»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

17.8.

Aufgewacht aus einem Traum, der sehr gute Dialoge hatte: Zwei Donaldisten stritten sich in einem Nebenraum, im Bild war detailgenau mein Schreibtisch zu sehen. Das Holz der Tischplatte war gut getroffen. Die Fachleute erörterten die Rolle der Neffen im Werk, woraufhin der eine zu dem Schluss kam, Tick Trick und Track »seien doch letzten Endes recht nutzlos«, woraufhin der andere feststellte: »Enten seinen nun mal keine Nutztiere«. Er war es offenbar auch gewesen, der dem anderen in meine Schreibtischschublade eine Karteikarte praktiziert hatte, auf der dieser zu lesen bekommen hatte: »In dieser Schublade habe ich zwei Stunden lang nach meinem Bleistift gesucht und ihn — NICHT!!! gefunden« sowie eine weitere Karte in den Stiftebecher gesteckt, wie eine Grußkarte in einen Strauß, auf der gestanden haben soll: »Dies ist kein Stiftebecher, das ist Mikado!!!«

Als ich die Vorhänge wegzog, lag zum ersten Mal Nebel über dem See und das andere Ufer war noch nicht zu sehen. Als sich der Nebel lichtete, stand hinter den Häusern eine dunkle Wand. Vor dem Café kam Tim aufgeregt winkend auf mich zu, er rief mich »Doc Sportello«. Er hatte noch nie etwas von Thomas Pynchon gehört und so hatte ich ihm vor ein paar Tagen geraten, mit Inherent Vice anzufangen (in der Verfilmung von Paul Thomas Anderson). Jetzt ist er total begeistert von dem Einfallsreichtum, von den herrlichen Dialogen und freilich auch von der schönen Stimme der Erzählerin. Beim Nachspielen meiner Lieblingsszene in dem Fischrestaurent müssen wir beide lachen. Und das morgens um acht.

16.8.

Im Supermarkt fiel mir eine neue Zahnpasta ins Auge, die mit extrem hohem Fluoridanteil beworben wurde. Außerdem sah schon das marineblaue Design der Tube derart gefährlich aus, dass es mich förmlich zuzugreifen verlangte. Die ungewöhnlich stämmige Tube war in einer Art Schneewittchensarg verpackt, den ich gleich nach dem Bezahlen in den Abfallkasten warf, obwohl ich daraus auch etwas Hübsches hätte basteln können, aber die Wohnung ist mir derzeit ohnehin schon zu voll mit Krimskrams, also: was soll’s.

Kaum zu Hause, probierte ich die Paste aus, es quoll eine extrem dunkelblau schillernde Substanz auf die Borsten. Während des Zähneputzens dachte ich, dass ich vermutlich so lange bürsten müsste, bis sich der schrille Schaum ins übliche Weiß entfärbt hätte. Doch der vermutete Entfärbungseffekt wollte sich auch nach etlichen Minuten nicht einstellen. Beim Blick auf die Uhr entdeckte ich, dass bereits das halbe Waschbecken von herabtropfenden Schaumflocken in Flugzeugtoilettenspülflüssigkeitsfarben eingefärbt war. Es wurde nicht nur immer blauer in meinem Mund, der Schaum multiplizierte sich zu einer Menge, die alles auszufüllen drohte. Die blauen Rückstände im Waschbecken ließen sich nur widerspenstig beseitigen. Als ich Schaumreste von meinen Händen trocknen wollte, färbte ich damit mein Handtuch ein. Geschmacklich angenehm, glattes Zahnoberflächengefühl, aber trotzdem: Wer denkt sich so was aus?

Aus Japan hatte ich einmal eine schwarze Zahnpasta mit Jasmingeschmack. Die verwandelte sich binnen weniger Augenblicke in weißen Schaum.

15.8.

Extrem schwieriger Tagesbeginn, denn ich hatte noch vor dem zweiten Kaffee gleich Tabassom am Telefon, die mir mitteilen wollte, das Daniel tot ist. Dann weinte sie, ich weinte nicht, ich sagte: »Na ja, das war doch abzusehen.« Sie litt anscheinend um so vieles mehr, dazu kam die schlechte Leitung. Auf Twitter gab es bereits einen Nachruf von Christoph Amend und dazu eine Bildergalerie, man nennt es Rakete, mit den 52 schönsten Werken Daniel Josefsohns aus den letzten 52 Wochen seiner Arbeit für das Zeitmagazin nach dem Schlaganfall. Später noch eine ausführliche Strecke mit den Bildern von ihm in der Margiela-Pailettenhose im Rollstuhl vor der Klagemauer Jerusalems, und ich sagte zu Tabassom, die noch immer weinte: »Guck doch mal, das ist doch auch einfach so, dass die meisten unserer Freunde, und es werden ja nur noch viele mehr werden, die bald schon sterben, also, dass die doch alle was hinterlassen, an dem wir uns weiterhin und noch sehr lange werden erfreuen können. Bücher, Bilder, Kleidungsstücke – stell dir doch mal vor, du wärst mit einem Theaterschauspieler befreundet und dann stirbt der: Vielleicht oder wahrscheinlich wirst du viel zu selten in einem seiner Stücke gewesen sein und dann ist der weg und du hast noch nicht einmal mehr Videoaufnahmen von seinen Auftritten; denn Videoaufnahmen von Theaterstücken sind doch noch schlechter als irgendwas«.

Aber das half alles nichts. Und über den Vormittag hatte ich bald solch eine Menge an Anrufen und Nachrichten von ihr gesammelt, dass mir klar wurde, dass es nun zu einem Treffen kommen müsste, denn in einem Notfall geht halt doch nichts über die reale Anwesenheit. Also trafen wir uns am Nachmittag nach der Arbeit, die ja außerdem noch getan werden wollte, im Café am Boulevard, das mittlerweile gleich um die Ecke ihres neuen Studios gelegen ist, und das, seit es Stefan Landwehr und Boris Radczun in ihr Imperium Punktpunktpunkt.

Und ich sagte: »Guck« — auch oder weil ich gerade mit ganz anderen Schmerzen und Schwierigkeiten zu tun hatte, aber vor allem auch deshalb, weil ich zwar Daniels Arbeit sehr mochte, aber ihn als Menschen, im Umgang sozusagen extrem schwierig, wenn nicht sogar ärgerlich empfunden hatte: »Es gab da diesen Abend, da hatte er schon den Schlaganfall gehabt und ich war gerade aus Afrika zurück in die Choriner Straße gezogen. Da hatten wohl, das hatte ich bei einem abendlichen Spaziergang durch mein neues Viertel festgestellt, zwei Typen aus dem Breisgau in einem der letzten kaputten Häuser eine Kneipe eröffnet mit dem unmöglichen Namen Kapitalist. Ich ging damals dort rein und wollte mit denen was trinken und dabei herausfinden, worum es denen ging, konzeptuell. Aber drinnen war alles voller Blut und voller Glasscherben, denn die hatten wohl während der vorausgehenden Party derart massiv MDMA eingenommen, dass einer der beiden Geschäftsführer, ein bildender Künstler vom Schlage Jannis Kounellis‘, im Rausch durch die Schaufensterscheibe gesprungen war. Und nun saßen sie dort noch im Afterglow beisammen am Tresen und tranken badischen Wein, und sein Unterarm inklusive der Hand des Fenstertauchers war notdürftig mit Draht zusammengeflickt, aber von Blut verkrustet. Und ich fragte: ›Kennt ihr Daniel Josefsohn?‹

Nö.

Ich sagte: ›Macht nix, aber wenn es einen hier in Berlin gibt, der euer doofes Konzept, das ja eigentlich gar keines ist, außer Flaschenbier aufmachen und weiterverkaufen, vergolden kann, dann ist das er«. Und ich rief ihn von dort aus an und sagte: ›Wann könntest Du hier sein – hier sitzt ein Badenser auf MDMA mit grotesk verunstaltetem Arm. Daraus müsste man das Plakat für diese Bar machen.‹

Und Daniel sagte – nein, er schnauzte, denn das war das Unangenehme an ihm, er rief, er befahl und er bestellte und er wollte auch stets und immer viel zu viel Geld: ›Schick mir mal ein Foto, ich will sehen, w i e verunstaltet er ist‹.

So I did. Dann warteten wir. Der Verunstaltete war mittlerweise richtig nervös. Konnte sein, dass sein MDMA-Rush allmählich ein kritisches Level erreicht hatte; es konnte aber auch genau so gut möglich sein, dass er seinen möglichen Aufstieg zur Berliner Nachtlebenikone gewittert hatte und dies zu begehren begann.

Die Antwort von Daniel, so war er halt, bestand vor allem in einem Bild. Die Aufnahme zeigte ihn selbst. Zu sehen war sein Mund, bei geöffneten Lippen. Die Vorderzähne fehlten vorne oben allesamt. Dazwischen viel Blut. Darunter eine Zeile: ›Das finde ich krass, darunter mache ich es nicht‹.

Der Badenser war noch zu bedröhnt, um die Enttäuschung fühlen zu können. Ich verabschiedete mich auch im Namen Daniel Josefsohns, betrat den Laden niemals wieder und er ist, ohne dass ich da irgendwelche Querverbindungen ziehen will, mittlerweile eine der erfolgreichsten, aber auch beschissensten Kneipen in Prenzlauer Berg.«

Als ich somit am Ende einer meiner Daniel-Josefsohn-Anekdote angelangt war, ging gerade die Sonne unter. Wie teilten uns 10 Milligramm Medikinet und bestellten noch mehr Wein. Hinter der Komischen Oper zeigten sich bronzefarbene Flecken, die angeblich Wolken sein wollten, und während wir auf unseren Freund Bert aus Antwerpen warteten, verging noch einige Zeit. Aber auf angenehme Weise.

Als Bert endlich eintraf, waren wir beide längst betrunken. Bert brachte drei orangefarbene Rollkoffer aus Nylon mit und sagte: »Ich bin so froh, dass ich endlich hier bin, ich habe die letzten Monate in Basel verbracht und Basel ist wirklich die langweiligste Stadt, die ich kenne.«

Und die herrliche Schwerelosigkeit des Alkoholrausches hatte nun auch die Traurigkeit über Daniels frühen Tod längst in jene universelle Melancholie verwandelt, über die man sich ja andererseits auch freuen kann (weil man etwas empfinden kann, das einen zu Tränen rührt). Bert wird jetzt drei Wochen lang in der Bless-Wohnung in der Oderberger Strasse wohnen. Das ist eine Art begehbare Tupperware-Party für den extremsten Mode-Shit, den es so gibt. Bevor ich nach Afrika gezogen bin, hatte Cyril Duval dort diesen Job. Und er hat sich von morgens bis abends alleine betrunken mit einer Mischung aus Wodka und Mineralwasser, in die er einzelne Tränen aus Grenadine fallen ließ, weil ihm sein Gemisch ansonsten zu farblos war. Nie klingelte dort jemand, nie wollte jemand sich von ihm durch die drei komplett mit Bless-Gegenständen eingerichteten Räume führen lassen. Als ich einmal sehr gelangweilt war, kaufte ich ihm die Bettwäsche ab, die, damals neuartig, digital mit einem Schwanensee bedruckt war (inklusive der Schwäne und vor allem: der Wellen). Und ich weiß noch genau, wie sehr sich Cyril gefreut hatte, dass er seine Kreditkartenrutsche zum Einsatz bringen durfte. Und als wir damit kinderpostartig 500 Euro wegrubbelten, sagte er zu mir: »Davon habe ich schon als Kleinkind geträumt.«

Ein paar Tage später schenkte er mir ein ausgeleiertes Sweatshirt in dunklem Rosa, das er von Hand mit Linoleumstempeln bedruckt hatte: Frimaire, Frimaire, Frimaire. Er war zu betrunken, um mir erklären zu können, was es mit dem Slogan auf sich hatte. Alles, was er herausgebracht hatte, war: »Französische Revolution«. Ich hab’s gegoogelt. Danach liebte ich ihn noch mehr.

Das war um die Zeit, als ich mein erstes iPad bekam. Ich weiß noch, dass ich es direkt in diese Bar getragen hatte, in der damals Hedi Slimane auflegte. Und Matthew Evans sagte: »This is the holy grail«. Danach wurde ich vierzig. Und dann, und dann, und dann.

14.8.

In punkto Skurilität kommt an den Easy Rider nur das Birdhouse in der Heidestraße heran. Der vogelhausförmige Imbiss steht auf einer Verkehrsinsel und ist auf der zum Hauptbahnhof weisenden Seite von hohem Gebüsch umgeben, sodass ihn nur die stadteinwärts Fahrenden überhaupt entdecken können. Hier wird ein ausgezeichnetes Wurstgulasch serviert. Ich kenne den Imbiss erst seit einem halben Jahr, Erik hat ihn mir gezeigt, aber die beiden Frauen, die dort in der Küche arbeiten, erzählten mir, dass es ihn in ähnlicher Form schon seit fünf Jahren gegeben hat. Damals noch an anderer Stelle, hundert Meter weiter in Richtung Flughafen, wo das Tape war. Die rings um das Vogelhaus angebrachten Vogelhäuser werden tatsächlich bebrütet. In dieser Saison von Spatzen und Stieglitzen (es wechselt wohl von Jahr zu Jahr).

Während sie einen Aprikosenkuchen aus dem Ofen holte, die aufragenden Kanten der Fruchthälften von der Hitze geschwärzt, wie es sich gehört, erzählte sie mir von einem Drama, das sich bei ihr zu Hause direkt vor ihrem Wohnzimmerfenster abgespielt hatte: Dort hatten auf dem Fensterbrett Amseln ein Nest gebaut und die Amselmutter saß auf einem Ei. Nun nimmt das ja nicht nur mit den Krähen Formen an in Berlin, sondern es erscheinen auch vermehrt Eichelhäher und Elstern. Generell, da waren wir uns einig, ist es ein gutes Zeichen, wenn es mehr von diesen großen Vögeln gibt (in Peking sah ich in zehn Tagen keinen einzigen Vogel – dann stimmt etwas definitiv nicht in der Natur); aber speziell die Elstern sind andererseits dann wieder eine Bedrohung für die kleineren Arten. Und so kam es, dass sie eines Nachmittages schrille Schreie hörte, das Fenster stand offen und so wurde sie Zeugin, wie das Amselpaar versuchte, die Elster abzuwehren, die es auf das einzige Amselbaby abgesehen hatte. Aber weder Schreien noch Picken noch ein Angriff aus der Luft konnte es verhindern helfen. Die Amseln mussten sich geschlagen geben und die Elster vertilgte das geduldig ausgebrütete Kind.

Die Köchin des Birdhouse litt noch sichtlich unter der Erinnerung an das Erlebnis. Vor allem, das fragte sie mich: Hätte sie eingreifen sollen? Ich war mir nicht sicher.

13.8.

Von den angeblich spektakulären Mengen an Sternschnuppen habe ich keine einzige sehen können, weil der Himmel ausgerechnet in den fraglichen, den letzten zwei Nächten durchgehend von Wolken bedeckt geblieben war. Da hilft auch ein Fernrohr nicht weiter. Und heute früh dagegen, wie zum Hohn: wolkenloses Blau. Es ist deutlich kühler geworden. Auf den Blättern des Kirschbaumes, der seiner spektakulären Blütenpracht zum Trotz keine einzige Kirsche produziert hat, sammelt sich der Tau. Kurz nach Sonnenaufgang steht noch der Dunst über der Wasseroberfläche des Sees und die Häuser entlang des anderen Ufers werden zartgelb angeleuchtet, so als läge dort ein Feriengebiet. Nach dem Aufwachen fragte ich mich eine Weile, weshalb ich mich so anders als sonst fühlte. Bis ich darauf kam: Du hast zum ersten Mal bei geschlossenen Fenstern geschlafen. Es fehlen die Aufwachgeräusche von draußen. Bis auf deinen Atem ist es einfach bloß still.

Hier dröhnt es dumpf und manchmal quietscht es, wenn die Schiffskörper gegen die Landungsstege gedrängt werden. Auf der anderen Seite, das weiß ich, klingelt es bei leichtem Wind vielstimmig, wenn hundert Stahlseile an hundert Masten von Segelbooten schlagen.

Am Gemüsestand gab es die ersten Frühäpfel. Die Schale ist dünn, weiß, hellgrün und in einem pudrigen Rot gestreift. Das Fruchtfleisch bricht glatt wie Glas, der Saft schmeckt kühl.

12.8.

Nachricht von Rob: Der Versand von zehn Schachteln nach den Entwürfen Stanley Kubricks aus Nordengland hierher kostet mehr als die Schachteln selbst. Zuzüglich 20 Prozent Mehrwertsteuer. Egal, ich gebe ja sonst für kaum etwas Geld aus, und so bleibe ich bei meiner Bestellung (und bin schon gespannt, wie sie angeliefert werden – also in welcher Verpackung: hoffentlich in einer eigens dafür angefertigten Schachtel!!!).

In der Dokumentation über die Schachteln geht es auch ausführlich um die Beschäftigung Stanley Kubricks mit Schreibwaren aller Art. In der Zeit seines Überwinterns zwischen Full Metal Jacket und Eyes Wide Shut (immerhin zwölf Jahre oder so; geplant war ein Film über den Holocaust, aber während der zweijährigen Recherche kam ihm Steven Spielberg mit Schindlers Liste zuvor, der währenddieser Zeit von zwei Jahren, die Kubrick für die Vorarbeiten beanspruchte, seinen Spielfilm vorbereitete, drehte und in die Kinos brachte), einer Zeit also, die seine Witwe Christiane Harlan als ein quälendes Warten auf den Augenblick, da er sich in eine Geschichte verlieben würde, beschreibt, hatte sich Stanley Kubrick vor allem mit der Beschaffung von Schreibwaren beschäftigt. In den eigens für seine Archivierungslust angefertigten Schachteln, fanden sich auch üppige Vorräte an Notizbüchern, Blöcken, Gläsern voller Tinte et cetera. Eigentlich, so erzählt es die Dokumentation, habe er in diesen Jahren das Grundstück nur noch verlassen, um im nahe gelegenen Schreibwarengeschäft zu schauen, »ob es etwas Neues gibt«.

Gestern Abend, wir saßen gegenüber des Stehcafés „Zum Schleckermäulchen“, gab mir Jan ein angekündigtes Geschenk. Es ist unfassbar schön, ich weiß gar nicht, wo er das wieder aufgetrieben hat: ein Block aus dem persönlichen Briefpapier Audrey Hornes.

Angesichts dessen sprachen wir noch einige Stunden lang über das Leben, vor allem aber über die Liebe an sich. Und über die Schachteln. Natürlich.

11.8.

Es war um den Moment, da sich die Datumsscheibe in meiner Armbanduhr zwischen Wed und Thu entscheiden würde. Es regnete wie bescheuert und wir saßen unter der Markise des kleinen Cafés gegenüber. Vor uns, morgens wie jetzt auch noch: die unendlich scheinende, weil wie blockierte, weil ja in Wahrheit so gut wie nie abgenutzte Kleinschlange aus Taxis.

Am Morgen hatte es dort beinahe schon ein Gefecht gegeben. Wer den ganzen Tag neben seinem Wagen sich herumzustehen gezwungen sieht, weil ihn niemand will, der braucht halt einen Kratzbaum. In diesem Fall hatte er die Form eines Einkäufers in der angrenzenden Bäckerei, der, mit dreistelligem Nummernschild zudem, sein Fahrzeug vermutlich der Bequemlichkeit halber ans Ende der Schlange aus Berufsfahrern gestellt hatte. Als er die Bäckerei mit einer Papiertüte voller Brötchen verließ, sah er sich einer wütenden Menge gegenüber, die zwar nicht seinen Kopf forderten, noch nicht, aber immerhin die sofortige Wegbewegung seines PKW. Und weil ihnen das nicht schnell genug vonstatten zu gehen schien: ihm noch ein paar aufs Maul. Dazu, aufgrund der Lautstärke und Vielstimmigkeit kann es nur als Schimpf gedacht worden sein, riefen sie ihn, den Brötchenkäufer, »Fotze«. Woraufhin er, ihnen zweifelsohne nicht unterlegen in Sachen Körperkraft, seine Geschlechtsgenossen als »Schwanzlutscher« bezeichnen wollte. So ging es immer weiter, das Ende mag man sich denken. Es ging aber unblutig aus.

Dies alles besprachen wir, wir ließen es Revue passieren, während es regnete, und dazu lief Our Darkness von Anne Clark. Von daher fiel es mir leicht, Steve und Tim von den alten Zeiten in Berlin zu erzählen. Es war ja noch nicht allzu lang her, dass ich Klaus Wowereit, den damals noch Regierenden Bürgermeister von Berlin, während einer Modewoche auf einer Party in der Russischen Botschaft am Boulevard Unter den Linden zu Our Darkness (Anne Clark war dort aufgetreten) hatten tanzen sehen.

Währenddessen hörten wir This Charming Man, P-Machinery und Club Tropicana. Auf dem iPhone des kleinen Cafés gegenüber ist eine seltsame Software installiert, über die ein sogenanntes Raumland-System aus Lautsprechern sich die Musik saugt. Momentan, also zur Stunde zwischen Wed und Thu, war das, voreingestellt, ein Programm aus meiner Pubertät.

»Germany in the eighties ———«, sagte ich demzufolge.

»Who was your Madonna?«, fragte Steve, auf dessen Unterarmen links Elvis steht und rechts Bowie.

Also sagte ich: Punktpunktpunkt

Wohingegen Tim sich, da er aus Neuseeland stammt, an überhaupt nur einen einzigen einheimischen Star erinnern konnte. Bei der neuseeländischen Madonna hatte es sich offenbar um einen Mann gehandelt namens Dave Dobbyn.

Und wir kamen von Irgendwie, Irgendwo, Irgendwann und Achselhaaren bald auf den 22. August zu sprechen, an dessen Morgen ja bekanntlich der Berliner Bürgermeister eine in der Königlich Preussischen Manufaktur handbemalte Gedenkkachel an der Fassade des Hauses Nummer 155 der Hauptstrasse in Schöneberg einweihen wird. Und ich bat Steve, mich dorthin zu begleiten. Ich versprach ihm, dass ich unseren Bürgermeister so weit bringen würde, ihm den Unterarm zu signieren.

Und Steve sagte: »I am considering it.«

Dazu hörten wir Eyes without a Face.

Bei den Taxlern drüben war die Lage unverändert. Und der Regen hörte und hörte einfach nicht auf.

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