»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

25.5.

Als eine meine Abiturprüfung vorbereitende Maßnahme sollte ich in den späten achtziger Jahren einen Erörterungsaufsatz schreiben hinsichtlich einer dabei vorgegebenen These »Wer die Sprache beherrscht, beherrscht seine Mitmenschen«. Ich verstand die Frage nicht, arbeitete mich anhand der beigebrachten Werkzeuge von Pro und Contra zu einer Conclusio durch, deren Inhalt mir höchstwahrscheinlich zu Recht nicht in Erinnerung geblieben ist.

1993 wurde im Spiegel der legendäre »Anschwellende Bocksgesang« von Botho Strauß veröffentlicht. Ich nahm die Reaktionen darauf so wahr, dass es sich bei diesem Autor, den ich bis dato nicht kannte, um einen Punk handeln musste; las infolgedessen alles, was er je geschrieben hatte und fortan noch schrieb, und fand seine Sprache zwar nicht beherrschend, aber in höchstem Maße alkoholisch. Apropos Tyrannenmord:

»Das jetzt vernehmbare Rumoren, die negative Sensibilität der feindlichen Reaktionen, die sofort Tollheiten des Hasses werden, sind seismische Vorzeichen, Antizipationen einer größeren Bedrängnis, die sich durch jene ankündigt, die sie am ärgsten spüren werden. Das ›Deutsche‹, das sie meinen, ist nur ein Codewort, darin verschlüsselt: die weltgeschichtliche Turbulenz, der sphärische Druck von Machtlosigkeit, die parricide, die anti-parricide* Aufwallung in der zweiten Generation, Tabuverletzung und Emanzipation in später Abfolge und unter umgekehrtem Vorzeichen, die Verunsicherung und Verschlechterung der näheren Lebensumstände, die Heraufkunft der ›teuren Zeit‹ im Sinne des Bibelworts**; es ist der Terror des Vorgefühls.«

* Vatermörder, beziehungsweise dessen Gegenteil (?) (Anm. JB)
** 1. Buch Mose 41, 27 (Anm. JB)

Smoke and Mirrors

Von daher: 14 Uhr 30 Ankunft in Jena von Berlin Hbf. Erik wird mich abholen. Von Erfurt aus sind es noch eineinhalb Stunden über Land bis Steigra in Sachsen, wo im Ortsteil Albersroda das Rittergut Schnellroda zu finden sein soll. Leider, leider hat Erik seinen Defender verkauft und wir werden in seinem modernistischen Shopper dorthin fahren. Der Kleinwagen hängt hinten tief runter, denn im Kofferraum befinden sich die Waffen des Lichts.

24.5.

Mein Bruder war bis ins Erwachsenenalter hinein mit Legasthenie geschlagen. Deshalb sollte ich ihm, da war er so sechs oder acht Jahre alt, helfen, die Poesiealben auszufüllen. Denn trotz seiner Rechtschreibschwäche war er bei seinen Klassenkameradinnen sehr beliebt und brachte in dieser Zeit mehrmals im Monat einen kleinen Stapel dieser mit Liebe gefüllten Büchlein nach Hause (wofür ich ihn extrem beneidete).

Um die Einträge in seinem Sinne verfassen zu können, machte ich mit ihm kleine Interviews, während er, der Grundschüler dabei oft noch heimlich mit Legosteinen an seinen unzerstörbaren Fahrzeugen feilte, denn wir hatten da so ein Spiel seit Jahren, bei dem man möglichst blockhafte Vehikel aus bombenfest ineinander gefügten Legomauern mit Rädern unten dran ineinanderknallen ließ, und wer die wenigsten abgefallenen Steine zu beklagen hatte, wurde zum Gewinner bestimmt.

»Was ist dein Berufswunsch«, fragte ich bei einer solchen Gelegenheit, denn es hatten sich in der Poesiealbenszene mittlerweile die standardisierten Fragebogenseiten etabliert.

Und er, gerade dabei eine vorschnell montierte Parabolschale mit aufgesetzter Laserlafette mithilfe seiner Vorderzähne vom Dach seines rasenden Quaders abzwickend: »Rentner.«

Lieblingsessen: »Schnitzel mit P. frites«.

23.5.

Menschen am Sonntag (Ein Film ohne Schauspieler), gedreht im Sommer 1929 am Wannsee und um den Bahnhof Zoo herum. Im Original aus 2014 Metern bestehend, sind nach dem zweiten Weltkrieg noch 1615 Meter erhalten. Mithilfe von Kopien aus belgischen und holländischen Beständen wird eine restaurierte Fassung hergestellt, die 1839 Meter lang ist — meldet der Vorspann auf Youtube. Ich finde es kurios, dass es in der Filmwissenschaft anscheinend stark auch um die physische Länge eines Filmes geht. Zeitliche Länge, gefühlte von mir aus auch, das könnte ich eher als filmrelevantes Kriterium nachvollziehen.

Die dunkelhaarige Frau, um die es geht, ist vermutlich bereits tot. Jedenfalls sah sie 1929 moderner aus als die meisten Frauen heute. Nicht nur von ihrer schönen Frisur her, auch von ihrem Gesichtsausdruck, von ihrer Mimik her extrem cool. Die Frisuren der mitspielenden Männer hingegen harren noch ihres Revivals. Die Männerfrisurenmode pausiert ja derzeit in den vierziger Jahren, bewegt sich wahrscheinlich weiterhin beständig auf den Ursprung des zwanzigsten Jahrhunderts zu. Next stop werden also diese niedlichen Glanzköpfe sein. Gestern, während ich den Film auf einem Schattenplatz vor dem Café hier schaute, betrat dort ein Paar in neuesten Motorradanzügen und Stiefeln die Szene: ganz in Schwarz, mit asymetrischen Verschlussführungen, roten Kevlarpads im Nackenbereich, Helme von HR Giger. Dann kamen australische Radelfreaks in diesen Hotpants aus schwarzem Spandex und diesen pumpsartigen Schuhen, in denen man kaum gehen, nur so transenhaft stakseln kann, weil die an der Spitze so einen Verschluss anmontiert haben, mit dem man sich in die Pedale des Fahrrades einklinkt. Ich drückte kurz Pause und fragte einen der Herumstaksenden: »Sorry, but what happens in the unlikely event of an accident and you’d fall off your bike

»You don’t fall off your bike anymore«, sagte er. Er war in etwa siebzig Jahre alt. »You’ll just hurt yourself really bad

In Menschen am Sonntag (Ein Film ohne Schauspieler) sind leider kaum Geräte zu sehen (wahrscheinlich gab’s damals einfach noch kaum welche. In der Gartenlaube sind ja damals hauptsächlich Annoncen für Radfahrerpistolen und für diese Regale zu sehen, auf denen man seinen kleinen Brockhaus oder Meyers präsentieren konnte), dafür aber eine Art Wasserdraisine, auf dem die beiden Paare einen Ausflug über den Wannsee machen. Man sieht hier und da ein Haus und sogar das Strandbad in einer früheren Form, alles gibt es immer noch und es sieht auch noch immer so ähnlich aus (sogar das Gebüsch und der Sand), aber die Gegend um den Bahnhof Zoologischer Garten herum hat sich doch stark verändert. Die Ansagestimme in der S-Bahn klingt dann immer besonders stark verschnupft und ich höre jedesmal »Urologischer Garten« (und finde es auch jedes Mal wieder lustig; seit schon sehr vielen Jahren, es nützt sich nicht ab).

Menschen am Sonntag ist ja glücklicherweise ein Stummfilm, denn insbesondere diesen mitspielenden Menschen mit der Glanzkopffrisur und dem Genießergesicht möchte ich auf gar keinen Fall etwas sagen hören müssen. Handlung ist auch eher undurchschaubar. Es geht um eine Landpartie und die Fahrt mit der Wasserdraisine und dann treibt die blonde Frau, vielleicht ist aber auch die andere schuld, ein Spiel um die Gunst der Männer. Trotzdem ein schöner Film. Gerade wenn man den Ton, die Bilder sind mit 3,1 Megabyte Musik unterlegt, ganz ausstellt.

Dazu passt Vaporwave.

22.5.

Mit »My tongue will tell the anger of my heart, or else my heart, concealing it, will break«  zitierte Arca gestern nachmittag William Shakespeare auf Twitter, genau um 14 Uhr 07 (7 Retweets, 28 Likes). Leider war ich wie blind für die seltsame Symmetrie dieser Zahlen, für deren Schönheit; selbst die Anmut des Tweets, einer Kombination aus 86 Zeichen und einer Abbildung kam nur halb und wie verwaschen zu mir durch. Wut macht blind, mich zumindest, und um 14 Uhr 07 war ich extrem wütend, extrem blind, im Ergebnis stumm, dabei war da schon alles seit einer Stunde vorbei. Angeblich. Und trotzdem.

Beim Nachhausekommen hatte ich im Briefkasten einen eigenartigen Umschlag der DHL gefunden. Darin eine Benachrichtigungskarte: Angeblich hatte man mir vor zwei Tagen schon versucht, ein Paket zuzustellen – warum erhielt ich diese Benachrichtigung denn erst jetzt? Ich musste auf dem Fahrrad hin, denn am Samstag würde diese Filiale bereits um 13 Uhr schließen. Ich fuhr ziemlich schnell.

Als ich um zehn vor eins die Filiale betrat, verdrehte der Schalterbeamte, den ich besonders verabscheue, seine Augen und beschwerte sich für seine wartenden Kunden deutlich hörbar, dass »kurz vor Schluss« noch solch ein Stress entstünde. Im Anschluss daran verabschiedete er sich, noch etwas vernehmlicher: »aufs Klo«. Er ist ein armes Würstchen, bei anderer Gelegenheit hatte er mir ein, zwei Male schon beinahe Leid getan, weil er durch seine ständiges Besoffensein auch tatsächlich Mühe hat, zum Beispiel Briefmarken zu verkaufen. Einmal hatte er mir den hinter seinem Tresen aufbewahrten Tesafilm verwehrt, mit der Begründung, er sei nicht verpflichtet, den Kunden mit Klebestreifen auszuhelfen. Daraufhin kaufte ich ihm eine Rolle Klebeband zu einem überzogenen Preis ab, woraufhin er mich beim Kassieren derart listig anschaute, dass er schielte. Generell meide ich den Besuch in meiner Postfiliale, wo es nur geht und fahre zum Einliefern meiner Sendungen nach Schöneberg, weil auf dem Postamt dort ein paar umgängliche Schalterbeamte arbeiten. Nun aber ging es nicht anders, denn angeblich lagerte ja meine Sendung dort.

»Oh je«, rief die Kollegin des Toilettengängers, als ich den eigenartigen Umschlag aus meiner Tasche zog: »Da können sie gleich wieder nach Hause, denn von diesem Tag haben wir keine einzige Sendung hier.«

»Warum?«

»Tja, woher soll ich das wissen«, sagte die Postangestellte. »Uns sagt man ja nichts«. Und dann fing dieser traurige Monolog an von denen da oben und ihnen da unten, ich will so etwas nicht hören, dafür gibt’s in Konzernen einen Betriebsrat. Sie lachte künstlich: »Betriebsrat, wenn ich das schon höre –«

»Okay, wo ist mein Paket.«

Der Kollege noch immer Backstage, sie schaute auf die Uhr und schob mir einen Vordruck der Beschwerdeabteilung in Bonn über den Tresen. Ich erklärte ihr freundlich, dass ich dort auf gar keinen Fall anrufen würde, ich kenne die Warteschleife, und fragte sie stattdessen noch einmal eindringlich, was mit meiner Sendung passiert sein könnte. Sie gab zwar zu, dass sämtliche Sendungen an diesem Tag verschwunden seien, andererseits dürfte sie mir aber nicht verraten, warum oder wohin.

Ich würde mich als geduldigen, manchmal vielleicht sogar zu geduldigen Menschen bezeichnen. Aber ich habe daraufhin total und absichtlich die Kontrolle verloren. Die Beamtin schlug beschwichtigend vor, dass man den Zusteller aufhängen sollte. Als ich eventuell auch etwas zu laut betonte, dass ich dieses Paket extrem dringend haben wollte, sagte sie: »Wenn es etwas so wichtiges war, warum schicken sie es sich dann nicht per Mail?«

That kind of did it for me. Man drohte mir damit, die Polizei zu holen. Ich bat förmlich darum und sagte: »Sehr gern«. Der Kollege vom Klo bedrängte mich mit der Jalousienkurbel und schubste mich damit bis vor die Glastür. Dann schloss er sich mit den noch im Postamt verbliebenen Kunden ein.

Ich zitterte von dem vielen Adrenalin und wählte die Nummer der Beschwerdestelle. Man wusste aber auch dort, in Bonn nicht, was los war. Ich hätte mit der eigentlich freundlichen Frauenstimme gerne über diese Szene in der Baz-Luhrmann-Verfilmung gesprochen, in der der Fedex-Bote zur falschen Zeit nach Mantua kommt, und der Kleber an Romeos Wohnmobiltüre fällt ab und verschwindet im Staub, woraufhin ja bekanntlich Punktpunktpunkt. Und ich hätte dann, wenn es gut gelaufen wäre, unser Beschwerdegespräch, auch noch weiter aus Katherines Monolog vorgetragen: »Your betters have endured me, say my mind and if you cannot best you stop your ears«. Aber sie verhielt sich wie ein Automat, diese Person am anderen Ende der sogenannten Leitung. Wann immer ich etwas nicht Datenhaftes hineinsprach, blieb sie einfach still. Sie versprach mir wohl, eine E-Mail zu schicken (die freilich nie eingetroffen ist). Zu meiner Wut sagte sie nichts. Als ich ihr zu erklären versuchte, dass es sich bei dieser Sendung um etwas von ausgesprochener Wichtigkeit handelte, sagte sie noch nicht einmal: »Tut uns leid«. Zu den von mir beschriebenen Zuständen in der Filiale kam kein Kommentar.

Scheiß Apfelbäumchen.

21.5.

Gestern Abend: Sommerfest auf der Terrassse des Schinkel Pavillons, gleichzeitig zehnjähriges Jubiläum seiner Wiederentdeckung und -eröffnung als Ausstellungsräumlichkeit. Vor zehn Jahren schaute man von der Terrasse aus in den nächtlichen Garten hinter dem Kronprinzenpalais, rechts hinter der Statue kam in der Dunkelheit lange nichts, dann erst der Fernsehturm; auf der Rückseite kam auch lange nichts, später dann stand da das Außenministerium in seiner Kastigkeit.

Gestern, das fiel mir sogar im Dunkeln auf, stand man auf dieser Terrasse da, wie bald schon eingemauert. Hinten ein Spanplatteninferno aus billigsten Eigentumswohnungen, die schöne Ziegelkirche war nicht mehr zu sehen, das Außenministerium: ebenso weg. Vor dem Fernsehturm erst das Stadtschloss, davor aber auch noch irgendein Schwimmbad plus Wohnungen, auf der anderen Seite, da hatte es immer etwas belanglos Historisches neben der Oper gegeben, ist ein Containerdorf aufgestellt, vielleicht bleibt das auch so. Der einzige Freiraum für die Augen, der noch übrig geblieben ist, besteht in dem Garten des Kronprinzenpalais. In New York gibt es doch irgendwo diese Kirche, und um die herum stehen lauter Hochhäuser. Das fand man immer kurios, wenn es auf Postkarten gedruckt zu sehen war. Kurios fand ich auch, dass der DJ einmal den Bolero von Maurice Ravel auflegte, um darüber »Schinkel, Schinkel« ins Mikrofon zu rufen. Immer wieder »Schinkel, Schinkel«. Aus den Gebüschen des Kronprinzenpalaisgartens kam rosa Scheinwerferlicht.

Vor allem aber, das hatte ich ganz vergessen, gibt es im Pavillon noch immer nur eine einzige Toilettenkabine für alle. Da es bald an die fünfhundert Menschen waren – na ja: auf jeden Fall betätigte so ziemlich jeder aus der Warteschlange irgendwann diese Türklinke, die neben der ständig blockierten lockte. Hinter dieser Tür aber gab es einen Staubsauger zu sehen, ein paar Kabel, Glühbirnen, Schwämme und solches Zeug. »Toilette für Roboter«, versuchte ich einem enttäuschten Warteschlangengast zu erklären. Als Aufmunterung gedacht. »Wenn es nach mir ginge«, sagte Oliver, »aber es geht ja nicht um mich.«

Ansonsten: allen geht es gut. Jeder macht bald etwas Tolles. Insgesamt also viele Gründe, sich füreinander zu freuen.

20.5.

Im heftigen Wellengang der vergangenen Tage ist das Nest der Blässhühner zerstoben. Gestern waren beide Tiere bereits mit dem Wiederaufbau beschäftigt. Das Fundament bildet diesmal eine transparente rote Plastiktüte, die eine Luftblase eingeschlossen hält. Um die herum wurden bereits einige Zweige und abgezwickte Stengel von Seerosen angeschoben. Zur Materialbeschaffung müssen die Blässhühner auch den geschütztem Bereich unter dem Steg verlassen, umherschweifen, um an weiter entfernt gelegenen Abschnitten des Ufers nach Zweigen und ähnlichem zu suchen. Von daher kommt es nun mehrmals täglich zu heftigen Streitereien mit einem anderen Paar, das ein paar Meter weiter vor einem dort vertäuten Motorboot sein Revier begründet hat. Die Blässhühner sind ja an sich zierlich, allerdings haben sie diese grotesk riesigen Füße. Die Füße der Blässhühner sind etwa doppelt so groß wie deren Kopf und Hals zusammengenommen. Diese Proportion sähe, auf Menschen übertragen, ziemlich schlimm aus. Bei den Blässhühnern geht es aber noch. Ihrer großen Füße wegen kommen die Blässhühner bei Bedarf verblüffend schnell vorwärts, sie legen sich dann tief ins Wasser, weshalb sie auch Duckenten genannt werden, und hinten arbeiten die Riesenfüße mit enormer Antriebskraft. Auch während der Kampfhandlungen zwischen rivalisierenden Duckenten leisten die Riesenfüße, die überdies weiß sind, der Rest des Vogels ist ja bis auf seinen Tipp-Ex-Strich über Schabel und Stirn schwarz, gute Dienste: Während die Tiere einander bedrohlich hupend umkreisen, packen sie sich unter dem Wasserspiegel an den Füßen und versuchen sich, dabei auch noch aufeinander einpickend, gegenseitig unter Wasser zu ziehen. Diese Kämpfe dauern aber immer nur wenige Sekunden, fast wirkt es so, als befolgten sie dabei ein Regelwerk wie beim Ringen oder Boxen, wo sich die Kontrahenten zu einem Schlagabtausch verbinden, um dann in ihren Ecken Kräfte zu sammeln, bis erneut ein Gong ertönt.

Beim Nestbau hingegen wird allein mithilfe des Schnabels gearbeitet. Das ist eine erstaunliche Leistung, wie allein durch schieben, ziehen und drücken und dagegenpicken ein Flechtwerk entsteht, das bald auch mittlerem Seegang standhalten kann. Nur einem mehrtägigen Unwetter eben leider nicht. Noch meisterlicher geht ja angeblich der vor zwei Jahren entdeckte, weiß gefleckte Kugelfisch Torquigener albomaculosus vor. Ich habe es selbst noch nicht gesehen, aber es gibt einen Film im Internet. Der Fisch ist in unaufgeblasenem Zustand gerade so groß wie meine Hand und das Männchen baut zum Zwecke der Paarung einen Sandtempel von drei Metern Durchmesser. Und zwar in makelloser Kreisform mit konzentrischer Ornamentik. Das ganze reliefartig, es sieht aus wie ein Mandala aus dem Erwachsenenmalbuch – wenn man es sich von weit oben her anschaut; was das Kugelfischmännchen freilich nicht kann, denn es baut dieses Sandrelief bevorzugt im Strömungsbereich einer Insel vor der Küste Japans, das bedeutet, es baut sieben Tage lang Tag und Nacht durch, damit die von der Strömung verursachten Schäden sozusagen rollierend ausgebessert werden können. So als ob das noch nicht beeindruckend genug wäre, betört das Kugelfischmännchen sein Weibchen auch noch damit, dass es diese Riesenunterwasserskulptur einzig mithilfe seiner Schwanzflosse errichtet hat. Wedelnderweise. Da das Männchen an sich wie gesagt nicht eben groß ist, kann die Schwanzflosse nicht viel größer sein als mein Daumennagel – und damit 22 Quadratmeter Sand unter Wasser zu einem Mandala formen? Ein Unterwasserlaubenvogel. Wer hätte das gedacht.

In Cusco, auf halbem Weg in die Anden von Peru, gibt es eine Kieselsteinwüste, in deren Mitte steht ein Turm. Wer da hinaufsteigt, kann aus vier, fünf Meter Höhe ein seltsames Muster erkennen, das dann aus den verschiedenfarbenen Kieselsteinen dieser Wüste entsteht. Man erkennt langestreckte Figuren, Tiere mit Masken, aber auch so etwas wie Richtungspfeile und Verkehrsschilder entlang zweier Linien, die kilometerlang durch diese Steinwüste führen wie die Randstreifen einer Autobahn. Angeblich ist dieses aus Steinen gelegte Bild ja bereits mehrere tausend Jahre alt. Sie nennen es »Runway of the Gods«.

Für Friederike

19.5.

Auf einem nachmittäglichen Waldspaziergang sammelte ich die jungen Blätter von Buchen, Himbeeren, Brombeeren und ähnlich rundblättrigen Gewächsen. Die Blätter müssen noch transparent sein und so klein wie ein Daumennagel ungefähr. Das hatte ich in einem Fernsehbericht über die älteste Künstlerkolonie Deutschlands gesehen, einem Fachwerkdorf in Hessen. Die töpferten dort ganz hübsche Teller und Tassen. Namensschilder auch. Vor allem aber drehte sich der Beitrag um deren traditionelle Küche, und das interessiert mich ja, so etwas sehe ich mir sehr gerne an. Jedes Gericht enthielt ein Pfund fetten Speck, ein Pfund Zwiebeln, ein Pfund Schmand. Die Erzählerstimme immer ganz beschwichtigend zu den Bildern hackender, rührender, Schmand verstreichender Hände: »Die Bewohner dieser Region haben immer schwer gearbeitet, da war abends kräftige Kost gefragt«. Dann wurde ein grüner Salat angekündigt (ein Pfund Schmand mit gehackten Zwiebeln, Essig, Öl, Zucker und Salz vermischen, emulgieren. Zwei, drei Kopfsalatherzen in Stücke brechen und unter die Salatsauce heben). »In der Schwalm ist natürlich selbst der Salat kein Schlankmacher«, während die Kamera längst bei der Großmutter war, die mit geübten Stößen sechs Laibe Brot in den Keramikofen einschoss (weil der wohl heißer bäckt und die Brote somit extraknusprig).

Ich schaute das und stellte dabei fest, dass in mir bereits der Wunsch entstanden war, diese Ortschaft zu besuchen, mich dort im windschiefen Malerhäuschen einzumieten und den ganzen Tag mit diesen Keramikkünstlern unter den Aprikosenbäumen zu essen. Kann gut sein, dass ich das mit einer anderen Folge verwechsle, in der es zu den Aprikosenbauern Österreichs geht, wo dem Aprikosenbauern seine Frau gerade erst frisch gestorben ist bei einem Verkehrsunfall und er dann abends auf dem Ansitz über das Leben nachdenkt, bevor er das Wildschwein, das in den Aprikosenplantagen dieser Region zu jener Zeit des Nachts so schlimm wütet, nicht erschießt. Hat mir auch gut gefallen. Oder die Folge im Norden Albaniens The Accursed Mountains, wo sie schon vor Sonnenaufgang morgens den Schafen die Milch abnehmen, um dann mit einem Extrakt aus dem Mageninhalt junger Lämmer und der Milch ihrer Mütter einen Käse zu pressen, der – und dabei weist die Kamera aus dem unverglasten Fenster hinaus auf eine herrlich bunt bestandene Wiese »Der Blutracheturm wurde gerade erst renoviert«.

Muss man aufpassen, bei Reisen nach Albanien. Obwohl die Szene mit den Forellen dann eine klare, eine ganz andere Sprache bemüht. Mir ging aber trotz aller Appetitlichkeit dabei die Story mit Enver Hoxha und dem Augenkorb nicht aus dem Hinterkopf. Albanien also lieber noch nicht, aber diesen Sommer zumindest einmal in die herrliche Schwalm. Zum Hoffest kommen angeblich mehr als zweitausend Menschen pro Tag, um vom selbstgebackenen Brot zu kosten, Keramiktiere zu bemalen (Yes!!!), auch Hasen darunter, sowie Ausritte zu unternehmen – Landschaft wirklich sagenhaft geil, soweit ich es erkennen konnte am Bildschirm, vermutlich also noch besser live, denn es war ja auf Arte. Ach ja, und der Kniff bei der Salatsauce ging so, dass in einer separaten Pfanne (beschichtet) sogenanntes Duckefett hergestellt wurde aus einem Pfund fetten Speck in Würfeln, einem Pfund Zwiebeln dito, Kümmel, Pfeffer, etwas Butter, sowie reichlich Schmand. Darin würden Pellkartoffeln einge»duckt«, also gedippt, von daher der Name der Tunke, die noch warm serviert werden sollte. Dies aber nicht, ohne zuvor einige Kellen voll auf den zubereiteten Kopfsalat verteilt zu haben, »das verleiht dieser Beilage erst ihre typische Würze«.

Jan war neulich völlig genervt vom Überhandnehmen des Hassbegriffs herzhaft. Überall gibt’s Herzhaftes. Mich stört das zwar jetzt nicht so extrem, aber klar. Das dahinter sichtbar werdende Denken, also wenn man das kreidegeschriebene Wort so ein wenig zur Seite zupft: Was dort dann herumliegt ist schon Punktpunktpunkt

Ich nehme halt gern rezent, aber das kann sich nicht jeder erlauben, weil das dann aufgesetzt und gaumig wirkt, wenn alle anderen sich auf herzhaft eingeschwenkt haben. Die jungen Blätter jedenfalls gut waschen (und auch immer erst ab Hüfthöhe gewachsene sammeln, wegen Fuchsbandwurm, da bringt nämlich auch waschen nichts!), dann in der Salatschleuder schleudern, in feine Streifen schneiden. Währenddessen ein dicke Scheibe Brot* von beiden Seiten buttern, in einer Pfanne knusprig braten, währenddessen eine Knoblauchzehen fein hacken, unter die Laubstreifen mischen, kräftig mit Flakes salzen, dann aufs heiße Brot legen. Dazu passt alles. Zum Beispiel kalte Milch.

* Muss kein selbstgebackenes, kann ruhig Supermarkt sein.

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