»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

23.9.

Gestern früh, ich ging die Gormannstraße bergan, lag zwischen zwei am Rand geparkten Autos ein Blatt von einem Gummibaum. Seltsam. Ohne hochzusehen, ward’ dieses Blatt unwillkürlich als eines von einer Zimmerpflanze registriert. So, als hätte ich alle möglichen Blätter aller in dieser Gegend möglichen Bäume gespeichert, um ohne Ansehen der umliegenden Bäume feststellen zu können: Ah, ein exotisches Blatt, das nicht von einem der Bäume hier auf dem Garnisonsfriedhof stammt. Und trotzdem, auch wenn von vorneherein klar zu sein schien, dass dies Blatt nicht von einem Baum dort hinter der Friedhofsmauer gefallen war, ergab sich auch trotz seiner glänzend dunkelgrünen Farbe auf dem Asphalt gleichsam unwillkürlich ein Bild, das sagte: Herbst.

Schon am Sonntag, als ich mit meinem Besucher Joachim Lottmann am Wahlabend vor die Tür getreten war, um ihn zu verabschieden, hatte er mich am Ärmel berührt, um, nachdem er so um meine Aufmerksamkeit gebeten hatte, mit der Nasenspitze in Richtung der Bäume zu weisen. Ja, sagte ich. Ich rieche es auch. Ihn. Es riecht nach Herbst. Das ist er.

Kastanien als Vorboten. Eicheln und Bucheckern. Zehn Tage später, elf, spätestens nach zwei Wochen setzt die Blattfärbung ein. Wenn nun erst sämtliche Kakteen sämtliche ihrer Stacheln fallen ließen wie Weihnachtsbäume an Dreikönig – nicht auszudenken, die daraus sich ergebenden Zustände (die Fensterbänke der Schaufenster von Läden und Cafés von Mitte bis Neukölln würden zu Nadelkissen). Seit wann gibt es Trendpflanzen? Im Zuge jenes Phänomens, das ich, eingedenk des einzigen Solo-Hits des Schlagzeugers der Gruppe Spliff, als Herwigmittereggerianisierung im Journalismus bezeichnen will, »immer mehr hm, hm, hm«, wird auf den Wohnseiten und in den Stilteilen auch über den Trend zur Kaktee, zur Monstera, zum Ficus, zum Philodendron und zur Taro, zum – ich glaube, mit ihm fing es an, durch intensives Featuren im Wallpaper Magazine: Bogenhanf. Die exotische Pflanze, skulptural von ihrem Erscheinungsbild, wie eine Skulptur auch pflegeleicht, sie braucht nur gegossen und manchmal abgestaubt zu werden. Eine Pflanze wie die Monstera, wie ein Asparagus oder eben eine Kaktee, die ein grünes Ornament beisteuert zum Ensemble aus dänischen Mid-Century-Möbeln und -Lampen. Blätter einer Pflanze wie auf einem Druck von Matisse. Immergrüne Pflanzen. Ich kenne niemanden, der einen Bonsai besitzt. Einen Ahorn beispielsweise, mit winzlingshaft fingrigen Blättern, die sich im Herbst bananengelb und karminrot einfärben. Vor dem Fenster wären Eiben und drinnen dann Herbst.

Die Vögel jedenfalls drehen nun noch einmal ganz anders auf als im Frühjahr, als ich hierher gezogen bin. Bei Sonnenaufgang versammeln sie sich in den Bäumen hinter dem Laub und zwitschern durcheinander, als ob es um etwas ginge. Auf dem Nachbargrundstück gibt es einen, der seinen eintönigen Pfiff von weit unten herholt und dann in einem elastischen Bogen bis in den Himmel hinaufzieht. Ich habe keine Ahnung, worum es jetzt gerade geht, was der Vogelkalender zu feiern befiehlt. Ob sie sich bereits sammeln (W-Punkt K-Punkt) oder ob es der letzte Konvent ist, bevor sich die Schlafbäume selbst entkleiden. On verra.

22.9.

Golden sank die große Scheibe in den langen Waldsaum ein. Er nahm sie willig in sich auf (es blieb ihm auch gar nichts anderes übrig, als) und Mücken, vom Licht bestrahlt, tanzten vor mal hell, mal schattig baumelndem Lindenlaub.

Ich konnte meinen Blick kaum abwenden, musste aber, denn ich hatte kurz zuvor eine E-Mail von Joachim Lottmann erhalten. Aus Wien, doch es spielt bei E-Mails ja keine Rolle, von wo sie abgesandt wurden; dafür der Anhang: ein Scan des Artikels aus der Zeitschrift Wiener vom April 1989. Der lang angekündigte Verriss Martin Kippenbergers, aufgemacht in dem für diese Zeit typischen Stil mit kleinen grafischen Elementen in Pastellfarben, ansonsten aber genau so eigentlich, wie der Spiegel mittlerweile ausschaut: drei Seiten Text, dazu noch einige Fotos, auf denen »Der seltsame Herr Kippenberger«, so die Überschrift im wording dieser Ära, von Kopf bis Fuß in Normcore gekleidet auf den diversen schwarzen Ledersofas des Hotel Chelsea zu Köln abgebildet war.

Ich hatte es mir versagt, vor dem Abtippen auch nur eine Zeile des Textes zu lesen. Der Scan war so schwer lesbar, dass die für waahr entwickelte Erfassungssoftware keine Hilfe bieten konnte. Von daher, aber dem schaute ich freudig entgegen, war eine Nachtschicht angesagt (für meine Verhältnisse), denn der Text sollte, wie unseren Lesern versprochen, am Samstag online verfügbar sein.

Kurz vor Mitternacht klappte ich den Computer zu. Im Kasten sozusagen war ein grandioses, aufgrund seiner schonungslosen Härte über weite Stellen schockierendes Portrait des Künstlers. Vor allem, wenn die Reportage vom Sexualverhalten Martin Kippenbergers berichtet. Nichts davon klingt haarsträubend, weil sich alles darin Erwähnte zu mehr als einhundert Prozent mit dem deckt (sic), was mir seit meinem sechzehnten Lebensjahr von diversen Zeitzeugen über Martin Kippenberger erzählt wurde. Seit dieser Zeit besitze ich die Volksausgabe des Kippenbergerschen Œuvres, die damals bei Taschen erschienen war. Persönlich begegnet waren wir uns leider nie. Lottmann schafft es in diesem Text sogar, dass meine bis dahin schon seit jeher große Verehrung Kippenbergers als größtem Künstler der Achtzigerjahre, so wichtig wie Jeff Koons seinerzeit, nicht nur nicht beschädigt wurde angesichts all der grotesken, auch ekligen Details, die Lottmann montiert, sondern nach meiner Lektüre beinahe nur noch größer, ja: schärfer, aus klarereren Beweggründen motiviert dastand. Der Text hat mehrere völlig überraschend wirkende Gefühlsgelenke eingebaut, die es dem Leser erlauben, die verstrickte Persönlichkeit des Künstlers von allen Seiten her blitzartig ausgeleuchtet zu beschauen. Vor allem von unten. Aus einer demütigen Froschperspektive, die Lottmann als Berichterstatter des Wiener von Anfang an einzunehmen bereit sich findet, und zu der er, so viel sei verraten, in einem genialen Move am Ende wieder zurückfindet, obwohl er sich, aus Gründen der verbesserten Übersicht, kurz zuvor noch in einem an den Mystikern, vor allem halt an Johannes vom Kreuz, geschulten Schraubenstieg aufwärts befand.

Es handelt sich um seine beste Arbeit auf dem Feld des literarischen Journalismus, das steht für mich außer Frage (obwohl ich diesbezüglich noch längst nicht alles von ihm gelesen habe). Mit einem tief reichenden Gefühl der Befriedigung umgehend zu Bett.

21.9.

Mein Friseur im Salon Marwan hat einen goldenen Humor! Auf der Facebookseite des Salon Marwan gibt es seit kurzem ein Mosaik aus vier Bildern, da zeigt er, wie er aus einem full blown Afro eine für diesen Salon typische Brikettfrisur formt (Methode Buchsbaum). Darunter steht »Egal, was für Haare. Bei mir ist alles möglich«. Da hat er recht. Gestern habe ich mir dort zum ersten Mal seit Februar die Haare schneiden lassen von ihm, sonst durfte er immer nur an den Bart, und was soll ich sagen? Es war ihm eine gewisse Nervosität anzumerken. Nicht umsonst besteht das Logo des Salons aus zwei gekreuzten Rasiermessern, damit können die Jungs auch super umgehen — in einem Sinne von unblutig, aber der Rest, also soweit ich es bislang beurteilen konnte, wird dort mit elektrischen Scherblättern erledigt, von denen eine ganze Batterie auf dem Sims vor dem großen Spiegel bereitsteht, rötlich blinkend, um stets aufgeladen zuhanden zu sein. Mein seidig glänzendes, hasenzartes Haar allerdings darf nicht gestutzt werden, es will geschnitten werden (so ähnlich wurde im Manufactumkatalog einst die eineinhalb Meter lange Schneide des Brotmessers von Güde beworben: »Weil Brot geschnitten werden will, und nicht gerissen«).

Ich machte dann noch einen Umweg und besuchte Oliver in seiner Behausung. Die Putzfrau war gerade da, also lud er mich auf seinen Balkon auf einen Kaffee. Ich bewundere Oliver um seine Seelenruhe, mit der er es in seiner Wohnung aushält, während dort jemand für ihn putzt, ja, dass er währenddessen sogar noch Besuch empfängt — könnte ich nicht. Wenn Eric sich ankündigt, verlasse ich das Haus und komme erst wieder, wenn er garantiert längst fort ist. Mir wäre das so peinlich, anwesend zu sein, während jemand für mich etwas tut, das ich, genau genommen, auch selbst machen könnte. Wenn auch nicht so gut. Na ja, wo es schon einmal so war, wie es war, probierte ich einen der angebotenen Schokoladentrüffel. Die Sonne schien. Wir unterhielten uns über das Umsatzsteuersonderprüfungsamt, die Genialität von Max Küng und über Japan. Und darüber, dass die Hauptstraße noch immer Hauptstraße heißt, obwohl die Google-Lokatoren dort längst David-Bowie-Straße anzeigen. Beziehungsweise: dass es nur noch eine Frage der Zeit sein wird – wie so vieles, wie fast alles –, bis es keine Straßenschilder mehr geben wird, sondern bloß noch Lokatoren. Wer schaut denn da eigentlich noch hin? Und praktisch wäre es sozusagen obendrein, der Übersetzungsfunktion wegen. Beispielsweise in Japan. Vor allem aber in China.

Eigentlich hatte ich bloß noch Tintenpatronen kaufen wollen. Geriet dann aber kurz vor dem Abbiegen in die Akazienstraße in die Fänge eines Ladens namens Flying Tiger, den ich bis dato des tiffigen Krams vor seinen Türen wegen ignoriert hatte. Was ein kapitaler Fehler war, wie ich, angelockt von einer David-Shrigley-Sockenkollektion, umgehend feststellen musste. Ich leistete Abbitte in Form eines Megakaufs von etwa 1200 Artikeln nur nützlicher kleiner Dinge, die, wie ich erst beim in Tüten Verpacken feststellte, allesamt rosa waren. Ich habe nur wenige Kaufräusche erlebt in meinem Leben. Beinahe jeden davon habe ich hinterher schlimm bereut und war danach wieder für Jahre ein eher disziplinierter Typ. Aber Flying Tiger? Jederzeit wieder. Eventuell sogar schon morgen.

20.9.

Seit gestern ist auf mcsweeneys.net die Reviews of New Food online. Schon wieder ist ein Jahr vorüber. Die letzte Ausgabe war leider etwas schwach ausgefallen, ich hatte mir schon Sorgen gemacht, ob die Innovationskraft der amerikanischen Lebensmittelindustrie sich etwa erschöpft haben könnte, aber seit gestern ist alles wieder gut gemacht. Das Konzept läßt sich leider nicht auf den deutschsprachigen Raum übertragen, weil es hier viel zu wenige erfundene Nahrungsmittel gibt. Im ganzen letzten Jahr bin ich beim Einkaufen auf gerade mal zwei gestoßen: die Bärchenpärchen von Haribo und den isländischen Parajoghurt Skry, den es neu bei Aldi gibt, der aber genauso schmeckt wie extrem guter Joghurt, obwohl er wenig Fett und zigmal mehr Protein enthält als Joghurt. Die Bärchenpärchen wiederum sind halt umgepresste Gummibärchen, die in einer Hand in Hand einherschreitenden Pose aus der Tüte purzeln. Und wie schon bei den Gummibärchen selbst schmeckt mir ein Pärchen aus orangefarbenem und grünem Bärchen am Besten. Man kann sie auch an den einander umfasst haltenden Pfoten durchbeißen, dann hat man wieder zwei Einzelbären — also: Was soll’s? Marcel Makrele setzte gestern Nacht noch einen kritischen Tweet ab, demnach gibt es nun wohl Knoppers mit Erdbeergeschmack. Allerdings schmeckt das wohl übel bis überhaupt nicht.

Amerika hingegen: ein bodenloses Füllhorn, aus dem sich ein monsunhafter Segen erfundener Nahrungsmittel in die Regale ergießt. Schon in Italien macht das Einkaufen im Supermarkt ja viel mehr Spaß und selbst in Frankreich gibt es deutlich mehr Erfindungen als hier. Nicht allein, was die Produkte betrifft. In Cagnes-sur-Mer beispielsweise, nun wirklich ein Nest, gibt es einen dieser Supermärkte, in denen ausschließlich Tiefkühltruhen und -schränke aufgestellt sind. Alles tiefgefroren. Von diversen Zutaten, Fleisch, Fisch und Meeresfrüchten bis zu TV-Menüs mit drei Gängen. In diesen Frigos ist es gar nicht so kalt, wie man von außen durch die Scheibe betrachtet vermutet. Vor allem ist es da drinnen immer herrlich still. Geradezu weihevoll ist die Atmosphäre, in der die stets wenigen Kunden durch die Gänge an den Glastüren der Gefrierschränke entlang sich bewegen, um eine Auswahl zu treffen. Das hat vermutlich mit einer, vielleicht auch nur durch Fernsehkrimiszenen induzierten Erinnerung an Leichenschauhäuser zu tun. Möglicherweise drückt sich darin auch eine Respektsbezeugung aus, eine Form der Andacht im Angesicht des Gefrorenen. Ich kann mich jedenfalls an keine einzige unwürdige Begebenheit in einem Frigo erinnern. In Supermärkten hingegen sehr wohl. Teilweise ging es dort schlimm zu. Und es hatte nicht immer, aber sehr oft halt mit dem Verkauf von Alkoholika zu tun. Die gibt es im Frigo sozusagen naturgemäß nicht. In Cagnes-s/M findet sich vermutlich auch deswegen gleich nebenan eine Filiale des Weindiscounters.

In den Reviews of New Food 2016 wird ein neues Getränk von Starbucks besprochen, der sogenannte Pink Drink, den ich echt gerne probieren würde. Die Rezensentin findet ihn geschmacklich, vor allem auch angesichts seines hohen Verkaufspreises von vier Dollar, total enttäuschend, lobt ihn aber dennoch, weil er sich gut auf Fotos macht und von daher als something new to add to your narrative passabel wird. Der Rezension entnehme ich weiterhin, dass der Pink Drink eine Art Ergänzungsprodukt zu einem Snack bedeutet, den es bei Starbucks dort wohl schon seit Monaten gibt, nämlich dem Pink Starburst, von dem ich ebenfalls noch nie gehört hatte. Geschweige denn gekostet. Angesichts solcher fundierten Besprechungen erfundener Lebensmittel und insbesondere in Anbetracht der Tatsache, dass es in Deutschland nicht wenige Filialen von Starbucks gibt, in denen mir aber die wahren Köstlichkeiten vorenthalten werden, fühle ich mich mal wieder wie in einem Entwicklungsland festgehalten.

Die schönste Rezension könnte man allerdings auch hierzulande veröffentlichen: Kevin Daley testet den Yogi Woman’s Moon Cycle®Tea. Es gibt ja immer noch Männer, die vor dem Einsatz eines solchermaßen beschrifteten Teebeutels zurückschrecken würden. Nicht so Mister Daley! Und seine ersten Sätze leiten zumindest in meiner Phantasie hinüber zu einem Roman: »I remember the first time this forbidden potion touched my lips. My boss, Paula, was an older woman experiencing menstrual cramps and asked me to run an errand for her. She gave me a $20 bill and told me to go to Whole Foods, where I would find a box oftea for women. At first, I could not believe that gender binaries had seeped into tea production, but I kept my mouth shut«.

19.9.

Gestern Nachmittag, ich war gerade eingeschlafen, da klingelte überraschenderweise mein Telefon. Joachim Lottmann war am Apparat, anscheinend befand er sich bereits ganz in der Nähe. Ob ich ihn einlassen würde? Na, was für eine Frage!

Er war in seinem cremefarbenen Wartburg gekommen, ich wies ihm einen Parkplatz an. Wie immer war er von Kopf bis Fuß in Normcore gekleidet. Ich servierte einen Tee und ließ mir so ziemlich alles über den Wartburg erklären, ein nicht nur formschönes Auto, sondern eines mit interessanter Geschichte. Gar nicht so teuer, wenn man bedenkt, dass es als erhaltenswert historisches Fahrzeug angemeldet werden kann. Steuern und Versicherung fallen dann wohl jährlich lediglich nur noch mit einem zweistelligen Betrag zu Buche. Und betankt wird der Oldtimer mit Rapsöl (was die pyrotechnischen Nebel in meinen Hortensien erklärte). Na gut, aber ich brauche ja nun wirklich kein Auto.

Da ich keinen Fernseher besitze, ließ ich mir von meinem Besucher zeigen, wie wir die Wahlberichterstattung auf meinem Computer verfolgen konnten. Die ersten Hochrechnungen sahen bereits exakt so aus, wie ich gewettet hatte. Auf RBB lief eine rasant geschnittene Vorberichterstattung, für die mehrere Reporter an verschiedenen Stellen der Stadt abgefragt wurden. Vor dem Abgeordnetenhaus, die Kamera fuhr wie eine Zunge daran empor, war ein 30 Meter hoher, provisorischer Sendeturm errichtet worden.

Beim Umschalten lief im Stream der ARD noch eine Tierdokumentation. »Der Narkosepfeil sitzt, aber der Löwe will noch nicht einschlafen«.

Sehr viel später an diesem Abend, da war Lottmann längst abgedampft, unter anderem auch deshalb, weil die Wahlergebnisberichterstattung noch langweiliger sich gestaltet hatte, als der sogenannte Wahlkampf, geisterte eben dieser schlaflose Löwe noch einmal durch das erste Programm. Das war während dieser Gesprächsrunde mit Jakob Augstein, der eine gute Figur abgab und in angenehmster Kaviar-Gauche-Manier den Sachsen erklärte, wo der Bartel den Most holt. Das war auch nötig, denn besonders der Generalsekretär der CDU Sachsen gab dort eine traurige Figur ab. Geradezu schauderhaft und nicht nur verlogen, wahrscheinlich ist Michael Kretschmer schlicht und einfach dumm. Jedenfalls zeigte man einen Einspieler von den »Geschehnissen« in Bautzen, auf dem Platz, den der Oberbürgermeister »die Platte« nannte, und dort sah man ihn, also den Oberbürgermeister von Bautzen, im Dialog mit seinen Bürgern. Der Bürger, um den es ging, war allerdings bloß von hinten zu sehen. Nach allem, was ich erkennen konnte, hatte er eine schwarze Brille auf und blondes, kurz geschnittenes Haar. Er machte sich sozusagen Luft und zwar in der Form, dass er dem Oberbürgermeister eintrichterte, dass es, das Volk von Bautzen, sich damit abgefunden habe, dass in Bautzen Döner verkauft würde, und dass es eine Croisssanterie gibt. Aber dass er, der Oberbürgermeister, nun die Wilden aus den fernen Ländern bei ihnen wohnen ließe, das seien doch alles Kindersoldaten, die mit dem Speer auf Löwen loszugehen trainiert worden seien, das ginge einfach zu weit!!!!!!!!!!!!!!!!!

Vieles von diesem Unsinn wurde dem OB im gilfzenden Kreischton entgegengeschleudert. Doch der Oberbürgermeister blieb löwenhaft. In die Kameralichter blinzelnd, suchte er zu beschwichtigen: »Aber das war doch nicht ich, der die hierher geholt hat.«

Der Bürger: »Dann war’s deine Frau Merkel!«

Daraufhin schwieg der parteilose Oberbürgermeister. Wohl, weil ihm nichts einfiel. Die umstehenden Bürger von Bautzen reckten ihre Telefone, um zu filmen. Allseits Applaus.

18.9.

Geträumt, ich war ein Feldarbeiter eines Betriebes, in dem Marshmallows hergestellt wurden. Zusammen mit vielen anderen, die ich aber nie sah, musste ich die Eibischwurzeln zuerst suchen, dann ausgraben und zu einem Sammelplatz bringen. Der Eibisch wurde aber nicht im herkömmlichen Ackerbau gezogen, sondern in Geländen, die wie Wälder ohne Wege waren. Eigentlich waren es Wälder. Die Wurzeln waren hell und dick wie Rettiche. Die Lichtstimmung war rötlich wie kurz vor Sonnenuntergang. Der Waldboden war bedeckt mit Moos, aus dessen Kissen feine, goldene Angeln ragten, die am Ende einen kleinen roten Samen trugen. Dazwischen standen die Kanten feucht glänzender, grauer Steine.

Um sechs Uhr erwacht und am hellblauen Himmel ging ein rosa Streifen einmal quer über den Waldrand am gegenüberliegenden Ufer. Der Vollmond stand noch hoch am Himmel. Ein Martinshorn machte Lalülala und zeitgleich flog das kleine, aber superschnelle Polizeiboot durch den Bildausschnitt, den mir die beiden Bäume lassen, vorüber. Auf seinem Dach ein blitzend blaues Licht. Martinshorngeräusche und vorüberfliegendes Polizeiboot ergänzten sich zu einem neuen Bild, einem Eindruck, der sich nicht fotografisch festhalten, der sich nicht filmen ließe, nur beschreiben (als mündliche Erzählung oder in der Schrift).

Um sieben Uhr trafen dann die beiden Boote der Angler ein, wie an jedem Sonntag in diesem Sommer. Sie ankern ein paar Meter vor dem Steg und werfen ihre Sehnen aus. Es sind immer drei, verteilt auf zwei Boote. Ich habe sie oft beobachtet mit dem Teleskop. So auch heute. Sie fangen nie etwas, haben noch nie etwas gefangen, aber da bin ich so geduldig und beharrlich wie sie: An jedem Sonntag beobachte ich sie, die darauf warten, etwas zu fangen, und ich warte darauf, sie dabei beobachten zu können, wie sie etwas fangen, und obwohl sie bis heute nichts gefangen haben, werde ich sie weiterhin beobachten, ob sie nicht nächsten Sonntag vielleicht doch.

17.9.

Endlich weiß ich, was Luxus für mich bedeutet: dass im Garten ein Kastanienbaum steht. Er trägt zwar nicht annähernd so üppig, wie die anderen draußen, aber dafür bin ich der Einzige hier, der sammelt. Und ich habe es nicht weit. Morgens, noch bevor die Krähen sich aus ihren Schlafbäumen herablassen, gehe ich vor die Tür, und dann liegen da schon wieder ein paar neue Exemplare. Die Katze rührt sie nicht an. Für Füchse sind sie anscheinend auch nicht interessant und Wildschweine gibt es hier offenbar nicht (anders als drüben im Grunewald, wo sie sogar bejagt werden). Zur Zeit fallen die für mich weltschönsten Baumsamen noch in ihren stacheligen Verpackungen zu Boden. Teilweise erst ein wenig aufgesprengt, sodass ihr poliertes Holz aus den braun verfärbten Schalen gerade mal so hervorlugt. Wie lockend. Keine dabei wie eine andere. Vorgestern fand ich ein Doppelauge. Heute eine Konstellation wie eine Vulva.

Die Tiere waren unruhig am gestrigen Abend. Offenbar tragen sie doch einen feiner ausgebildeten Jahreskalender in sich als gedacht; einen, der ihnen mehr anzuzeigen hat, als die Paarungssaison und den nahenden Winter. Bei Sonnenuntergang verzogen sie sich an andere Plätze als sonst üblich. So als suchten sie Deckung. Das große Feuerwerk findet in jedem Jahr am zweiten Wochenende im September statt. Gut möglich, dass die Tiere davon derart traumatisiert wurden, dass sie die Vorzeichen lesen und ahnen, was Sache ist. Vielleicht lag es aber auch daran, dass bereits kurz vor Sonnenuntergang der Himmel voller Drohnen war. Brummend und raschelnd, noch lauter als Hornissen und Libellen. Vor allem mit jeweils zwei roten Glühaugen vorne und dazu noch zwei grüne am Hinterteil.

Die Schifffahrtsgesellschaft hatte sämtliche Schiffe mit Sonderbeleuchtungen dekoriert, die niedrigen Aussichtsboote aus den Siebzigern hatten Streifen aus Neon über die ganze Länge des Oberdecks, wie man sie von denen auf der Seine her kennt. Und auch die sogenannte Heiterkeit, mit der im Sommer der Seeheimer Kreis seine Spargelfahrt gefeiert hatte, lief wie ächzend aus, dabei geben ja all diese Schiffe gerade mal ein Brummen von sich, das allerdings in großer Zahl vervielfältigt, durch subaquatische Schallwellenmassage den Steg zum Vibrieren bringt.

Im Vergleich klitzekleine Polizeiboote, in der Dunkelheit blieben sie auf ihr bläuliches Blitzen reduziert, kreisten die leuchtenden Schiffe ein, die sich in einer Spiralformation zu einer Art Schneckennudel auf der Mitte des Sees, der ja gar kein See ist, sonder ein extrem breiter Fluß, der extrem langsam fließt, zu versammeln. Vom Yachtclub Nixe am anderen Ufer tönte Saxophonmusik. Am öffentlichen Steg nebenan drängten sich Zuschauer und Drohnenpiloten. Dann, es schallte mit Echo, zählte der Kapitän der Heiterkeit, deren nostalgisierendes Schaufelrad mit Glühbirnen dekoriert worden war, einen Countdown. Und aus der Mitte des Kreises aus leuchtenden Schiffen wurde von einem vergleichsweise Miniboot aus das Feuerwerk in den Nachthimmel geschossen. Ganz klassisch: zunächst die Fontänen, dann blaue Nadelkissen, Goldregen und Chrysanthemen, zum Abschluss eine Art Nuklearexplosion.

Traumhafte Bilder ergaben sich durch den Rauch, der sich über die Wasseroberfläche wabernd, in die erleuchteten Gärten ringsum verzog. Elastische Äste der Trauerweiden, die vom Nachtwind bewegt wurden, als sollten sie tanzen. Nebel der Pyrotechnik über den im Rasen eingelassenen Scheinwerfern. Eine lange tiefrote Spiegelung färbte die dunklen Wellen, sie kam direkt auf mich zu. Nightlife von Cyprien Gaillard en miniature.

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