»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

17.7.

Die Sorten wilder Salate sind jetzt allesamt reif zur Ernte. Das stellte ich gestern nachmittag beim Betreten des Hochbeetes fest, von wo aus ich eigentlich bloß mit dem Fernrohr über die Hecke in den Nachbarsgarten hatte spähen wollen – dort fand am zweiten Veranstaltungstag des Festivals Empfindlichkeiten die Lesungen internationaler Dichter statt. Vorgestellt vom Redakteur für englischsprachige Texte des Monatsmagazins Siegessäule, traten dort alle zehn Minuten vornehmlich Männer an das Mikrofon, das an einem Stativ auf einem roten Teppich aufgebaut war, der ohne darunter gebaute Podeste über dem Rasen ausgebreitet lag. Das Publikum lagerte ringsum auf Decken, oder auch einfach bloß so. Angenehmes Set-up. Dichtkunst ging eher so.

Wie Barbara Sichtermann mir einst in Rendsburg erklärt hatte, geht es bei jeglicher Lektüre vor allem anderen darum, das literarische Produkt erst einmal anzunehmen. Was ich seitdem noch mehr beherzigt habe als zuvor, aber bei, durch Lautsprecher verstärkt, vorgetragener Literatur bleibt ja auch keine andere Wahl. Während ich zarte Innenblätter aus lichtgrünen Löwenzahnbüscheln schnitt, Möhrenkraut und Kerbel sammelte, sowie einige lanzettförmige Blätter die ich nicht kannte, Pl@ntNet auch nicht, aber sie schmeckten jedenfalls abartig gut, trug wenige Meter neben mir ein blonder Lockenkopf im weißen Hemd seine Zeilen auf Englisch vor, eine Sprache, die ihm erkennbar fremd geblieben war. Der Lautsprecher verstärkte seine Verlegenheit wie eine Lupe, sie erstickte alles, was er zuvor in den weiten Raum gesandt hatte. Ich sah nicht hin. Dann wiederholte er sein Gedicht auf Deutsch, das wohl seine Muttersprache war, und – es verhielt sich damit aber genau so:

»Ihr Selbstverständnis reicht
Von A bis Z
Von hinten
Angefangen fangen dort die Zweifel an«

Es gab trotzdem Applaus. Dann kamen zwei Russen, die den Teppich auf vitale Weise betraten, sodass ich mein Kräuterkörbchen doch inmitten des Sauerklees abstellte, um mir deren Auftritt genauer anzusehen. Die beiden entsprachen freilich schon auf krasse Weise den Erwartungen, die das Publikum noch immer und sei es nur insgeheim und sozusagen heimlich an die Erscheinung eines Dichters stellt. Dementsprechend saftig auch die Verse, die sie abwechselnd vortrugen, sodass sich aus den Sonetten bald das Epos einer endlosen Nacht zu fügen begann. Wobei ich, nachdem ich mir das zur Hälfte reingezogen hatte, sagen muss, dass ein klitzekleines, dennoch wesentliches Problem der konkreten schwulen Poesie darin zu bestehen scheint, dass die Gedanken des oder der lyrischen Ichs auschließlich um das Eine kreisen. In Ermangelung des Anderen. Das war bei Sappho irgendwie nicht so. Also lauschte ich auf dem Weg nach Hause noch eine ganze Weile der Ode an die einäugige Schlange. Bei der Zubereitung des Salates, bei seinem Verzehr dito.

Es war ja sehr warm und durch die geöffneten Fenster schallte die Lautsprecheranlage, die sehr potent war, wie mir schien. Das erinnerte mich auf amüsante Weise an jene Anekdote aus dem Axel Springer Verlag zu jener Zeit, als der Verleger Axel Cäsar Springer selbst noch am Leben gewesen war, und die Studenten während ihrer Unruhen in den Sechzigerjahren den Schabernack so weit getrieben hatten, dass Spezialeinheiten des SDS ihm, Axel Cäsar Springer, die hauseigene Druckerei in Brand gesteckt hatten. Diese Druckerei, so muss man wissen, ragte damals wie eine goldene Schublade, ähnlich der einer Registrierkasse aus dem Goldenen Hochhaus an der Kochstraße, die heute ja in Rudi-Dutschke-Straße umbenannt ist. Denn nicht alles war Schabernack damals, das darf man halt auch nicht vergessen. Dies aber schon, denn es brannte also die Kassenschublade, im Goldenen Hochhaus versammelten sich Christian Kracht senior, Vater des Schriftstellers, sowie zu damaliger Zeit auch Generalbevollmächtigter des Verlegers selbst, im Kreise einiger Verantwortungsträger aus den Redaktionen. Der Generalbevollmächtige notierte in sein Tagebuch: »Wir trafen uns zu einer Lagebesprechung in meinem Büro. Licht brauchten wir keines zu machen, es brannte ja die Druckerei.«

Salat köstlich beyond words. Früh zu Bett.

16.7.

Im Traum wurde mir das Innenleben des Außenbordmotors erklärt. Weiterführend auch unter anderem, wie ich ihn dergestalt manipuliere, dass ich aus den fünf PS spürbar mehr Leistung herausholen könnte. Dieser Kurs wurde ohne Worte abgehalten, jedenfalls konnte ich mich nach dem Erwachen an keine erinnern. Dafür aber noch lebhaft, im Wortsinn, an eine animierte Explosionsdarstellung des Apparats, gezeichnet in goldenen Linien vor Schwarz. Jemand, den ich nur von seinem Profilbild auf Twitter her kenne, war mir im Traum begegnet und ich hatte ihn nach der Vertrauenswürdigkeit dieser Darstellung befragt. Und er meinte: »sehr«.

Also wartete ich ab, bis der Regen – an etwas anderes, Arbeit zum Beispiel, war ohnehin nicht zu denken, da meine Nachbarn eine dreitägige Veranstaltung namens Empfindlichkeiten auch bei anhaltendem Regen durchzuziehen gedachten. Die Lesebühne, auf der allerdings mehr musiziert denn gelesen werden würde, war schräg rechts vor meinem Balkon aufgestellt. Momentan lief dort – no pun intended – Reggae. Ich packte meine Schraubenzieher und ging barfuß durch den Regen hinunter zum Steg.

Die Drehzahl des Motors wird über einen Handgriff geregelt, der zugleich den Richtungswechsel steuert. Das Gasgeben funktioniert durch ein Aufdrehen des Griffes, den man während des Fahrens an einer geriffelten Manschette aus Gummi umfasst hält. Dieser Multifunktionsgriff enthält einen simplen Apparat aus einer Welle (die mir gleich zu Anfang mal mitten auf dem See gebrochen war), die unter der Gummimanschette mit der Hülse des Griffes verschraubt wird, einer waagerecht aufgesetzten Spule an deren Ende, um deren einzige Windung der Bowdenzug geführt wird, der den Vergaser reguliert. In meinem Traum war es mir eingeleuchtet worden, dass ich den Bowdenzug in der entgegengesetzten Richtung um diese Spule legen müsste. Dann stünde diese Verbindung zum Vergaser von vorneherin unter strammem Zug. Infolgedessen würde der Zugweg verkürzt und nach obenhin, also zum sogenannten Vollgas, würden ein paar wenige, dafür entscheidende Zentimeter mehr an Spielraum eingeräumt, um den Motor höher drehen zu lassen, als es ihm bislang, an der laschen Leine erlaubt.

Die Welle ist mit fünf Schrauben befestigt, von der mir eine prompt ins Wasser: plimps!, aber egal. Das Führen des Bowdenzugs in die nicht vorgesehene Richtung gestaltete sich schwieriger als gedacht. Die Schwaneneltern hatten ihre mittlerweile beinahe schon ausgewachsene, aber noch immer im grauen Jugendkleid umherfahrende Brut in die Bucht geleitet, und nun umlagerten sie flottenhaft das Heck meines im Flachen dümpelnden Bootes, in dem ich, mittlerweile in Schweiß geraten, zu den Klängen von I Will Survive und all den anderen Gay Classics an meinem Bowdenzug herumfummelte.

Warum bloß fand ich das geil? Jacques Lacan würde sagen: »Weil du nie ein Mofa hattest«.

Stimmt freilich. Tragischerweise hatten mein Vater und ich kurz vor meinem 14. Geburtstag einen mittelschweren Motorradunfall mit seiner letzten Maschine, einer Triumph, der mich beinahe (sic) mein rechtes Bein gekostet hatte. Daraufhin hatte meine Mutter ein Machtwort gesprochen hinsichtlich: In diesem Haus kommt kein Zweirad mehr in die Garage.

Aber Herumschrauben, wie es heißt, Öl an den Fingern – gestern holte ich eine wesentliche Etappe meiner Mannswerdung nach. Also jedenfalls in nuce. Und was soll ich sagen: Ilse ist jetzt mindestens doppelt so laut. Und nicht nur das, es fährt auch noch buttriger, die Angler staunten (bildete ich mir zumindest ein). Die Schwanenmutter fauchte bedrohlich.

15.7.

Ich verstehe nicht ganz, weshalb so viele mit dem Sommerwetter unzufrieden sind. Jedenfalls höre und lese ich viel davon. Gestern in den Fernsehnachrichten, Programm habe ich vergessen, sagte der Wettervorhersager abschließend: »Die Hoffnung auf einen beständigen, auf einen sauberen Sommer bliebt weiterhin bestehen.«

Sauberer Sommer – ich finde ja, seit ich in Berlin lebe, ist das nun der beste Sommer seit jeher (und das nicht, weil es der erste Sommer im ersten Jahr meiner eigenen Zeitrechnung ist). An den Sommer diesen Jahres kommt nur noch der Sommer des Jahres 1996 heran, vielleicht war es auch 1997, jedenfalls waren das drei Monate allerdurchgängigst heißen kalifornischen Wetters mit warmen Winden wie aus Föhnen von überall her. Ja, auch von unten!!! Und nachts konnte, wer überhaupt musste, nur der und der auch nur dann schlafen, wenn er sich über die Schlafzimmertür ein nasses Bettlaken gehängt. So spricht die Erinnerung. Wahrscheinlich zur Hälfte gelogen (den Rest heillos übertrieben). Reicht aber immer noch.

Wenn ich jetzt gerade aus dem Fenster schaue, dann wedelt dort elastisch ein Zweig des Kirschbaumes mit all seinen Blättern vor einem mittelgrauen Hintergrund. Sieht aus wie ein Wingsuit. Und das spezielle Grün des Kirschblütenlaubes kommt vor diesem Grau sehr schön zur Geltung; als eine andere Schönheit, dieses Grün, wie dann vor dem Ideal, dem sauberen Sommerhimmelshintergrund, eines karibischen Blaus. Möbel aus Kirschholz sehen besonders hübsch aus vor Wänden, die in einem Grau gestrichen wurden, das ein paar Nuancen nur dunkler ausfällt als dieses des schmutzigen Sommers. Man gibt diesem Grau, bei Farrow & Ball gibt es das fertig in Eimern und es heißt dann bekanntlich Elephants Breath, ein paar wenige Tropfen Kirschrot hinzu, um das Grau weicher, tröstlicher, Kirschholzfreundlicher und in der Weltwahrnehmung des Wetterfröschleins schmutziger abzumischen.

Inherent Vices: chocolate melts, eggs break, winter comes.

14.7.

Kurz vor Mitternacht hatte ich als Gutenachtgeschichte aus Das Offene von Giorgio Agamben vorgelesen. Das Kapitel über die Umwelt des Tieres, in dem er sich auf Jakob von Uexküll bezieht. Damit hatte ich sie zum Lachen gebracht, denn dieser Name klingt ja wirklich wie eigens dazu ersonnen: um alle andern aufzuheitern, sobald man, mit diesem Namen vorgestellt, einen Raum betritt. Obwohl es wahrscheinlich zu Jakob von Uexkülls Lebzeiten noch eine der gewöhnlich klingenden Namenskombinationen war.

Und fing also nach einer Weile, während ich las, in einem Sub Channel an, nachzudenken; ausgehend von dem, was dort von Agamben über Uexküll geschrieben stand. Den Aufsatz, speziell jenes Kapitel über die Umwelterfahrung der Tiere hatte ich in den letzten Jahren schon mehrfach gelesen, sodass mein telefonischer Vortrag unter der Aufteilung meiner Aufmerksamkeit nicht zu leiden hatte – sonst hätte ich es mir nicht gestattet! Außerdem hatte ich bereits vor ein paar Seiten mitbekommen, wie aus dem Lauschen am anderen Ende ein konzentriertes Atmen geworden war, das hinter das Eigengeräusch der Leitung, ein Rauschen, geglitten war.

In besagtem Kapitel erklärt Giorgio Agamben das musikalische Weltmodell, das Jakob von Uexküll erstellt hatte, um die Wahrnehmungswelten der Tiere zu erklären – denn er war sich sicher (Uexküll), dass jedes Tier seine eigene Umweltwahrnehmung besitzen musste, die notwendigerweise nichts mit der anderer Arten zu tun haben konnte. Aus seiner jeweiligen Umgebung konstruiert das Tier nach Uexküll vermittels einem Merkorgan, eine Umwelt aus Sinnesreizen, auf die es dann mit einem Apparat spezifischer Möglichkeiten, den Uexküll als Wirkorgan bezeichnet, reagieren muss. Aus dieser Klaviatur entsteht, was von ihm als »die Bedeutungssymphonie der Natur« beschrieben wurde. Als Beispiel führt Giorgio Agamben ein Spinnennetz an: »Die Spinne weiß nichts von der Fliege und kann nicht Maßnehmen wie der Schneider, der das Kleid eines Kunden anfertigt. Gleichwohl bemißt sie die Größe der Maschen ihres Netzes gemäß den Dimensionen des Fliegenkörpers und die Widerstandskraft der Fäden in exakter Proportionalität zur Kraft beim Anprall eines fliegenden Fliegenkörpers. Die Radialfäden sind darüber hinaus solider als die Zirkularfäden, weil diese – im Unterschied zu den ersteren von einer klebrigen Flüssigkeit umgeben – genügend Elastizität besitzen müssen, um die Fliege gefangenzuhalten und sie am Weiterflug zu hindern. Die Radialfäden hingegen sind glatt und trocken, weil sie der Spinne dazu dienen, sich schnellstmöglich auf die Beute zu stürzen und sie endgültig in ihr unsichtbares Gefängnis einzuwickeln. Wirklich überraschend ist der Umstand, daß die Fäden des Netzes genau nach der Sehkraft des Fliegenauges bemessen sind, so daß die Fliege sie nicht sehen kann und in den Tod fliegt, ohne es zu merken. Die zwei Wahrnehmungswelten von Fliege und Spinne kommunizieren auf grundlegende Weise nicht miteinander und sind gleichwohl perfekt aufeinander abgestimmt.«

Hinsichtlich der Aufführung einer Bedeutungssymphonie, dachte ich. Für Menschen könnte das nur die Liebe sein, die dann erklingt. Und versuchte, vom Bild der Fliege im Netz, in Zirkularfäden verheddert, den Vorgang rückwärts zu denken als Annäherung zweier, die noch nicht wissen, dass sie einander zu Liebespartnern werden. Ein absichtsloser Flug für den einen, als ein, so scheint es, universell gestricktes Netz betrachtet sich der andere. Merkorgan und Wirkorgan greifen wechselwierig in die Tasten der fremden Klaviatur. And they’ll take it from there.

13.7.

Nach der Arbeit fuhr ich mit dem Fahrrad zur Tankstelle und zapfte fünf Liter Super in den Kanister. Dann tankte ich den Motor voll, nahm den Rest im Kanister mit und fuhr hinüber zur Pfaueninsel. Aus meiner Richtung kommend, erreicht man zuerst das Ufer, an dem auf einer Lichtung dort die sogenannte Meierei steht. Ein niedriges, pseudogotisches Gebäude mit eingedrücktem Dach. Davor ankerte die Bare Foot, an Bord ein paar Männer und Frauen: die Männer in weißen Hoodies, die Frauen in Bikinistreifen. Da wurde vaporisiert und dazu lief Snoop Dog. Riesen Deutschlandfahne am Heck, und generell stelle ich fest, dass Ilse und ich (so heißt mein Boot (also bloß Ilse, na: Mein Boot heißt ILSE)) hier, an solch beschaulichen Stellen des Sees, insbesondere in lauschigen Stunden an beschaulichen Stellen des Seees nicht gerade beliebt sind. Also ziemlich unbeliebt. Das liegt an Ilses Außenbordmotor, der ist ziemlich laut. Er röhrt und er brummt, sodass die ganze Sitzbank vibriert, was ich freilich angenehm finde. Es ist zwar nicht die halbe Miete, aber im englischen hieße das Ilsesche Vibrieren der Sitzbank cherry on the top. Jedenfalls fiel mir dort zwischen Meierei und Bare Foot ein, was ich mir zu Weihnachten wünschen würde: einen Anker und sieben Meter fünfzig Seil, sagen wir: sieben Meter achtzig (der See ist an seiner tiefsten Stelle sieben Meter tief, dazu kommt vermutlich noch eine Schicht Schlamm). Dann könnte ich ebenfalls den Motor ausmachen, es würde herrlich still, ich könnte die Stille genießen, eventuell auch mal vaporisieren – wobei: lieber nicht.

Ich umrundete dann die ganze Pfaueninsel, aber es gab dort nirgendwo eine Möglichkeit anzulegen, was ich als absolute Frechheit empfand, im Grunde auch unseemännisch und, so vermute ich, ist einerseits Inselbesitzern und andererseits den vorbeidröhnenden Bootsfahrern jegliche Anlegeoption vorenthalten. Die Pfaueninsel befindet sich angeblich im Besitz der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, fällt also in Tim Renners sogenannten Beritt. Ich werde ihn darauf ansprechen. Und zwar in forderndem, an Ágota Kristóf geschultem Ton. Im Zweifel werde ich ihn an den Erfolgstitel der Dolls United zu seinen guten alten Motor-Zeiten erinnern: »Eine Insel mit zwei Bergen«.

Ein gutes hatte diese fruchtlose Umrundung von Renner Island dann aber doch noch, und zwar fand ich an deren rückseitigem Ufer, als die Bare Foot schon wieder zu riechen, zu hören, aber noch nicht ins Blickfeld gefahren ward, eine Kolonie Blässhühner von gigantischem Ausmaße: mindestens dreißig Jungtiere und etliche Eltern ruckten dort zwischen Bänken aus Totholz und lebten, so schien es mir, mit dutzenden Schwänen – auch hier lauter Jungtiere – in Koexistenz. Und ich wünschte mir, zusätzlich zum Anker (aber der soll bitte nicht vom Himmel fallen, ich kenne mich!!!), dass mein Blässhuhnelternpaar doch bitte im nächsten Frühjahr, das ja meiner eigenen Zeitrechnung zufolge noch im Winter liegt, dorthin, an die Westküste von Renner Island auswandern möge, um dort zu legen und brüten (vorher Paaren nicht vergessen). Dort liegt nämlich, so schien es mir: Blässhuhn Paradise City.

Sonnenuntergang dementsprechend (wie Chupa Chups Einwickelpapier). Früh zu Bett.

Für Friederike, die heute Geburtstag hat: Alles Gute, Wahre und Schöne für Dich.

12.7.

Kaum breche ich ein einziges Mal für ein paar Tage mit dem Ritual meines Tagesablaufes, passiert in meiner Abwesenheit etwas Spektakuläres. Jedenfalls behauptet die Gemüsehändlerin, dass dem so war. Wir hatten uns, aufgrund meiner neuen Angewohnheit, den Kaffee daheim zu trinken und nicht in dem kleinen Café auf dem Bahnhofsvorplatz gegenüber, ein paar Tage hintereinander nicht mehr gesehen.

Zunächst war mir die Veränderung nicht aufgefallen. Sie stand wie üblich hinter ihrem Stand vor dem tiefgrünen Hintergrund aus Efeu und alten Bäumen, die aus dem Bombenkrater ragen. Näherkommend, ich hatte von ihren herrlichen Gurken kaufen wollen, bemerkte ich die Haufen von Baumstücken, die rings um sie gelagert waren. Von rot und weiß gestreiftem Absperrband der Feuerwehr umwickelt.

»Ja«, rief sie mir zu, wie um mich anzulocken, »Ja, kommen Sie nur. Schauen Sie sich das bloß mal an«.

Es war also, morgens um acht Uhr übrigens, wenn ich üblicherweise dort nebenan vor dem Café die Zeitung aufschlug, so gewesen, dass sie da gerade, wie an jedem Morgen, aus ihrem auf der gegenüberliegenden Straßenseite abgestellten Wohnmobil die Gemüsekisten herübergetragen hatte, und auf der Verkaufsfläche ihres überdachten Marktstandes verteilte. Den Abschluss dieser den Verkaufstag vorbereitenden Arbeiten hatte, wie an jedem Morgen der Saison, in dem Aufstellen des schmalen Tischchens mit den in Eimern gefüllten Salz-, Senf- und Gewürzgurken aus dem Spreewald bestanden. Dieses Tischchen hatte sie, seiner Stabilisierung wegen, seit eh und je gegen den Stamm der neben ihrem Stand aus dem Asphalt strebenden Linde gelehnt.

»Plötzlich merke ich, wie sich unter meinen Füßen der Boden bewegt, ganz langsam. Und ich schaue runter und sehe, wie sich der Asphalt öffnet. Und das Tischchen mit den Gurken kippt um.«

Sie springt zur Seite, sucht Zuflucht hinter ihrem Gemüsestand und sieht von dort aus dabei zu, wie der Lindenbaum über die vierspurige Straße fällt. Sie ruft die Feuerwehr.

Wundersamer Weise wurde niemand verletzt. Das Zerlegen des Lindenbaumes dauerte vier Stunden. In dieser Zeit blieb der Verkehr inklusive der Busspuren beidseitig gesperrt, was nicht alle Verkehrsteilnehmer einsehen wollten. Ein Baumforscher untersuchte den Lindenstamm und fand dabei zweierlei heraus:

a) Der Stamm war von innen heraus verfault. Kurz vor dem Aufstellen des Gurkentischchens waren ihm auch noch die letzten Wurzeln zerfallen. Dadurch gab es für ihn keine Möglichkeit mehr, sich im Grund zu verankern und oberhalb in einer Senkrechten zu halten.

b) Der Baum wurde 130 Jahre alt. Er war also viel älter noch als der Bombenkrater.

11.7.

Vorgestern früh, als ich mich nach dem Augenaufschlagen in meinem Bett umschaute, entdeckte ich auf dem Leintuch neben mir einen Nachtfalter, der lag mit gefalteten Beinen neben mir auf dem Rücken. So, als hätte er sich in der vergangenen Nacht neben meinen Kopf hingelegt, um dort zu sterben. Ich schob ihn auf eine Karteikarte und legte diese auf die Fensterbank, um den Falter durch mein Mikroskop zu betrachten (ich kann dem Fernrohr eine Makrolinse aufschrauben, dann wirkt es sozusagen umgekehrt, beziehungsweise auf den extremen Nahbereich bezogen). Alles am Nachtfalter ist staubig, wenn man ihn achtfach vergrößert betrachtet. Der Brustkorb erscheint dann enorm und von greisenhaupthaftem Pelz überzogen. Die Facettenaugen ebenso staubig, braun und grau, musivisch gefasst. Da gab’s keine Lider, Insekten sterben, wie manche Menschen auch, sehenden Auges.

Als ich mir alles am Falter angesehen hatte, legte ich ihn raus auf die Erde des Rosmarintöpfchens. Nachmittags war er fort. Entweder vom Winde weggeweht oder von den Hornissen gefressen – vielleicht auch ganz banal von einem Spatz.

Gestern habe ich dann während der Vorberichterstattung wieder an ihn denken müssen. Ich hatte ihn bereits vergessen. Nach der Halbzeit eingeschlafen und von etwas ganz anderem geträumt. Aber es ging auch dort in einem weiteren Sinne um Sport.

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