fahrradsaison bald wieder losgehen dürfte - Hashtag Blaues Band.

Er schaute mich an und sagte »Hast du eine Membership bei uns?«

Was ich verneinen musste. Woraufhin er mich bat, in neun Monaten wiederzukommen. Bis dahin hätten sie mit ihren Members zu tun.

Tja, sagte Steffen.

Tja, sagte Robert, so ist das bei denen.

Dem extrem unauffällig gestalteten Schrank entnahm Robert daraufhin einen monströs klobigen, dabei ultrabillig aussehenden Föhn aus silbernem Plastik, an dessen Mündung sich eine Art schwarze Multikaktee befand. Die Kundin, der er sich – dazu muss man wissen: Robert Stranz, ehemaliger Profi-Skater, ist von seinem Wuchs her etwas größer noch als Mathias Döpfner geraten –, also diese Kundin mit den nassen Haaren musste selbst lachen, als Robert Stranz sich mit diesem albernen Gerät von hinten in ihr Spiegelbild herein bewegte. Aber, so Robert Stranz: Es handele sich hierbei um den geräuschärmsten Föhn der Welt.

Und - tatsächlich.

Keiner wollte dieses schöne Geräusch übertönen, also sagten wir alle eine Weile nichts und Steffen machte sogar die Musik aus, während der Föhn so geräuscharm wie noch nie sein trocknendes Werk vollendete.

Danach wurde der Föhn wieder in den Schrank geräumt, wir unterhielten uns knapp über die essentiellen Themen, also Bartpflegeprodukte (ja oder nein, wenn ja, dann welches? David Mallett versus Aesop? Von der Konsistenz her Mallett; unverständlich allerdings die Entscheidung, dass das jetzt auch parfümiert wird, wobei das ein zarter und irgendwie sympathischer Duft ist - trotzdem! Dann: Shampoo? Prinzipiell ja, bloß welches? Imposante Fülle von L’Oréal bleibt von seinem Effekt her nicht zu schlagen, riecht aber derart übel; Anti-Substanzverlust von Syoss, das ich jetzt verwende, geht aber). Da war Steffen auch schon fertig und präsentierte mir im Handspiegel meinen seidig glänzenden Hinterkopf.

Ausgezeichnet, sagte ich.

Ja, sagte Steffen.

Doch, meinte Robert, ein gelungener Gegenentwurf zu Axel Wallrabenstein.

Brauchst ´ne Quittung, fragte Steffen.

Nein danke. Wenn ich erst Friseurbesuche wieder von der Steuer absetzen kann, wie ich in den Neunzigern die Rechnungen von Helmut Lang als Berufskleidung geltend machen durfte, dann gehe ich auch wieder wählen.

26.2.

Nachdem er fünfmal hintereinander die Türklingel der Wohnung betätigt hatte, in der ich inkognito leben wollte, ließ ich den DHL-Boten herein und er sagte »Schauen Sie doch nicht so böse, bitte.«

- Ich schaue nicht böse, ich bin bloß neidisch auf Ihren Bart, weil der noch länger ist als meiner.

Das Paket, das er mir überreicht hatte, war eindeutig nicht für mich bestimmt. Absender war eine Firma in Neunirgendwas Metten (subliminal Kunst bestellt???), aber ich wollte keinen Ärger machen, nahm es also trotzdem sozusagen entgegen wie ein Telefonat, das sich mit unterdrückter Rufnummer ankündigte.

- Ach, das kommt doch von allein, versuchte mich der Bote bezüglich meines Bartneides aufzuheitern. Man braucht eben Geduld. Ihren Namen, bitte?

- Joachim.

- Ja -, und Familienname: Gibt es den auch?

- Das ist mein Familienname. Ich heiße Joachim Joachim. Meine Eltern hatten einen Scheißhumor.

- Okay. Heißen Sie wirklich so? Weil: Hier steht was ganz anderes.

- Jetzt sehe ich es erst: Sie haben da ja sogar noch einen Zopf am Kinn!

- Ja, also zu Hause trage ich ihn offen, aber so bei der Arbeit…

- Versteh ich. Also Tschüß.

- Ja, genau. Bis morgen.

- Wie? Wieso das denn?

- Isso. Muss.

Toll fand ich ja das mit den Styroporflocken. Ich schüttete die auf das Parkett zu den Cornflakes und den Mungbohnen, die sich mittlerweile einen zarten Pelz stehen ließen wie der Kaktus namens Greisenhaupt. Doch es war weder eine Gebrauchsanweisung noch eine Grußkarte in dem Paket enthalten. Die Sendung selbst bestand aus einem Föhn für Prinzessin Lillifee, also sehr viel kleiner als ein solcher für Menschen, dazu ganz in Rosa. Der Anschaltknopf war mit einem Kristall von Swarovski besetzt und als ich ihn betätigte, begann eine ganz aus Silikon bestehende Schnaube an der Mündung des Föns in einem Twitterherz-Farbton zu glimmen. Ich hielt die Spitze meines kleinen Fingers an die zierliche Mündung, worauf sie ins Innere der Schnaube gesaugt wurde und im Inneren des Mikroföhns wurde mit ihr etwas Geräuscharmes gemacht. Aber was? Wozu sollte das gut sein? Ein durch und durch rätselhafter Gegenstand. Ich legte ihn in die Schublade, die ich insgeheim die Geschenkeschublade nannte. Dort sollte er bei den anderen Freebies schlafen, bis ich ihn eines Tages würde reif dafür befinden, ihn einem Geburtstagskind zu überreichen. Vielleicht war es ja ein Fieberthermometer? Aber ich hatte kein Display entdecken können. Vielleicht also ein Gerät, das Fieber erzeugen könnte? Aber wo nur diese, das Fieber vermutlich induzierende Düse ansetzen? Rektal? Oral? Egal?

Dann war es wieder so unglaublich fordernd still. Still vor allem, weil ich mich angesichts dieser saugenden Stille entscheiden sollte, zwischen dem, was ich wollte, und dem, was ich sollte. Und es war ja diese Woche, in der ich bloß müssen sollte. Und nichts wollen dürfte. Dabei kann ich ja nur gut sein, wenn ich nichts müssen muss. Auf dem Tischchen lag das großartige Buch von Melanie Mühl über das Weltwissen der 15-Jährigen, in dem ich den Aufsatz über das Liebesgefühl eines 15-Jährigen nicht nur sehr gern, sondern voller Zuneigung gelesen hatte, weil der da so viele richtige Dinge sagt, sodass ich mich fragte, ob mit mir etwas grundsätzlich nicht stimmt, oder ob ich nicht vielleicht noch immer 15 bin. Wäre ja nicht einmal unvernünftig, wenn das dabei helfen kann, solcherlei Gedanken zu haben: »Darüberhinaus finde ich, dass das Übernachten eine sehr intensive Erfahrung von Liebe und Intimität ist. Für mich gibt es nichts Schöneres, als in den Armen eines Menschen mit dem Gefühl von Sicherheit und vollkommener Verbundenheit einzuschlafen und wieder aufzuwachen. Es vermittelt das Gefühl von Beständigkeit, Zuneigung und Vertrauen. Umso verständlicher ist, dass Eltern das oft verbieten!«

Aber den Rest der Lektüre müsste ich wohl, gerade, weil ich eben nicht mehr 15 bin, auf die Zeit nach dem Sonntag verlegen. Weil ich Miete verdienen muss und Essen und Sundowners in der Bar Italia. Schade, weil ich jetzt alles lieber täte als dies. Vor allem täte ich jetzt sehr gerne dies wundervolle Buch weiterlesen, in dem so viele und auf ewig wahre Sätze stehen, aber es hilft nichts, weil: Isso, muss. Also: Das Müssen muss. Und als es mal anders war, hatte ich das noch nicht einmal ahnen können, dass es sich einst mal so ergeben würde. Davon handelt »15 sein - Was Jugendliche heute wirklich denken«.

25.2.

Müde, traurig und dann auch noch Schnupfen. Drei sind einer zu viel, das stimmt absolut. In dem Fall der Schnupfen, mit den anderen beiden kann ich umgehen. Aber Schnupfen macht mich wütend. Ich finde schon den Namen gemein. Es ist so sinnlos, was soll das denn?

Dazu rieselt bei Dunkelheit und einem Nebel, dessen kalte Feuchtigkeit ich auf der Gesichtshaut spüre, ein farbloses feuchtkaltes Granulat vom Himmel, für das es meines Wissens nach keinen Fachbegriff gibt: Es ist nicht Graupel, aber auch nicht Schneeregen, ich nenne es spontan Scheiße. Es regnet Scheiße vom Himmel. Dann blitzt es, und es gibt eine lang nachhallende Explosion. Ja wirklich, also während ich das hier aufschreibe. Vom Ort her würde ich sagen: auf der Danziger Straße stadteinwärts irgendwo. Ich werde nachher in den Nachrichten lesen, was da passiert ist.

Gestern Abend hat mir Catrin beim Essen von Jim Raketes neuer Muse erzählt, die wohl ansteckend gute Laune verbreiten kann. Ich hatte Pizza mit Brokkoli. Catrin aß gegrillten Oktopus. Ich hatte meine neue Uhr um, endlich, nach acht Monaten wieder eine Uhr am Handgelenk. Sie sieht exakt so aus wie meine alte, die nicht mehr zu reparieren war, beziehungsweise meinte der Uhrmacher, der Herr Engel heißt, per SMS, dass eine Reparatur teurer würde, als eine neue Uhr zu kaufen. Es ist trotzdem nicht dasselbe Gefühl. Vermutlich gewöhne ich mich daran. Beim Bezahlen fragte ich, ob ich meine alte Uhr mitnehmen dürfe oder ob er sie behalten wolle. Er schaute ihr liebevoll ins Gesicht und sagte: »Mal sehen, vielleicht klaue ich mir da noch die Zeiger raus.« Das fand ich dann auf eine Art traurig, aber auch schön.

24.2.

Der Aufbau-Verlag wird immer geiler. Wenn das so weitergeht, kann nicht einmal mehr ich selbst mir vorstellen, wo das noch hinführen wird. Nachdem sich Silke Ohlenforst wochenlang schlicht weigerte, mir die sogenannten Fahnen des Buchs von Ronja von Rönne zu überlassen, konnte ich sie gestern dann endlich erfolgreich beknien. »Schicken Sie mir den Text doch über Snapchat«, war mein letztes Angebot gewesen, woraufhin sie einfach bloß schallend lachte und mittendrin auflegte. Das PDF sandte sie mir dann im Anschluss per Mail.

Ich fing, noch während sich der Drucker die Seiten aus seinen klotzigen Eingeweiden schälte, mit dem Lesen an. Wir kommen wird dieses Buch sein, vor dem ich seine Leser schon immer gewarnt habe. Ein Text, der so ist wie mein iPad Pro: also ein Panzer aus purem Gold und oben saphirverglast, aber ohne Touch-Option. Von seinen Dimensionen her so breit wie die Champs Elysees. Dabei selbst vollkommen still, wobei diese von ihm ausgehende Stille an sich schon wieder ein Geräusch produziert, nämlich die Abwesenheit jeglichen Geräusches, die dann für sich genommen irre laut zu werden droht, wie Masturbation unter Wasser - was ja auch nicht alle mögen, weil das muss man mögen können -, sodass man es manchmal kaum aus- und sich während des Lesens verrückterweise die Ohren zuhält. Das hat übrigens Ernest Hemingway auch mal über einen seiner Romane gesagt. Hemingway mag ich nicht, den Fänger im Roggen habe ich auch nicht gelesen, aber wenn ich von einem Buch reden will, das unter Gleichaltrigen von Furor bis Stupor so ziemlich alles auslösen können wird, was so geht bei den Vorgängen von Gehirn zu Gehirn, und das allein schlicht aufgrund seiner Power, dann geht es unter Ultrawertkonservativen halt immer auch um diese zwei household names.

Nun also Ronja von Rönne. Der goldene Panzer macht von sich aus übrigens gar nichts, er bleibt einfach nur in einer scheinbar ungefährlichen Entfernung vor einem stehen und löst dadurch ein subkutanes Blinken aus. Ich schaute nach ein paar Seiten bereits an meinem Körper herauf und herunter und alles wummerte in einem dumpfen, durch die Schichten von Haut und Gewebe gedämpften Licht.

Was sagte E.T.?

E.T. wollte nach Hause.

Mittendrin werden Telefone zerstört und Computer. Man muss gar nicht Ton Steine Scherben gehört haben, um diese Szene einfach nur abartig geil zu finden, insbesondere, weil gleich darauf etwas passiert, was seit einigen Monaten eine meiner Megaängste beschreibt, aber ich darf es nicht zitieren, das habe ich Frau Ohlenforst versprochen und ich pflege meine Versprechen allesamt einzuhalten. Im Zweifelsfall gebe ich sie nämlich gar nicht erst ab.

So also zur Sprache und zum Stil dieses Buches, ich schreibe in voller Absicht nicht: Ronja von Rönnes, denn diese Schriftstellerin wird noch andere Bücher in ganz anderen Stilen und Sprachen abliefern, dafür stehe ich mit meinem guten Namen sehr gerne ein. In Wir kommen aber ist es so, dass ich mich direkt angeschlossen fühle an den Prozess des Schreibens selbst, der ja, wenn es gut werden soll, ein ultramegagigaschmerzhafter ist. Es ist eindeutig kein Text, dem eine Ruhepause des sogenannten Liegenlassens gegönnt wurde und genau das, also das Unorthodoxe, macht ihn so geil. Klar wäre Ronja von Rönne sowohl in Leipzig als auch in Hildesheim mit Karacho durch sämtliche Prüfungen zur staatlich geprüften Diplomschriftstellerin gerasselt, aber würde ich mich mit Schreibvermittlung beschäftigen wollen, von mir bekäme sie eine 1+ mit drei Pumuckl-Stempeln. Das wird wichtig gewesen sein, weshalb sich dieser Roman – und es ist endlich mal wieder einer! –, verkaufen wird wie belgische Fritten.

Romane, ganz einfach die Formel, erkennt man daran, dass die darin innerlich verbrachte Zeit ganz anders zu vergehen scheint. Und dass bei der Lektüre Tränen fließen. Handlung interessiert mich nicht, ja es ist so, dass mir Bücher mit Handlung suspekt erscheinen und ich habe dann als Protestant auch immer das Gefühl, man verschwendet meine Zeit. Denn mir ist ja nicht langweilig. Ich will etwas lernen. Je weniger Handlung also, die mich von den Gedanken des Schreibenden abhalten könnte, umso besser fühle ich mich erkannt. In diesem Buch wurde ich angeschlossen an mein persönliches Drama wie bei Zwangsernährung; wer auch immer von einem süßen Vogel gesprochen haben mag, den die sogenannte Jugend bedeutet, der konnte niemand anders gewesen sein als mein heimlicher Feind. Wie schlimm das ist, wenn man nicht weiß, wo oben und wo unten ist, wenn es – vor allem unabsehbar – weit rauf geht und genauso tief runter: Dieses endlos scheußliche Gefühl kommt direkt zurück in den Zeilen, die wie die Pfeile sind, derentwegen der Heilige Sebastian so verzückt aus seiner nicht vorhandenen Wäsche schaut. Alles wird ausprobiert, nichts davon macht glücklich und wenn Sylvia Plath nicht schon tot wäre, dann hätte sie auf der Rückseite einer Seite aus dem Lexikon über Hummeln einen Brief an Ronja von Rönne geschrieben und darin stünde: »Bravo, gut gemacht.«

Die meisten aktuell publizierten Frauenfiguren haben ja leider so etwas leicht Brötchenhaftes. Ronja von Rönne schreibt über eine Frau, die ist wie ein Bagel. Zum Bagel gehört das Loch in der Mitte, es ist sozusagen Teil seiner Natur. Der Käufer des Bagels liebt dieses Loch, obwohl es ihm nichts bringt, dem Bagel aber auch nicht. Der Bagel, wenn er sich das hätte wünschen können, wäre s o gerne ohne dies Loch aus dem Ofen gekommen. Wer kann schon damit leben und dabei noch glücklich werden mit dieser Wunde, mit diesem Loch, mit diesem Symbol des Unstillbaren und des nicht wieder gut zu machenden Mangels mitten in sich drin?
Symbolisch wäre ein Bagel sehr schön, dessen Loch nicht rund, sondern herzförmig sein dürfte. Weil Liebe füllt diesen Mangel halt aus. Ist aber schwierig zu finden.

Darum allein geht es in Wir kommen.

23.2.

Ein Jahr war schnell vorbei. Da traf ich die Muse vor der Bücherei und sie sagte, sie würde jetzt noch einmal von vorne zu studieren beginnen und das on top auch noch grundsätzlich. Abends bin ich zu ihr gekommen (sie hatte extra ein Bad genommen, um mir, wie man mir per Gruppen-Chat angekündigt hatte, mit ihrem Wohlgeruch zu imponieren), aber das änderte nichts; jedenfalls nicht allzu viel, denn als wir dann schließlich, aber nicht endlich, dazu aber abends, mit unserer platonischen Diskussion anfingen - es ging nicht um Sex, dafür um Sachsen -, entdeckte ich, dass sie mich eigentlich bloß küssen wollte; und das auch noch mitten ins Gesicht! Das fand ich sexistisch. Also: Ich empfand das so, in dem Moment, deswegen fragte ich: »Kannst du mich denn eigentlich und überhaupt noch als ein Individuum erkennen; nimmst Du mich dergestalt wahr, oder hast du mich im Vorwege bereits und damit wohl wissentlich auf ein Objekt reduziert?«

- Hm, machte die Muse, legte das Schachbrett beiseite und fing in diesem Moment sogar von sich aus zu gähnen an: »Das weiß ich jetzt nicht.«

- Weißt Du noch: Alabamahalle, 1987?

- Nö, keinen Schimmer, da war ich drei. Maximal vier.

- Ah ja. Gut, aber das war für mich halt entscheidend, dass es da noch einen Staat gab, dessen Entscheidungen bzw. Urteile respektiert wurden. Das ganze und gesamte Stück wurde in seiner Gänze damals instrumental vorgetragen und das Publikum lieferte den inkriminierten Text.

- Ich mag ja: Fieber messen.

- Ich erst - vor allem bei dir. Aber nicht nur! Es haben sich ja auch vor deiner Geburt sozusagen wesentliche Ereignisse zugetragen in der deutschen Musikgeschichte. Beispielsweise: Carbonara. Oder, weit weniger gut mitsingbar, das Lied für die Sachsen namens Jerusalem.

- Generell ergibt sich auf meiner Seite der Eindruck, dass es zu deiner Zeit bessere Musik gab. Ich besitze eine Tüte, darin sind Kassetten mit Musik aus den achtziger Jahren. Bis auf Weiteres lebe ich musikalisch gesehen in den achtziger Jahren.

- Das ahne ich, deswegen liebe ich dich auch. Weißt du noch, als ich aus dem Spätkauf kam und dir erzählte, dass dort I’m so excited lief?

- Klar weiß ich das noch. Und ich weiß auch noch genau, was du mir damit sagen wolltest.

- Ja. Denn das wollte ich wirklich. Obwohl mir das damals noch gar nicht so klar war.

- Aber mir.

- Ja. Dir schon.

Sommer, Palmen, Sonnenschein: Was kann denn eigentlich überhaupt noch schöner sein?

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