»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

24.10.

Vor dem Easy Rider trafen sich gestern noch einmal die Stammgäste. Unter dem Plexiglas des Bezahltellers war eine Fotografie eingelegt, die den Imbiß an einem Wintermorgen zeigte: die Luke hochgeklappt, der Boden ringsum weiß, die Bäume kahl. Damals, orangefarbene Zahlen eines Datums in den neunziger Jahren sind eingeblendet, war der Kiosk noch in Rot und Blau lackiert. Eine zweite, darunter liegende Aufnahme stammt aus dem zurückliegenden Sommer. Der Wirt mit einem in schwarz-rot-gold gestreiften Schaumgummihut auf, beide Hände in grotesken Handschuhen, anscheinend tanzend vor dem Kiosk; muss am frühen Abend aufgenommen worden sein, das Bild hat einen Blaustich, die Front des Kiosks leuchtet zitronengelb.

Der Wirt lässt den Sommer Revue passieren (und zwar Woche für Woche anhand seines Kassenbuches): insgesamt kein hervorragender Sommer, aber in der Bilanz doch solide. Ein Paar, beide mit Schal und Mütze, ständern unschlüssig vor der Luke herum, um schließlich zwei Magnum zu bestellen, »eins klassisch, eins mit Mandel«. Die Gefriertruhe ist beinahe ausgeräumt, was dem Wirt Gelegenheit gibt, eine seiner besseren Nummern aufzuführen: Von einem täuschend echten, unendlich lange verhallenden Schreckensschrei begleitet, stürzt er in die unendlichen Tiefe des Innenraums der eiskalten Truhe ab, findet aber im letzten Augenblick noch einen Halt an deren mit Eis verkrusteten Steilwänden und arbeitet sich scharrend und schnaufend ans Licht zurück. Die beiden Stieleise an den Verpackungsenden zwischen die Zähne geklemmt: voilá. Der Mann bedankt sich, legt Geld hin, verteilt das Eis und bestellt dann noch zwei stille Wasser zum Mitnehmen. Diese Bestellung sorgt nach dem Abgang des Paares natürlich für einigen Gesprächsstoff: Wozu das stille Wasser? Was ist das für eine Diät? Was läuft bei denen et cetera. Direkte Überleitung, thematisch, zum Wesen der Frau. Der Wirt, nun bis April mehr oder weniger mit Freizeit gesegnet, wie er findet (am Easy Rider steht in Türkis auf die gelben Bretter handgepinselt »Saisonimbiß seit 1960 — geöffnet bei Sonnenschein von April bis Oktober«), wird noch an demselben Abend an die Nordsee abreisen. Wohin dort genau, weiß er nicht. Bei der Erholungsreise handelt es sich um ein Geschenk seiner Frau. Ansonsten ging es nach dem Saisonende immer nach Thailand. Aber in diesem Jahr war ihr das wohl – politisch – zu heiß. Ausgerechnet nach dem Sommer, in dem ihm der Buddha gestohlen wurde! An dessen Stelle steht vor dem vierarmigen Leuchter seit kurzem das Modell einer Windmühle.

Aber ausgerechnet die Nordsee — der Wirt hadert mit seinem Schicksal. Den ganzen Sommer über hat er den Sonnenschein zwar sehen können, war aber in seiner Holzschachtel gefangen (der Wirt kennt Rob Brydon nicht). Dies Foto, das ihn mit den Handschuhen unter dem Schaumgummihut zeigt, ist in einer seiner seltenen Verschnaufpausen entstanden. Der Laserpointer, der an der oberen Innenkante der Luke montiert ist, streut abwechselnd rote, dann wieder grüne Punkte auf den Tresen. Der Wirt macht einen seiner ultraklassischen Witze. Die Querflöte hat übrigens auch noch niemand abgeholt.

23.10.

Bei bestem Herbstwetter gestern noch die vorletzte Ausfahrt mit Ilse. Seit der Generalüberholung des Motors durch Meister Müller ist das die reinste Freude (die neue Wasserpumpe produziert einen kräftigen, klaren Strahl), und die Gärten an den Ufern des Griebnitzkanals zeigen sich kurz vor dem Big Abwurf sämtlichen Laubes als ein einziges Megapuzzlemotiv. Ich will gleich vor Sonnenaufgang an diese Stelle am Stölpchensee steuern, wo es sich, kurz vor der Brücke, angeblich noch zu angeln lohnt. Ungefähr von dort aus wurde um Mitternacht ein Feuerwerk veranstaltet, das ich zwar hören, aber nur sehr schwach sehen konnte. Rötliches Blitzen, unscharf hinter einer dichten Nebelwand. Im Sommer war ich dort mit dem Fahrrad unterwegs gewesen. Hinter den Gleisen führen unmarkierte Wege in ein bald unübersichtliches Gebiet im Wald, wo ein paar Minuten hinter einem Fabrikverkauf des klobigen Geschirrs der Nazischickse Bollhagen offenbar Gesetzlose hausen (in zusammengefallenen Häusern und aneinandergeschobenen Gartenhütten). Ein schmaler Waldweg führte plötzlich steil um eine Kurve und an deren Ende standen zwei Männer und eine Frau, die mit einer Motorsäge damit beschäftigt waren, Stämme quer über den Weg fallen zu lassen. Als Barrikade. Sie machten abwehrend rudernde Gesten mit den Armen. Mit einem Mal war es still geworden, bis auf die Vögel. Ich verblieb auf Abstand und kehrte um.

Angeln gilt, völlig zu Recht übrigens, als vollkommen langweilig. Es ist sogar schade um den langen Moment des Nichtstunmüssens und des reinen Schauens, sollte tatsächlich ein Fisch anbeißen. In der Zeit davor geht ein allmähliches Verschmelzen mit dem umgebenden Naturbild vor sich, das durch die dann nötigen, vergleichsweise hektischen Tätigkeiten innerhalb eines Augenblicks zerstört wird und es dementsprechend lange braucht, bis sich sozusagen die Wogen wieder geglättet haben. Um diese Langeweile gut aushalten zu können, bereite ich mir vorher eine größere Menge Proviant zu. Auf der völlig neu gestalteten Website der Wurstfabrik Rügenwalder Mühle gibt es seit neuestem eine ästhetisch zwischen Barbara und Nido angesiedelte Rezeptecke zum Thema lunch prepping, was laut Redaktion der Mühlentaler Rüge »ein Trend ist, der in den USA so populär ist, dass die Fotos davon wohl bald das Internet verstopfen. Dabei heißt meal prep eigentlich nur, Mahlzeiten (z. B. das Mittagessen, engl. lunch) durchzuplanen und vorzubereiten. Früher ging es eher darum, zeitsparend vorzukochen, Geld zu sparen oder die Einkäufe zu kontrollieren.

Beim heutigen Lunch Prep könnte man manchmal fast den Eindruck gewinnen, es ginge darum, den Kollegen zu zeigen, wie sehr man auf seine Ernährung achtet und wie schön man buntes Gemüse arrangieren kann. Das führt so mancher Lunch Prepper dann auch beeindruckend auf Instagram vor.

Vor allem Sportler und Menschen mit speziellen Diäten preppen eigentlich schon immer — denn es kann schwer werden, zwischendurch mal eben etwas zu finden, was zum strikten Ernährungsplan oder zur Gluten-Unverträglichkeit passt. Doch auch ohne strenge Diät kann Lunch Prep superlecker sein und ganz einfach in den Tagesablauf eingebunden werden.«

Empfohlen werden unter anderem sogenannte Mini-Muffuletta mit vegetarischer Mühlen-Salami — wobei das Kunstwort Muffuletta eine Muffinkreation aus dem Hause Rügenwalder bezeichnen soll, die aus handelsüblichen Brötchen, die mit besagter vegetarischer Salami belegt, über Nacht im Kühlschrank ruhend, hergestellt wird. Die Seite richtet sich in offensiver Deutlichkeit an weibliche Lunch Prepper.

Ich hingegen bereite für ein frühes Sonntagsfrühstück meine berühmte Eigenkreation Cornflakes nach Art der Tante Tatin, kurz Cornflakes-Tatin zu. Dazu schäle ich einen Apfel und befreie ihn von seinem Kernhaus. Und zwar, hierin besteht übrigens auch der einzige Trick für die ansonsten leicht herzustellende Tarte Tatin: bereits am Vorabend. Dass die Apfelstücke über Nacht braun anlaufen, stört in dem Fall nicht, weil sie durch das Karamellisieren eh braun gefärbt werden. Wichtig ist allerdings, dass die Apfelstücke auf diese Weise überflüssigen Fruchtsaft verlieren, der ansonsten beim Karamellisieren Probleme bereiten kann, was der Tarte Tatin einen Ruf des Problemkuchens eingebracht haben wird, der, bei Beherzigung meines simplen Tricks, jedoch seinen Schrecken verliert. Kurz vor dem Servieren werden also die Apfelspalten blättrig aufgeschnitten, während in einer kleinen Omelettpfanne eine gewisse Menge Butter verflüssigt wird. Ich nehme gesalzene Butter. Dann so viel braunen Zucker einstreuen, bis unter vorsichtigem Rühren (am heißen Zucker kann man sich übelst verbrennen!!!) eine gebundene Masse entstanden ist. Die Apfelscheiben zu einem windmühlenhaften Muster einlegen — ebenfalls mit größter Umsicht. Nicht mehr rühren und die Hitze etwas herunterdrehen, damit der Zucker nicht verbrennt. Dann die Hitze ganz abdrehen und die Pfanne vom Herd ziehen. Währenddessen die Cornflakes (ich rate zu Kellogg’s) in einen Suppenteller schütten. Etwas Vollmilch (für Ex-DDR-Bürger: Trinkvollmilch) aufschäumen. Die Apfelscheiben sollten nun in der Pfanne zu einer runden Scheibe verbunden sein. Die Pfanne noch einmal kurz auf die restwarme Herdplatte stellen, sodass sich die untere Zuckerschicht verflüssigen kann. Dann den Pfanneninhalt beherzt auf einen passenden Teller stürzen. Von dort aus auf die bereitgestellten Cornflakes gleiten lassen. Von den Rändern her kalte Milch unter die Scheibe eingießen. Die Scheibe selbst mit der warmen, aufgeschäumten Milch behäufen. Die aromatische Verbindung – wahrlich ein Amalgam aus warmer und kalter Milch, dem Malz aus den Cornflakes, von Äpfeln und Karamell – lässt das Schlemmerherz höher schlagen. Dazu passt schwarzer Kaffee oder Lapsang Souchong mit gezuckerter Kondensmilch.

22.10.

Seinen Vortrag an der American Academy leitete Danny mit einem Standbild aus dem Internet ein: Gezeigt wurde die Nahaufnahme zweier Königspudel, deren üppiges Fell in grellen Farben getönt worden war. Der rechte gestreift wie das Kostüm Ronald McDonalds, der andere ganz in einem schönen Rot, wobei der Hundefriseur ihm das Fell am rechten Hinterbein lang stehen gelassen hatte, um daraus, mit appliziertem Wackelauge und detaillierter Airbrushtechnik, einen Elmo aus der Sesamstraße entstehen zu lassen. Beiden Hunden hängen die Zungen aus den Mäulern wie ein Lesezeichen. Sie schauen von Natur aus irritiert.

Es waren so viele Zuhörer gekommen, dass der Vortrag in den angrenzenden Nebenraum übertrugen wurde. Auch dort eine Videoleinwand, die das Geschehen aus dem ersten Saal mitsamt der Projektion dort projizierte. Dannys Vortrag wurde von unaufhörlich wechselnden Bildern begleitet. Als nächstes erschien eine Möbiusschleife, darunter stand »LOVE«. Er nahm das zum Anlass, seiner Frau und seiner Tochter zu danken, die eigens aus Paris angereist waren, um seinen Vortrag zu hören. Die Philosophie hinter der Kunst, die Poetologie, ist halt nichts, was man mal so morgens beim Kaffee bespricht.

Auf dem Heimweg sah ich einen bei laufendem Motor abgestellten Wagen, dessen Scheinwerferlicht sich vom dichten Nebel zu zwei voranragenden Säulen materialisiert hatte. Dabei bekam ich ein Erinnerungsgefühl an frühe Novemberabende; wenn man von irgendwoher abgeholt wurde. Sonore Radiostimmen aus dem Inneren des Fahrzeuges, Heizungsluft, die unvergleichbar gemütliche Stimmung der Innenbeleuchtung. So noch einmal ganz anders als Kerzenlicht.

»Eva hat gerade auf eine Website gewechselt, die den Titel GAY MEN DRAW VAGINAS trägt, da rumort es in ihrem Notebook, und Henri in Frankfurt verlangt aufgekratzt, sie möge auf der Stelle ihr Bildtelefon aktivieren. Er möchte seine Geliebte gern ausführlich in Augenschein nehmen; nicht nur ihr bewegtes Brustbild (in einem ausgeschnittenen weißen Nicky mit Trompeten-Ärmeln). Also erhebt sich Eva und streckt ihren (in pastellblaue Shorts gekleideten) Unterleib ganz nah gegen die Bildschirmkamera hin und steigt nach kurzem Verharren auch noch auf ihr Sofa, um Henri ihre unbekleideten langen Beine auf SKYPE zu präsentieren. Dann möchte er noch ihr Gesicht bewundern, bittet Eva darum, eine winzige Unregelmäßigkeit in ihrer linken Braue glattzustreichen, und sie muß ihren Kopf auch zur Seite drehen, damit  er sich an ihren (genau genommen, gar nicht vorhandenen) Ohrläppchen delektieren kann.

Der ferne Freund am anderen Ende der Leitung macht eine Reihe von Screenshots, in deren Betrachtung er sich vor dem Einschlafen genüsslich VERLIEREN möchte, und meldet sich dann zufrieden wieder ab.«

Beim Abspülen versuchte ich den Gesprächen auf dem Blauen Sofa im Livestream zu folgen, dachte zwischendurch kurz, ich hätte eine alte Sendung aus der Mediathek erwischt, weil mir die Antworten der männlichen Stimme so vertraut erschienen waren, aber bei Kontrollblick zeigte sich dort eben nicht Friedrich Liechtenstein, sondern Markus Lüpertz – zu identifizieren allein schon durch einen ganz anderen Bart –, der mittlerweile auch schon nicht mehr über seinen Ruhm sprach, sondern über Gott (live).

Später suchte ich auf Youtube den Schnipsel einer Lesung von Thomas Meinecke aus Selbst, für die er das T-Shirt des Robert Johnson angezogen hat, das er in seinem Roman gerade kauft, während Henri und Eva sich über Skype verständigen. Seltsam, wie durchwegs anders mir meine innere Stimme diesen Text in den letzten Tagen vorgetragen hat. Und wie andersartig mir der Charakter des Textes nun, da er mir von seinem Autor dargebracht wird, erscheinen will. So, als hätten wir uns am Ende missverstanden: der Autor, seine Stimme, die meinige und ich. Aber das ist ja nicht möglich, glücklicherweise.

21.10.

Mit Daniel Martinez, der sich Danny nennt, saß ich wie an so vielen Morgen zuvor im kleinen Café gegenüber. In den letzten Wochen, seit er im August aus Los Angeles hierher gezogen war, um als Fellow der American Academy an einem auf ein halbes Jahr befristeten Projekt über die RAF zu arbeiten, hatten wir noch vor dem Schaufenster gesessen; seit es Herbst geworden war, saßen wir dahinter. Der Anblick, unverändert: das frühmorgendliche Geschehen auf dem Vorplatz des Bahnhofs. Für Daniel besitzen die Szenen noch immer unwiderstehlichen Reiz. Erst hier hat er wohl begriffen, worin der wesentliche Unterschied zu seinem Herkunftsviertel, von hier aus gesehen 9000 Kilometer westlich gelegen, besteht: Fußgänger, Passanten, sichtbar gemachte Intimität. Durch oder wegen vergleichsweise kaum vorhandenem Autoverkehr. Plus natürlich, mit jedem Tag drängt sich ihm dieser Unterschied zum Kalifornischen nur noch mehr auf: das Klima (er war tatsächlich mit nur einem einzigen Pullover im Gepäck angereist; ansonsten Bücher, Computer, Geld).

Er hatte mich gerade gefragt, um was es in dem Buch geht, das ich lese. Und ich sagte: »Schüchternheit« (I was lacking the wordshyness träfe es nicht ganz), da tat sich draußen vor dem Fenster etwas Neues, zugleich Außerordentliches und, wie sich bald herausstellen sollte, etwas geradezu schwer Widerbringliches: Ein Lieferwagen hatte drei Männer von sich gegeben, die bald eine mitgebrachte Flex dazu benutzten, um von der inmitten unseres Blickfeldes aufragenden Litfaßsäule den umlaufenden Mantel aus übereinandergeklebten Plakaten zu schälen. Diese Schicht, einer der Männer setzte unter dem durch die Trennscheibe geschnittenen Schlitz ein armlanges Stemmeisen an, zeigte sich erstaunlich dickwandig. Es brauchte der vereinten Kraft aller drei Männer, um sie von der Säule, die darunter aus Beton und hell und von ihrem Umfang her zart zum Vorschein kam wie ein ehemals gebrochener Arm oder auch ein Bein beim Abnehmen des Gipsverbandes, zu trennen. Auch schien sie ziemlich schwer, da die Männer es gerade so zu schaffen schienen, die aufgetrennte Pappröhre zur Seite zu ziehen. Ich fragte die Männer, um wieviele Jahre übereinandergeklebter Plakate es sich hierbei handelte. Es waren wohl fünf. Die einzelnen Plakate waren durch das Überleimen untrennbar miteinander verbunden worden wie Schichtholz. Da Daniel kein Wort Deutsch spricht, bat ich den Mann mit der Flex, ihm einen Ring abzuschneiden. Idealerweise – die letzte, nun einzig noch sichtbare Plakatschicht hatte als Motiv den sommerlich abgeschmeckten Jack Daniels mit Honigaroma – mitten durch das mit goldgelber Flüssigkeit und drei Eiswürfeln gefüllte Glas. Dem Wunsch wurde entsprochen. Und wenig später ging Daniel, der ziemlich zierlich von Wuchs ist, mit seinem golden und schwarz leuchtenden Plakatring über der Schulter hinüber in sein Atelier. Die letzten Meter musste er den Ring sogar absetzen und für den Rest der Wegstrecke vor sich herrollen, derart schwer war das Ding ihm geworden. Wieviele tausend, wahrscheinlich sogar Millionen Blicke über die letzten fünf Jahre, wieviele Kilogramm Aufmerksamkeit für diese Plakate wohl in diesem Ring gespeichert geblieben sind, fragt er sich.

Litfaß liegt auf dem Dotheenstädtischen Friedhof begraben. Auf seinem Grabstein ist in Gold auf glänzendem Schwarz seine flamboyante Unterschrift graviert. Als hätte er seinen eigenen Grabstein signiert.

Auf dem Friedhof war ich zuletzt vor ein paar Wochen gewesen, im Sommer. Vermutlich habe ich deswegen auch nicht groß auf die Bäume geachtet, auf die Laubsituation Grün, die man bei schönem Wetter für gegeben erachtet und im Ganzen nimmt. Das Erinnerungsbild sieht nun ausschließlich die Oberfläche des Grabsteins vor. Das gedachte Gesichtsfeld bleibt nach oben hin begrenzt vom Augengrau und es ist mir nicht möglich, die hiesige Laubsituation Gold auf das Erinnerungsbild zu übertragen. Ganz so, als ob es mit einem Ortsmarker und einem Zeitstempel versehen abgespeichert worden wäre, der mir solche Manipulation als unzulässig gebietet. Auch dass ich mir im Angesicht der beinahe vollkommen gefärbten Laubbäume ringsum nun noch vorstellen könnte, wie sie vor ein paar Tagen noch in Grün ausgesehen hatten, scheint solange unmöglich, bis ich eine dementsprechendes dokumentierende Fotografie zur Hilfe nehme.

20.10.

Gegen 14 Uhr hatte sich der Nebel so weit aufgelöst, dass der in Gold gesprenkelte Rasen zwischen schwarz glänzenden Stämmen wie vorgeführt wirkte, wie ein Bühnenbild. Urplötzlich zeigte sich der Himmel blau, hinter den Bäumen, die das gegenüberliegende Ufer säumen, ergab sich ein breiter Streifen wie aus Glas, hinter dessen Scheibe es türkis zu leuchten schien; darüber breite, wie wütend oder, nein: wild entschlossene Pinselstriche in violett und helleren Nuancen.

Das selbstgestrickte orangerote und goldgelbe Rechteck, gezeichnet von Michaela Meliàn, das den Schutzumschlag von Selbst bestimmt (auf weißem Grund): Das Buch lag im Schein der zwar hellen, aber leider nicht warmen Sonne dieser Tage auf dem Gartenstuhl, dessen weiße Lackschicht an vielen Stellen abgeblättert war, darunter war das grünlich-dunkle, wie vom Moos durchzogene Holz der Brettchen zu sehen. Ein gelb gefärbtes Blatt eines Ahorns mit verrenkten Spitzen landete neben dem Buch mit seinem Bild, das dem Ahornblatt nun ähnlich sah. Das Blatt hatte ganz viele rote Punkte wie eine besonders reife Frucht.

Seltsam, dass es in so vielen Rezensionen von Selbst geheißen hatte, das Bemerkenswerte an den darin auftretenden Frauen- und Männergestalten sei, dass die sich so steril und frigide gebärdeten (und das wurde pikiert angemerkt). Dabei, und ich hab nichts am Auge, geht es um nichts anderes in dem Buch (als um Schüchternheit). Der Text auf dem Schutzumschlag hinten – ein Käufer, der die Rezensionen gelesen hat, müsste annehmen, dort stünde halt eine Marketingsphantasie – stimmt ganz genau: »Selbst ist ein Liebesroman«.

19.10.

Gestern, ich saß in einer italienischen Bar neben dem Imbiß zur Nachtigall an der Prenzlauer Allee, schaute durch die Scheibe auf den Verkehr auf dieser Straße, die ich noch ganz zu Anfang diesen Jahres zumindest zweimal pro Tag zu überqueren versucht hatte, ohne dabei überfahren zu werden, mir wurde ganz wehmütig; beinahe so, als starrte ich nicht auf Autos und Fahrradfahrende im Stop-and-go, sondern in die Glut eines Feuers.

Zu einem Teil lag der leichte Abschwung in meinem Gefühlshaushalt auch an meiner Lektüre, am Morgen hatte ich das neue Buch von Thomas Meinecke bei der Buchhändlerin abgeholt. Sie hatte mich nach meiner Meinung zum Träger des Deutschen Buchpreises gefragt. Sie war damit unzufrieden, hatte dennoch elf Exemplare von Widerfahrnis bestellt, die sie wohl, so ihre Einschätzung, bis Weihnachten verkaufen können würde. Ein größerer Erfolg in der Region Nikolassee, hier stehen in etwa dreiundfünfzig Häuser, war fraglich, ihrer Meinung nach. Ich fing noch in der Bahn zu lesen an. Natürlich war das ein ganz anderer Text, als es die eitle und vor allem für den Kritiker des Textes Werbung treibende Rezension in der Sonntagszeitung hatte glauben machen wollen. Der Name des Kritikers ist längst von der Timeline verschluckt, aber er war noch sehr jung und hatte bereits extrem viele für sich Werbung treibende Texte verfasst, zum Beispiel sogar auch im Hanser-Verlag. In dem über Selbst hatte er in absichtlich verkomplizierten Sätzen, die dazu auch noch zu lang waren, behauptet, in dem Buch ginge es um derart komplizierte Diskurse, dass selbst er selbst, der Kritiker dieser dort widergegebenen Diskurse, kaum den Durchblick erreicht haben konnte. Oder so etwas in der Art. Dabei geht es in diesem Buch gar nicht darum, was gesagt wird. Auch nicht wie. Sondern dass. Wie immer bei Thomas Meinecke halt. Nur, und das scheint mir wesentlich, dass sein neues Buch vor allem unter Frauen spielt. Es gibt ja laut Helmut Dietl keinen gesunden Mann, der nicht von einem unbemerkten Belauschen eines Frauenabends fantasiert. Und zeitgleich, hier zitierte Helmut Dietl dann gerne den Linguisten Ferdinand de Saussure, den »Ferdl«, der ja selbst wiederum immer dann, wenn das Gespräch auf die Gespräche unter Frauen gekommen war und wie man die belauschen könnte, am besten halt solche unter Inuitfrauen, weil dann ließe sich dabei noch gleichzeitig das mit den hundert verschiedenen Begriffen vom Schnee sozusagen miterledigen, woraufhin der Ferdl dann, Dietl konnte den ja so herrlich nachmachen inklusive dessen Saugens an einer Pfeife aus türkischem Meerschaum, die dann bei Dietls Paradeparodie freilich aus einer Zigarette bestand, einer filterlosen, sagenderweise an das Zirkuspferd mit Namen Clever Hans zu erinnern pflegte. Es geht nämlich nicht, jemanden zu beobachten oder zu belauschen, ohne dass sich dessen Verhalten durch den Umstand seines Beobachtetwerdens, des Belauschtwerdens veränderte. Die belauschten Frauen wären also grob gesagt gar keine Frauen.

Und darum geht es, meiner Meinung nach, in Selbst. Grob gesagt. Dafür halt fein wahrgenommen.

»Friseur und Beautytermine online buchen«, davor ein vollbärtiger Mann mit rotem Haar, zweifelnder Blick aus blauen Augenscheiben: Die gesamte Bahn ist unter diesem Motiv hinweg in einem lachsrosa Ton lackiert. Fährt sie ab, gibt sie dahinter einen Fries der schwarz auf schwarz gehaltenen Plakate für das iPhone7 frei, die gerade jetzt – es war nun um die blaue Stunde, jedoch spielte der Himmel nicht mit und zeigte sich grau – flackernd hinterleuchtet wurden. Während eine Dreiergruppe, ein jeder mit Brille, Mütze und Bart, ihre Gläser mit dem IPA aneinander stießen. Und danach sagte der eine von ihnen zu den anderen »Guck, ich hab mir das neue iPhone gekauft.« Das geht als Boys Talk durch. Es geht, konkret, um andere Männer: um Anrufende, deren Anrufe man nun nicht mehr entgegennimmt (die Anruferliste wird auf dem Display des neu in den Besitz gebrachten Gerätes herumgezeigt als ein Beweis männlicher Unerbittlichkeit und Härte). Man raucht selbstverständlich und sitzt deswegen vor dem Lokal an dieser Straße. Zwischen den dreien steht ein Töpfchen Heidekraut auf dem Tisch.

Eine Stunde später und mittlerweile auch eine Kreuzung weiter in der Marienburger Straße angekommen, werden sie, die sich die Boys nennen, dort durch die Scheibe der Bar Italia von einem Girl erkannt und zu sich hereingewunken. Sie trägt ein schwarzes Exemplar des Bestsellers von Uniqlo und ihre Beine sehen aus, als hätte sie mit Latex tapeziert. Die Frau am Nebentisch ist Frances Schönberger. Le chaleur du soleil transformera le raisin en vin.

18.10.

Ein Ruck geht durch das Schneckenreich: Im Verlauf des gestrigen Tages wurde bei unsäglicher Nebelsuppe vor dem Fenster – was die beiden freilich nicht die Bohne anficht, weil sie es unter ihrer Kuppel auf der Fensterbank bei aufgedrehtem Heizkörper, wie es unter Schnecken heißt, schnuckelig feucht und dämpfig warm haben, und weil Weichtiere auch keine Knochen und Gelenke haben, in denen Rheuma sich entwickeln könnte, dennoch auf eine Weise, die ein menschlicher Blick nur als gelenkig wahrnehmen kann – die gesamte (ausgespülte) Schale eines Viereinhalbminuteneies weggeraspelt und eingeschlürft. Heißhunger auf Kalkhaltiges? Hochzeitsvorbereitungen bien sûr!

Die Schneckenforschung allerdings ist im Detail auch anderer Meinung. Neuesten Veröffentlichungen aus Kanada und Australien zufolge — ganz merkwürdig übrigens, dass es immer wieder Forscher aus diesen beiden ansonsten komplett irrelevanten Ländern sind, die in der Tierforschung wegweisende Veröffentlichungen liefern; und nicht nur dort: Die menschliche Klitoris beispielsweise wurde ja neulich erst, also erst neulich, im Jahr 2008 von einem australischen Team vollständig kartographiert und beschrieben — zum ersten Mal!, davor hatte sich kein Mensch so Recht für die Details der Frauen interessiert. Eigentlich ja ein Skandal, aber na gut. Über die Vorgänge im Schneckenhäuschen weiß der Mensch auch noch nicht genug, aber in besagten Studien ging es immerhin um die Funktion des einen Geschlechtswechsel bei den zweihäusig angelegten Schnecken konstituierenden Kalkpfeils. Beziehungsweise: Der kanadische Forscher fand heraus, dass es nicht, wie bis dato angenommen, der Pfeil selbst ist, der die Schnecke zum Weibchen programmiert, sondern der Schneckenschleim, der daran haftet. Der Fremdschleim, der an der Spitze des Kalkpfeils haftet und in den Leib des Partners geschleust wird, ruft dort den Geschlechtswechsel, beziehungsweise die geschlechtliche Definition hervor. Von daher trägt die Veröffentlichung auch diesen herrlichen Namen »Funktionen des Schleims bei Soundso«.

In meinem Labor war generell ein gesteigerter Appetit festzustellen. Zusätzlich zur Eierschale mussten auch noch ein größeres Stück Gurke, ein halber Möhrenknispel und dazu gereichtes Blattwerk daran glauben. Wobei Selleriegrün verschmäht wird. Radieschenblätter dito. Bei ersteren könnte es am intensiven Geruch und Geschmack der hellgrünen Blätter gelegen haben. Farbinformationen spielen scheinbar eine untergeordnete Rolle, sonst würden Möhre und Kernhäuser von Äpfeln ebenfalls ignoriert. Bei den Radieschenblättern stören sie sich wohl an den brennesselhaften Dorndrüsen, die sich dort auf der Unterseite der Blätter befinden. Pilzstiele allerdings haben sie gern.

Nach der Nahrungsaufnahme ziehen sie sich gemeinsam in das Tubularium eines aufgerollt daliegenden Löwenzahnblattes zurück. Wie Schnecken wohl knutschen — Haus an Haus? Oder doch im ausgefahrenen Zustand, und ob das dann für sie eher Rücken an Rücken, Seite an Seite, Bauch an Bauch, oder Hand in Hand bedeuten mag? Alles noch Terra incognita.

Subscribe to »2020 – Sing Blue Silver«