»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

17.6.

Aufgewacht zum Rauschgeräusch des strömenden Regens und dem des Wegspringens der Tropfen vom Fensterblech. Zwischen den Baumwipfeln vor dem Fenster erscheint der Himmel zartrosa, aber das ist nicht die Farbe des Sonnenaufgangs, die ist längst aufgegangen. Es ist ein Trugbild auf der Retina, das vorübergeht; hervorgerufen durch das umgebende Grün der Laubtöne. Davon werden die roten Stäbchen kurz irritiert oder überfordert – oder sind es die grünen?

Es gibt weder ein Emoji für das Gehirn noch eines für die Seele. Aber jede Menge Herzen für verschiedene Ausdruckswünsche. Dabei könnte man das Seelenzeichen doch ganz kawaii gestalten: ein rosa Gehirn, von mir aus auch mit Augen. Von mir aus auch mit herzförmigen Augen. Von mir aus sogar mit drei herzförmigen Augen, wenn es denn der Aufklärung dient.

Die Vögel klingen aber ganz fröhlich, anscheinend frieren sie nicht. Ich finde, es ist Luxus, es bedeutet Freiheit, heute keinen Schritt vor die Tür machen zu müssen.

16.6.

Der »Fürsprecher« und der »Verfüger«: Den einen habe ich von Gerhard Merz, der andere Begriff stammt von Botho Strauß (aus seinem Partikular), und seitdem war mein Leben und mein Schreiben wie oszillierend zwischen diesen beiden Sehnsuchtsorten gefangen, aber halt nicht aufgehoben. Und dann kamst Du.

Ab irgendwann hatte ich Dich die Muse genannt – das kam einfach so zu mir, war wohl auch einer von Dir induzierten Eingebung zufolge in mir entstanden. Ich musste aber nie darum bangen, nie fürchten, ob oder wann mich die Muse das nächste Mal küssen würde; weil ich es bald wusste, und es ist bis heute so geblieben: Wann immer wir sprechen, was auch immer Du mir sagst, es wirkt so, wie dieser Kuss einer Muse auf mich.

Gestern hast Du gesagt, ich solle doch wieder mehr schreiben, längenmäßig hattest Du das gemeint, und auch mehr über das, weswegen Du mich einst geheiratet hattest. Du sagtest: Schau doch einfach mal eine Woche lang aus dem Fenster. Und schreib mir über das, was Du dort draußen siehst. Über die Vögel, die Bäume, über die Wolken und über das Licht.

Und ich lachte.

Weil es ja das ist, genau das, so fiel es mir in diesem Moment ein, da ich es Deine Stimme aussprechen hörte, was ich am liebsten auch tun würde (All Night Long).

Jemanden zu lieben bedeutet für mich, ihm dabei zu helfen, zu dem zu werden, wozu er aus eigener Kraft nicht imstande ist.

Und dann sagte ich: Ja, aber die anderen.

Und Du sagtest: Wie? Du hattest mir einst gesagt, Du schriebst das nur für mich!

Und das stimmt auch. Natürlich. Und so soll es auch sein und bleiben. Ich pflege meine Versprechen zu halten. Im Zweifel gebe ich sie gar nicht erst ab.

Aber das solltest Du wissen und auf jeden Fall stieß ich dann gestern früh, nachdem wir gesprochen hatten, an der Fußgängerampel auf diese Frau, sie trug eine Regenjacke in acid yellow mit Reflektorstreifen, auf denen stand aufgedruckt »Fahrstreckenpersonal« — ich meine: Hello!, beziehungsweise: Hâllo Vetements!

Unter dieser mein Aufsehen erregenden Jacke hatte sie einen Hoodie an aus malvenfarbenem Fleece, aber was mich ungleich mehr interessierte, das hing an einem Band um ihren Oberkörper: Es war ein Instrument aus Messing mit zahlreichen Ventilen. Wie sie mir zeigte, handelte es sich dabei um eine Tröte, schalmeienhaft, mit drei oder vier Schalltrichtern, die davon entsprossen. Und ich fragte: »Aha, kommt da noch eine Druckluftdose unten dran?«, und sie sagte: »Nein, das bin ich.«

Der Beruf nennt sich Postenwache, sie arbeitet im Dienst der Deutschen Bahn und ihre Aufgabe besteht einzig darin, auf Streckenabschnittsbaustellen ihren Posten zu beziehen, und bei Gefahr, also bei herannahenden Zügen o. ä., in ihre Tröte zu blasen, damit die Arbeiter, die Schwellenleger und Gleisschotterschütter sich rechtzeitig verziehen.

Stehen, wachen, auf dem Posten sein und bei Gefahr tröten: Darin besteht ihr Beruf. Ich dachte an die Blässhühner und an meine Enten und stellte mir vor, dass die Wachfrau, anders als jene, sich aus einer persönlichen Wahl heraus für diesen Beruf entschieden hatte, weil sie gerne an der frischen Luft hatte ihr Leben verbringen wollen. Und dass es, wo ich bereits angefangen hatte, darüber nachzudenken, doch noch einige Berufe gibt, meinem inklusive, die einem Menschen das ermöglichen können. Also draußen zu sein:
Vogelforscherin
Försterin
Gärtnerin
Gerüstbauerin
Archäologin
Matrosin
Heißluftballonfahrerin
Hirtin
Winzerin
Bergführerin
Naturdichterin
Landschaftsmalerin
Hydrographin
Sprengmeisterin
Stadtbilderklärerin
Tierforscherin
Zeugin Jehovas
Graffitisprüherin
Industrieklettererin
Fahrradkurierin
Briefträgerin

Und unsere Wege trennten sich ohne einen Abschiedsgruß. Dann hatte ich in der Stadt zu tun, davon kann ich Dir wenig berichten, aber auf der Rückfahrt, in einer S-Bahn, kam es zu etwas, das ich nicht erwartet hatte, das geschieht selten, aber wenn, dann. Ich hatte einen Stehplatz und schaute von dort aus herunter auf das Buch, das dort aufgeschlagen auf dem Schoß einer Lesenden lag, und schon nach wenigen Augenblicken, während derer ich versucht hatte, zu entziffern, was dort geschrieben stand, wandte die Buchbesitzerin ihr Gesicht in Richtung meines Blickes – woran liegt das, dass wir Menschen spüren können, wenn jemand und so weiter und so fort?

Wunderwerk der Empathie.

Kurz darauf rollte sich ein Mann in den Wagen. Seine Haut war grau und grün zugleich, er schien wie aus Stein. Die Kleider völlig verdreckt und er hatte nicht einmal Schuhe an oder Socken. In seinem Rollstuhl schob er sich ultralangsam voran und bat um Geld für das Übliche: Übernachtungsmöglichkeiten und etwas zu essen. Er legte vor jedem Sitz eine Pause ein, und die Möglichkeit, seinem Betteln Nachdruck zu verleihen bestand in dem infernalischen Gestank, den er verströmte: Verwesungsgeruch. Ich kramte nach meiner Dose Carmex, fand sie nicht, denn es war ja zu spät. Auch als ich nach hinten ins Abteil lief: Der Gestank stand im Raum und wurde noch dichter. Eine Frau hatte sich bereits in ihren Schal übergeben. Mir fiel ein, dass ich durch den Mund atmen müsste, aber es war auf diesem Abschnitt der Strecke, wo lange, sehr lange keine weitere Haltestelle mehr kam. Als aber dann – ich fiel mehr nach draußen auf den Bahnsteig, als dass ich stieg. Ich konnte endlich die Sterne sehen, weil ich hyperventiliert hatte.

Neun Minuten warten auf die nächste Bahn nach Hause. Der Geruch haftete an mir, vielleicht hatte ich es mir auch nur eingebildet, es war auf jeden Fall wie ein Fluch.

Ich setzte mich entgegen der Fahrtrichtung und sah den Fesselballon des Springerverlages hoch in der Luft, doppelt so groß in seinem Umfang wie die Kugel des Fernsehturms, und dann fuhr der Zug um die Kurve. Ab der Sundgauer Straße wurde es draußen endlich menschenleer.

Daheim saß ich eine Ewigkeit herum und ließ mir die Alphawellen vom Flimmern des Akaziengrüns glätten. Ich dachte an Dich und auf einem Subchannel auch daran, ob wir Menschen, aus einer himmelweiten Vogelperspektive heraus betrachtet, nichts weiteres waren als lauter Ameisen, auf der Suche nach diesem einen, ihnen mega erscheinenden Zuckerwürfel. Und danach, ganz schlagartig, erhielt ich eine Lieferung, und wusste nun, wie der Einstieg zu der Geschichte über Götz Kubitschek lautete.

So war, in etwa, mein Tag.

15.6.

Auf der Suche nach Sauerampfer, den es dort angeblich, aber eben leider nur angeblich hätte geben sollen, fand ich mich auf der Sonnenallee vor dem Schaufenster eines Geschäftes für Verlobungskleider und Brautkleider wieder. Die ausgestellten Kleider waren Puppen übergezogen, denen man die Perücken falsch herum aufgesetzt hatte, so dass das lange Hinterhaar bis an den Halsansatz herunter reichte, um die darunter sich befindlichen Gesichter der Puppen zu verdecken. Das sah aus wie Martin Margiela. Kann sein, dass es den Verkäufern dort bewusst war. Kann aber auch sein, dass nicht.

Dann schüttete es aus heiterem Himmel (und das auf der Sonnenallee!), und ich führte beim Unterstehen ein schönes Fachgespräch über Radieschen. Ging dann während es noch tröpfelte in den Dandy Diner und setzte mich ans offene Fenster zur Straße. Vor dem Friedhof dampfte der Asphalt, dahinter der Friedhof im dunstigen Grün, und ich freute mich über die vielen Kakteen in hübschen Übertöpfen vor den rosa gekachelten Wänden und auf der rosafarbenen Tischplatte aus Beton. Der Aufstieg des Kaktus zur It-Pflanze ist nicht mehr aufzuhalten. Jetzt auch in Neukölln, ich saß dort in Gesellschaft eines knorrigen Zweienders mit nur ganz wenigen Stacheln. Dass 2016 zum Year of the Cactus werden würde, wurde mir persönlich erst klar, als ich im Soho House an der Kasse Götz Offergeld traf, der sich nonchalant einen meterhohen Monokaktus hatte einpacken lassen. Er zahlte mit Karte, ich nahm den geforderten Preis mit hochgezogener Augenbraue zur Kenntnis und riet ihm, den nächsten Kaktus doch in einem Fachgeschäft für Kakteenhandel zu kaufen, doch für ihn ging das auch so in Ordnung. Er betrachtete seinen Kaktus eher als ein Möbelstück.

14.6.

»Als hätte die Natur vorübergehend auf industrielle Produktion umgestellt«, begegnete ich gestern auf der Brücke zwei Männern, die waren irgendwie gekleidet, das war, sozusagen: zweitrangig, denn von Weitem schon hatte ich sie als eineiige Zwillinge erkannt.

Sie aber sprachen mich an – aufgrund meiner Schuhe ausgerechnet. Der eine von ihnen deutete darauf, der andere sprach es aus: dass sie einst, in den sechziger Jahren, »solchfarbene Schuhe in diesem leuchtenden Blau« selbst hergestellt hatten. Wie es sich dabei herausstellte, waren die Zwillingsbrüder einst Filmausstatter von Beruf gewesen.

Über die Brücke, auf der wir uns gegenüber standen, verläuft eine Schnellstraße, die stark befahren ist und dementsprechend wird Lärm produziert, aber das schien eher mich als die Brüder zu irritieren, denn sie erzählten mir nun ihr beinahe schon ganzes Leben. Sie waren 76 Jahre alt (also: nicht zusammengenommen, sondern jeder für sich). Das dauerte in etwa eine Dreiviertelstunde.

»Die Ohren haben keine Lider«, hatte Hanif Koureshi am Morgen in der Zeitung geschrieben. So I took it from there.

76 Jahre nicht nur gemeinsam, sondern zusammen verbracht zu haben: Rudi Carell war ein Kleptomane (den Satz in der Mitte teilen und der andere spricht ihn im selben Duktus zu Ende ohne Absprache, ohne dass der Anfangende sauer würde, dass der ihn Beendende die Pointe kassiert). Eigentlich waren sie gelernte Ofensetzer, waren dann in den fünfziger Jahren ins florierende Filmgeschäft eher hineingeraten als tatsächlich gewechselt. Die Kulissen des Schlosses am Wörthersee gingen genauso auf sie, wie später dann die legendäre Sperma-Melkmaschine in »Stoßtrupp Venus - 5 Mädchen blasen zum Angriff«. Siebziger Jahre dann: Hammer Films (Streckbank/Keuschheitsgürtel). Dann noch Mike Krüger und Thomas Gottschalk.

Danach kamen die Weltreisen und jeweils harte Tumore, die immer zuerst der eine von ihnen bekam, dann, kurz nach der jeweiligen Behandlung, auch und genau so der andere. Freundinnen hatten sie auch. Immer mal wieder. Aber das hielt nie besonders lange, denn im Grunde hatte jeder von ihnen ja bereits einen festen Partner. Und das fürs Leben. Ohne ihn ausgesucht zu haben, aber dennoch. Und auch gestern waren sie nicht nur gedanklich zusammen unterwegs.

Ich hatte sie anfangs nach ihrem Namen gefragt, aber sie hatten, in zwei geteilt, darauf geantwortet, dass der nichts zur Sache tue.

13.6.

Im kleinen Café gegenüber gibt es eine Eiscreme aus Kokosmilch mit Kokosraspeln in der Masse, sie ist papierweiß und schmeckt genauso gut wie die, die auf den Straßen von Chiang Mai verkauft wird (nur sind die Bällchen dort wirklich winzig). Am Abend ging ich hinüber, um mir eine Kugel davon zu kaufen, aber klar: dort stand nun der Fernsehapparat. Ein Screen, so lang und breit wie meine Badewanne, das sich darunter befindliche Gestell war penibel mit schwarzem Molton verkleidet worden. Der Wirt allerdings am Rande eines Nervenzusammenbruchs, denn es war zwar etwas zu sehen – der, wie Emily Segal es einst formuliert hatte »one giant screen saver« natürlich –, aber es kam kein Ton aus dem extra angeschafften Gerät. Mein Tipp, einfach mal den Stecker zu ziehen, half dann auch nicht weiter. Ich verkniff mir den tröstend gemeinten Rat, die Fußballübertragung ohne Ton laufen zu lassen. Irgendwann kam dann doch noch etwas aus den eingebauten Lautsprechern, aber, so wurde es mir erklärt: »viel zu leise«.

Es war jene Phase der sogenannten Vorberichterstattung oder die der Zwischenberichterstattung – jedenfalls zeigte die Kamera Gesichter in Großaufnahme und dazu diese Geräusche, die ich so unheimlich finde: Es ist eine wummernde Welle, gemischt aus Rauschen und Dröhnen, die, wie von sehr weit her gepumpt, dort aus den vielen tausend Stimmen der Zuschauer in einem Stadion entsteht.

Ein kleines Kind, das gerade mit der Stirn an den Sockel des Screens heranreichte, ging bis ganz an das Gerät heran und legte seinen Kopf in den Nacken. Mit entgeistertem Gesichtsausdruck betrachtete es die riesig vergrößerten Erwachsenen auf dem Bildschirm. Dazu das droning der Tonspur. Dann trat sein Vater hinter es und schaute sich, am Gesicht seines fasziniert starrenden Kindes gespiegelt, die Bilder vom Rasen an.

12.6.

Wenn es so warm und sonnig ist wie gestern, und die Wolken in diesem Markus-Lüpertz-Stil gemalt scheinen, füllt sich das Wasser über den Nachmittag mit Segelnden, Rudernden, Schnorchelnden und Schwimmenden, die Angel Auswerfenden, mit Außenbordmotoren, Motorjachten, Optimisten, Kajaks, Kanus, Wasserskilaufenden, mit Aufblastieren, Stehsurfbrettpaddlern und sogar mit einem Jetskipiloten. Dazwischen der öffentliche Nahverkehr mit den fahrplanmäßig kreuzenden Schiffen.

Es geht zu wie in einem Pornofilm: Alles, was irgendwie möglich ist, wird auf und im See zum Einsatz gebracht.

11.6.

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