»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

16.9.

Seltsam, wie ich die letzten Wochen über so gut wie gar nichts auf die Wettervorhersagen gegeben habe, aber als es dann hieß: »So jetzt am Freitag übernimmt die große Kaltfront«, war das plötzlich Wahrheit für mich. Das ist dieser Protestantismus, der, tief in mir verwurzelt, zu einer Demut führt à la: »Ist ja auch vernünftig, jetzt, konnte ja nicht ewig und drei Tage so weiter gehen«. Und tatsächlich zeigte sich heute früh beim Sonnenaufgang alles umher, besonders aber die Oberfläche des Sees, in rosa eingefärbt. Aber es wehte auch eine kühle Feuchtigkeit gegen meine Zehenspitzen durch das offene Fenster herein. Ein paar Tage noch, dann werde ich sie schließen müssen. Oder, wie ich es beim Studium der gesammelten Schriften von Marcel Makrele gelernt habe: »Endlich wieder im Pulli ins Bett – Herbst.«

Gestern Nachmittag habe ich mich von Timothy Taylor verabschiedet, es war seine letzte Schicht in dem kleinen Café und jetzt fliegt er zurück in sein Heimatland Neuseeland, um dort bis März zu überwintern. Seit sieben Jahren schon kommt er jeden März nach Deutschland, um hier Geld zu verdienen, das er dann den Winter über in Neuseeland und Australien ausgibt. Von seiner Umgebung dort weiß er erstaunlich wenig. Beispielsweise war er selbst noch nie im Süden Neuseelands, weiß aber zu berichten, dass es dort angeblich sehr schön sein soll. Insgesamt aber halt auch sehr langweilig, wenn man sich nicht brennend fürs Wandern oder für die Beobachtung von Vögeln interessiert. Er hat mir erzählt, dass es Quellen gibt, in der die ersten Siedler vor 200 Jahren festhielten, dass die Wälder und Berge und Wiesen Neuseelands derart dicht von Vögeln bewohnt waren, dass man den Krach der Millionen Vogelstimmen kaum aushalten konnte. Bis vor kurzem, also Timothy meinte, noch vor ein paar Jahren – ich nehme an: vor 20 Jahren, eher 30 – gab es auch noch eine Art Relikt aus der Saurierzeit, einen auf zwei Beinen gehenden Vogel, noch um einiges größer als ein Strauß, der soll richtig gefährlich gewesen sein für Leib und Leben der Menschen. Ich war noch nie dort. Und habe das auch nicht vor. Auch Australien nicht. Mir ist das einfach zu weit weg. Ich werde in diesem Winter auch nirgendwo anders hinfliegen. Ich will ein ganzes Jahr hier an diesem Ort erleben. Auch wenn mir die Leute hier in zunehmend schrillen Farben auszumalenderweise einzureden versuchen, wie unfassbar stalingradhaft unbarmherzig sich hier die Wintermonate am Ufer gestalten werden. Der See, so die Leute, wirkt sich dann aus wie ein gigantischer Kühlakku, der geradezu grimmig seine Kälte abstrahlt, die, so heißt es dann, durch sämtliche Ritzen und Löcher dringt; und gegen diese vom See erzeugte Sonderkälte hilft angeblich weder Fußbodenheizung, noch nicht einmal die guten Fenster wie ich sie hier habe.

Na ja. Ich werde es ja erleben. Wie lange werde ich noch mit dem Boot rausfahren können? Sechs Wochen vielleicht, sieben? Gestern Abend, auf dem Weg zum Nudelessen, hing der Vollmond riesig und hell zwischen den Bäumen. So klar war die Luft immerhin schon. Oder noch.

15.9.

Das Verzehren von Schwänen verbietet sich von selbst, sollte man meinen – warum eigentlich? Angeblich wurde in sehr viel früheren Zeiten zu festlichen Anlässen auch mal ein Schwan serviert. Bei Alexander Demandt wird meiner Erinnerung nach eine Quelle erwähnt, wonach bei einem Bankett ein gebratener (oder gesottener?) Schwan unter einer Rekonstruktion seines Federkleides aufgetragen wurde. Ich bin mir nicht sicher, ob es sich dabei nicht um einen kulinarischen Mythos handelt, vergleichbar in etwa mit dem angeblich ägyptischen Hochzeitsmahl, für das ein Huhn, das in einem Schwein steckt, das in ein Kalb eingenäht wurde, im Leib eines Kamels gegrillt worden sein sollte. Worauf gegrillt frage ich mich; worin? In einem Erdloch?

Unter den Foristen gibt es freilich ein paar Angeber, die von sich behaupten, schon einmal Schwan probiert zu haben. Die tasting notes sind leider annähernd wortgleich mit diesbezüglichen Anmerkungen auf Wikipedia und ähnlich frei zugänglichen Quellen im Internet: Fischig und tranig soll die Giraffe der langsamen Gewässer wohl schmecken. Na ja. Die Angeberei ist in einigen Fällen leicht zu enthüllen, beispielsweise wenn ein Forist behauptet, der von ihm erlegte Schwan habe beinahe 100 Kilo auf die Waage gebracht.

Seltsam, dass niemand vor dem Verzehr der lieben Hummer zurückschreckt. Die sehen ja ebenfalls sehr schön aus, vor allem auch farblich, und sie leben, wie Schwäne, monogam. Ob es wohl daran liegt, dass der schwarze Schwan als Trauerschwan bezeichnet wird? Vielleicht glaubte man ja zu früheren Zeiten, bei einem Schwan mit schwarzem Gefieder handele es sich um ein verwittwetes Tier? Als ich vor ein paar Jahren mit Oliver und Ingo in der Uckermark war, um Botho Strauß zu besuchen, sahen wir in einem unweit des Strauß’schen Eigenheims gelegenen Weiher, inmitten der dort auf anheimelnde Weise geschwungenen Moränenlandschaft, einen schwarzen und einen weißen Schwan, die auf dem von schmalen Bäumen umgebenen Gewässer verharrten, um ein Spiegelbild abzugeben wie gemalt.

Mir kommt es hier auch immer so vor, als ob die anderen Wasservögel verstummten, sobald die Flotte der Schwäne in den kleinen Hafen einfährt. So, als wären Tiere zu etwas wie Ehrfurcht fähig. Wahrscheinlich ist es aber halt Angst. Enten schlafen ja die meiste Zeit oder sind anders faul, Blässhühner verbreiten von früh bis spät Hektik und sehen auch eher lustig aus als elegant, wenn sie etwas Essbares unter Wasser entdeckt haben. Um unterzutauchen, müssen sie sich mit ihren appetitlichen Großfüßen erst etwas erheben, um sich dann mit einer Art Purzelbaum vornüber unter die Wasseroberfläche katapultieren zu können. Das liegt wohl an der Luftigkeit ihres Gefieders, das, anders als bei den Enten, nicht eng am Körper anliegt, um bei relativer Magerkeit und extrem großen Füßen den Schwimmkörper sozusagen zu verbreitern. Durch das kopfsprunghafte Eintauchen wird die zwischen den Federn gehaltene Luft aus dem Gefieder herausgepresst, und das Huhn, das ja eigentlich eine Ralle ist, taucht verschlankt hinunter. Um wie die Enten lässig mal hier, mal dorthin einzuschnäbeln, dafür ist der Hals des Blässhuhns viel zu kurz. Und bedingt durch seine hektische Natur, verbraucht es halt auch viel mehr Kalorien als eine Ente, weswegen es sehr oft und auf die beschriebene, kalorienzehrende Weise nach Essbarem tauchen muss. Ein Teufelskreis!

Schwäne sind anscheinend sogar sesshaft und verwenden dasselbe Nest immer wieder. Bis dass der Tod sie scheidet. Mein Vater erzählte immer die Geschichte von einem grässlichen Nachkriegswinter in Heilbronn, als ein Schwanenwürger dort sein Unwesen trieb. Und wie sie als Kinder immer wieder des Morgens tote Schwäne am Ufer des Sees fanden, denen der Mörder die Hälse verknotet hatte. Ich habe damals schon auch gefragt, ob man Schwäne denn nicht essen könne. Aber wenn die selbst im Nachkriegswinter keiner wollte?

14.9.

Das Federvieh rupfen, solange es noch warm ist. So lautet einstimmig der Rat der Foristen. Sollte auf dem Weg in die Küche bereits die Leichenstarre eingetreten sein (bei Tieren geht das aufgrund ihres geringen Gewichtes wohl deutlich schneller als beim Menschen), hilft ein Trick: die Stockente in Lagen von Seidenpapier einwickeln und bei mittlerer Temperatur des Eisens bügeln. Ein Tipp, den ich mir leicht merken kann. Schwieriger wäre es schon, ihn wieder zu vergessen.

Was die Zubereitung der Ente anbetrifft, interessiert mich die klassische Geschmacksrichtung à l’orange. Allerdings nicht auf die klassische Weise. Vor Jahren hatte mir Hervé This in seinem Pariser Institut seine modifizierte Version vorgeführt. Anstatt die Entenbrust in einem mit Orangenlikör und reduziertem Orangensaft aromatisierten Sud garzuziehen, injizierte er den Cointreau mit einer Diabetikerspritze direkt in das rohe Fleisch der Brust, garte es dann auf den Punkt in einem Mikrowellenherd, briet die Haut der Entenbrust in einer Pfanne knusprig und überzog das fertig gegarte Teil dann lediglich mit der vorbereiteten Sauce. Das Ergebnis war perfekt in Zartheit, Knusprigkeit und so weiter. This hatte den klassischen Prozess analysiert, dessen einzelne Komponenten entzerrt, von einander entkoppelt und in einer neuen Reihenfolge angeordnet. Dennoch erhielt er am Ende dasselbe Gericht.

All dies besprach ich nicht mit Anne, aber es ging mir dabei durch den Kopf, während wir uns gegenüber am Schreibtisch in der Manufaktur waahr saßen und mit unseren schwarzen Filzern auf den schönen gelben Karten herumquietschten, bis alle fertig adressiert und frankiert waren. Bald wurde es so heiß, dass ich beim Gehen tatsächlich das Gefühl hatte, meine Schuhsohlen würden nun mit dem weichen Asphalt verschmelzen (zuvor dachte ich noch kurz, es wäre vielleicht ein Kaugummi, in den ich hineingetreten war). Aber am Abend lag das vorletzte Licht dann gelb und schräg auf dem Rasen, ein untrügliches Zeichen. Und auf dem Heimweg vom Schwimmen fand ich die erste Kastanienkugel, ihre Hülle schon dunkelbraun. Ich zog die stachligen Ecken beiseite, sie lösten sich leicht und darunter lockte, noch haselnusshell und appetitlich poliert: das kleine runde Möbelstück. Ein paar Schritte weiter dann noch eine. Es geht wieder los.

13.9.

Im Schatten der roten Markise saß ich vor Markus Schädels Tagescafé und studierte die Jagdforen im Internet, denn auch Markus hatte leider keinen Schimmer, ob Blässhühner überhaupt essbar sind. Die Jäger waren einer Meinung: Es handelt sich um eine Köstlichkeit. Einige von ihnen gerieten bei ihren Erinnerungen an den Genuss des, wie es im Jägerlatein offenbar genannt wird, »Kleinen Schwarzen« sogar ins Schwärmen. Diese Jagdforen werden ja überwiegend aus dem Sauerland bestückt, wo es, soweit ich weiß, gar nicht mal so viele Seen gibt. Dafür regnet es aber halt viel, und vielleicht pachten diese Sauerländer auch Jagden in anderen Bundesländern, um zur Abwechslung mal etwas anderes vor ihre sogenannten Flinten zu bekommen als immer bloß Hasen, Rehe, Wildschweine et cetera.

Be-, nicht etwa gejagt wird nämlich, das lernte ich durch meine faszinierende Lektüre, während ich, nach monatelanger Abstinenz nun leider wieder voll auf Forum war, alles. Und selbst, was nicht von eig’ner Hand erschossen, wird dennoch mit nach Hause getragen: In einem Thread ging es tatsächlich um, egal ob absicht-, oder versehentlich, überfahr’ne Tiere und ob man die noch essen könne. Antworten, zumeist: ja.

Was aber die Zubereitung anbetrifft, so hält man es in der Jagdgemeinde konservativ bis schematisch. Eine Art Regel scheint darin zu bestehen, dass sämtliches draußen von eig’ner Hand Aufgeklaubtes, ob nun überfahren oder erschossen, zunächst in Buttermilch eingelegt wird. Dann mit Wachholderbeeren, Lorbeerblättern und Rotwein Punktpunktpunkt

No offense, schon gar nicht unbewaffnet, aber so lässt sich alles essen, meine lieben Hubertusjünger! Wenn aber das Fleisch des Blässhuhns tatsächlich einen fischigen Hautgout hat, wie es interessanterweise ausschließlich von Foristinnen bemängelt wird, dann eignet es sich wohl bloß noch für ein kurzgebratenes Wokgericht. Die abnormal großen Füße deuten ja bereits in die Richtung asiatischer Küche. Abgetrennt und ein paar Stunden in stark gesalzenem Eiswasser eingelegt, dann mit scharf gewürzten Ponzu-Flocken paniert, würden die gut als Knabberei zum Apéritiv funktionieren. Der freilich bei Sonnenuntergang am Steg serviert werden wird.

12.9.

Am Morgen saß ich vor dem Café und las in der Sonntagszeitung ein Portrait des französischen Gewerkschaftsführers. Sein Gesicht war groß vor einem strahlend blauen Hintergrund abgebildet. Mit einem Mal fand ich mich umringt von jungen Männern, die sich im Café mit Energydrinks versorgt hatten. Sie deuteten über meine Schulter hinweg auf das Foto in der Zeitung und skandierten den Namen Abdullah Öcalans.

Später dann, auf dem Balkon, ließ ich mir das Haar vom Abendwind trocknen. Die Sonne ging unter, ein großer Punkt, wie ausgestanzt aus einem Grau, so licht, wie Dieter Rams es gerne sah und sieht. Ich hielt meinen Blick darauf, so entstanden durch Blendung zwei dunkle Flecken oberhalb des orangefarbenen Punktes, der diesen violetten Flecken zu einer Nase wurde. Der Waldrand stieg dem Gesicht entgegen, die Helligkeit der Sonne nahm dadurch ab, ihre Färbung schien sich einzudunkeln, so auch das Grau des Himmels über ihr und kurz vor ihrem Verschwinden, sie war an ihrem unteren Ende nur noch halb, erschienen jetzt, sie waren zuvor ausgeblendet, die Wolken, wie verschwommen, wie mit Rauch gemalt, es zeigten sich Strukturen, die, so lange die Sonne noch mit ganzer Kraft die Szenerie des eigenen Untergangs ausgeleuchtet hatte, in dem breiten Grau wie Zaubertinte eingetrocknet, die auf diesen Moment des Einbruchs der Dämmerung schlafend wie gewartet hatten.

Hässlich durcheinanderschreiend lösten sich die Krähen aus dem Wipfel des höchsten Baums am Ufer, dessen starke Äste dadurch in Bewegung kamen. Nach einem langen Tag des Streitens und des Klapperns, des Butterbrotrindenwegtragens und Muschelnaufhackens und Eichelnußknackens und Aufeinandereinhackens flogen sie nun einigermaßen geordnet, dabei aber weiterhin vor sich hinschreiend, wie ein Schwarm in das vergehende Licht.

Falls alles schiefgeht, hatte ich mir am Nachmittag noch überlegt, eröffne ich in meiner Küche ein extrem teures, aber extrem beliebtes Restaurant für ultraorthodox regionale Küche. Also eines, das selbst dem Nobelhart & Schmutzig, das sogar dem Fäviken Magasinet und Magnus Nilsson das Fürchten lehren wird. An heißen Tagen wie diesen sind die Stockenten und Blässhühner träge und dümpeln kraftlos nahe am Steg vorbei. Mit gezielten Kopfsprüngen, so dachte ich, müsste es mir möglich sein, einzelne davon zu ergreifen und noch im Wasser zu erdrosseln. Wie man Geflügel abhängt, rupft und zubereitet, hatte ich einst von Janosch von Beöthy gelernt. Mitten in der Nacht war ich auf seinem unbeleuchteten Gehöft etwas außerhalb der Samtgemeinde von Engelshoff am Arsch der Welt eingetroffen. Von hier aus belieferte er in der ungefähren Nachfolge Archibald Tuttles (ideologisch gesehen), die deutschen Großköche mit seinem Geflügel. In einer spiegelnd mit Stahl ausgekleideten Kammer hingen die wie grün und blau geschlagenen Fasane. Es stapelten sich die Gänse, denen dünne Fäden Blut aus den Schnäbeln rannen, so, als trielten sie schlafenderweise auf ein Kopfkissen (doch das war der daunenweiche Hinterleib eines Artgenossen). In seiner Küche war es warm, ich hatte ihn kurz vor dem Martinstag besucht. Es handelte sich um eine krumm auseinandergefallene SieMatic-Zeile mit grünen Fronten. Noch nicht einmal ein Gasherd. Emaillierte Töpfe mit Blumenmuster. Ich war underwhelmed.

»Hier hat jeder schon gekocht«, sagte Janosch von Beöthy, »Siebeck, Witzigmann, Wohlfarth, Dollase, Ducasse. Alle.«

11.9.

Große Sorge um Puku. Wie es heißt: Über Nacht ist der Account des kleinen Hasen von Twitter verschwunden. Spurlos, so als hätte es ihn nie gegeben. Ich frage mich natürlich, ob es, wie in dem kurz zuvor veröffentlichten Brief an ihre Follower seine Besitzerin war, die, den Auseinandersetzungen mit dem Wuthasen leid geworden, sich zu dieser Maßnahme entschlossen haben musste, um Schlimmeres zu verhindern, oder ob, schließlich trägt sich die Geschichte in Japan zu, womöglich noch etwas drastischeres geschehen sein mag. Beispielsweise, dass der vom Wuthasen insinuierte Ehrverlust von ihr, durchaus auch auf Puku bezogen, als so schlimm empfunden worden war, dass sie beispielsweise Autoabgase in Pukus Käfig geleitet hat, um ihm und sich selbst das Leben zu nehmen. Oder oder oder.

Der zeitliche Zusammenhang wird Zufall sein. Dennoch werde ich von einem Schuldgefühl beschlichen. Im Archiv befindet sich ein Exemplar der Zeitschrift Meine Schuld aus dem Martin Kelter Verlag. Und tatsächlich gibt es in dieser dritten Ausgabe aus dem Jahr 2016 eine Geschichte mit dem Titel Internet Blog – Ich habe meine Kinder bloßgestellt. Aus der Ichperspektive erzählt Grit M. (43), eine alleinerziehende Mutter aus einer Zeit in ihrem Leben, in der sie ein Blog schrieb, um ihr Schicksal mit anderen Müttern teilen zu können: »Meistens kam schon nach kurzer Zeit, nachdem ich meinen Tagebucheintrag ins Internet gestellt hatte, eine Antwort. Die Abendstunden waren Schreib- und Lesezeit unter Müttern. Dann hatten wir endlich mal Zeit für uns. Nur allzu gern las ich die Kommentare.« Tja, aber leider bleibt es nicht bei den wohlmeinenden Kommentaren ihrer Internetfreundinnen. Schon bald kommt es zu einem ernsthaften Zerwürfnis mit ihrer pubertierenden Tochter Sina: Deren Schulkameradinnen haben das Blog entdeckt und mobben das Mädchen mit den darin veröffentlichten Details aus dem Familienleben. Gerade als es der bloggenden Mutter gelungen ist, das Verhältnis zu ihrer Tochter durch einen Shoppingexzess (»›Wo fangen wir an?‹, fragte ich betont fröhlich und knuffte sie in die Seite. ›In den Schuhgeschäften? Oder nehmen wir lieber erst die Hosen und T-Shirts aufs Korn?‹«) zu normalisieren, dreht sich das Geschütz des Cybermobbings und nimmt ihren kleinen Sohn Torben aufs Korn. Wie am sprichwörtlichen Boden zerstört, kehrt der aus dem Fußballtraining zurück. Auch dort kennen die Kameraden nun das Blog und zitieren nach Gusto: »›Mama, ich bin kein kleiner Racker!‹«.

Irgendwann droht Sina mit Selbstmord. Grit M. gelingt es aber dennoch, die Katastrophe abzuwenden. Leider auf Kosten ihrer schreibenden Existenz: »Ich habe nach dem Löschen meines Tagebuchs auch noch einigen anderen Müttern im Internet geraten, sorgsamer mit ihren persönlichen Erlebnissen umzugehen. Ich kann nur allen Müttern raten: Schreiben Sie lieber nichts über ihre Kinder im Internet! Egal, was Sie schreiben oder welche Fotos Sie dort posten: Sie werden es bestimmt irgendwann bereuen. Auch wenn Sie glauben, dass niemand Sie erkennen wird, weil Sie ja einen anderen Namen nennen: Das kann trotzdem in die Hose gehen.«

Zu Pukus Namen: Puku ist ein japanisches Zahlwort. In der japanischen Sprache werden alle Dinge a priori als plural behandelt. Handlungen und Ereignisse werden in dieser Hinsicht ebenfalls wie Dinge behandelt. Um eine zwingend erforderliche, präzisierende Stückzahl angeben zu können, muss zwischen dem Zahlenwert und dem Objekt ein Zahlwort geschaltet werden. Von diesen Zahlwörtern gibt es ziemlich viele, sie sind nach Sachgruppen geordnet. Beispielsweise bezeichnet ぽん (Pon) die Anzahl langer, dünner Dinge wie Eisenbahnlinien, Telefonverbindungen, Bleistifte, Krawatten und Filme. Puku ist das Zahlwort für angenehme Pausen. Mit ぷく (Puku) können die Züge aus einer Zigarette, die Löffelvoll des Matchapulvers, aber auch Nickerchen gezählt werden. Vermutlich wird so die Funktion eines Hasenaccounts in der japanischen Gesellschaft etwas verständlicher gemacht: Auf langen U-Bahnfahrten, beim Arbeiten bis zum 過労死 schaut man beim kleinen Hasen Puku vorbei, um sich an dessen schönem und herrlicherweise völlig stressfreiem Leben zu laben.

Schaute, wie es ja leider heißen muss.

10.9.

Seitdem es immer früher dunkel wird, könnte ich gut auch immer früher schon ins Bett. Gerade wenn es, wie gestern, noch einen schönen Sonnenuntergang gab (ein himbeerfarbener Streifen mit einem großen, orangefarbenen Punkt in der Mitte, wie eine Infrarotaufnahme der japanischen Nationalflagge), habe ich eigentlich genug gesehen und meine Augendeckel zeigen sich bereit zum Schließen.

Nun musste ich gegen zehn noch einmal in die Innenstadt, um die Wiedereröffnung der Schinkel-Klause zu besuchen – ein Fest, dessen Ausmaße von Jan als »epochal« vermutet worden waren. Auf dem Bahnsteig wurde ich von zwei eleganten Herren aus Indien angesprochen. Derzeit finden andauernd unangekündigte Gleisänderungen statt, die Fahrgäste müssen reflexartig auf die plötzlich umschnappenden Anzeigetafeln reagieren können, um die irgendwo außer der Reihe ein- und rasch wieder ausfahrenden Züge nicht zu verpassen, oder, beinahe noch fataler: zu verwechseln. (Dann kann es passieren, dass man in Oranienburg landet; was ich einem Inder nicht unbedingt anraten kann. The World’s Most Dangerous Places aus dem Verlag Collins übrigens auch nicht. Dort rangiert Oranienburg auf Platz acht zwischen Kolumbien und Sierra Leone.)

Die Herren waren auf dem Weg zum Westkreuz, vermutlich wollten sie ins Artemis, ich bot Ihnen an, mich zu begleiten (also in meine Bahn, denn die hielte dort U-Punkt A-Punkt). Auf der Fahrt erzählte mir der eine von ihnen von seinen Geschäftsreisen und stellte dabei auch mir recht viele Fragen. Aufgrund meines mimetischen Defekts antworte ich Personen, die eine Sprache mit Akzent sprechen, unwillkürlich ebenfalls mit diesem Akzent, also unterhielt ich mich mit dem Mitreisenden mit einem auch auf diese Weise, als ob ich unter meiner Zunge eine Murmel gefangen hielte.

Woraufhin er mich freundlich anlächelte, um mir ein Kompliment zu machen. Er fragte mich zunächst, woher ich stamme. Ich wies aus dem Abteilfenster, vor dem, durch die Dunkelheit unsichtbar gemacht, der Grunewald, zumindest Teile davon, vorüberflog.

»You speak very good English. Very good pronouncation.«

»That’s our schooling system. And of course MTV.«

Er schüttelte den Kopf. Ich konnte mich gerade noch beherrschen. Das Westkreuz war erreicht. Ich wies die beiden darauf hin. Nun wurde mir erklärt, dass sie eigentlich nach Charlottenburg wollten. Auch das war möglich mit dieser Linie. Am Savignyplatz verabschiedeten wir uns.

Die Eröffnungsfeier fiel dagegen etwas ab, aber gut: Es handelte sich ja um verschiedene Dinge. Ich interessiere mich für Räume weniger als für Pflanzen oder Tiere. Das geht auch Katharina Koppenwallner so, erzählte sie mir jedenfalls gestern, als ich mich verabschiedete. Eine Art Höhepunkt bestand im Auftritt des Ehepaares Grässlin, mit deren Kommen ich nicht gerechnet hatte. Und gerade jetzt, wo ich mich, bedingt durch das Manuskript von Joachim Lottmann, doch etwas intensiver mit Martin Kippenberger beschäftigt hatte. Sehr schön, Herrn Grässlin vorgestellt zu werden. Er sprach auch mit interessantem Akzent, aber unser kleines Gespräch währte nicht lange genug, dass ich angesteckt wurde. Dazu war es schlicht auch zu laut. Und der arme Herr Grässlin trug Hörgerät (ich stelle mir, vermutlich irrigerweise, immer vor, dass ein Hörgerät wie ein Verstärker wirkt, und seinen Träger alles doppelt und dreifach so laut hören macht wie unter Folter – Hörgerät kommt für mich wirklich niemals in die Tüte!!!). Die Musik, die in dem achteckigen, bis auf eine Bar vollkommen leer geräumten Raum gespielt wurde, sollte von ein paar elastisch gekleideten Tänzern konkret in Bewegungen umgesetzt werden. Da hätte man vielleicht stundenlang zugucken können, aber dazu war es einfach auch zu stickig, weil die Fenster nicht geöffnet werden konnten. Selbst als sie geöffnet wurden, kam es zu weiteren Anfällen von Schwindel und Schwäche.

All das spielte sich innerhalb einer Stunde ab. Ich unterhielt mich ausführlich mit Alexander Schröder über maritime Themen und nahm seinen Rat, meine Haare mit Heilerde zu waschen (»weniger aggressiv«), gerne an. Dann fuhr ich wieder nach Hause. In der S-Bahn saß mir dieses Mal ein eigentlich nett aussehendes Paar in meinem Alter gegenüber. Leider erzählte der Mann ihr dann stationenlang die Handlung von Blade Runner nach, obwohl sie ihn gleich zu Anfang daran erinnert hatte, dass sie sich bekanntlich nicht für sogenannten Science-Fiction interessiert. Worauf er, wie kann man so sein!, andererseits hatte er Recht, sagte: »Komm, der spielt im Jahr 2019, das ist gar nicht mehr lange hin.«

Na gut. Ich war jedenfalls froh, als ich auf meinem Balkon angelangt war. Der Garten lag im Dunkeln, der See beeindruckte durch Stillhalten. Dann sprangen die Scheinwerfer an, und eine Füchsin oder ein Fuchs betrat tänzelnd die feuchte Wiese. Die veranstalten hier derzeit ihre allnächtlichen Paarungsspiele. Säugetiere tragen länger als Vögel. Die sind erst wieder im Frühjahr dran.

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