»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

23.11.

Das iPad hat Unregelmäßigkeit in meinem Lebensrhythmus erkannt und will mir helfen, diese auszugleichen. Dazu soll ich ein paar Fragen beantworten. Noch spricht es nicht von sich aus mit mir, die Aufforderung sowie die auf meine Einwilligung hin folgenden Fragen erscheinen in Schrifttafeln, bei denen mich das Betriebssystem duzt. Dass ich selbst es bin, mit dem es kommuniziert, dessen kann es sich sicher sein, weil ich es mit meinem Fingerabdruck entsperre. Vielleicht hätte ich es unter einem falschen Namen einrichten können damals, dann würde es mich jetzt mit diesem, einem Frauennamen vielleicht, ansprechen. Aber vermutlich wäre dieser Täuschungsversuch auch bald nach dem Start der Einrichtungsprozedur aufgeflogen, weil ich meine Apple-ID einst mit meinen Bankdaten verknüpft habe. Vor allem: Wozu das Ganze? Das iPad und ich sowie, wie es mir manchmal zu anderen Gelegenheiten schreibt, »deine anderen Geräte, Joachim«, wir sind ja unter uns.

Das iPad fragt mich, wann ich morgens aufstehen möchte, Joachim. Ich tippe ein: 6 Uhr.

Aha, und wieviel Stunden willst du schlafen? Diese Nachfrage flankierend erscheint der Hinweis, dass Erwachsene zwischen sieben und acht Stunden Schlaf pro Nacht benötigen, Joachim.

Das weiß ich, das iPad weiß, dass ich erwachsen bin (aus der Kombination des Fingerabdrucks namens Joachim und den hinterlegten Daten in meiner Apple-ID), ich tippe sieben ein. Das iPad könnte bei Gelegenheit auch richtig streng werden, beispielsweise bei mangelnder Deckung auf meinem mit der Apple-ID verknüpften Bankkonto, und mich mit meinem vollen Namen ansprechen: »Joachim Bessing, bitte schreibe umgehend einige Rechnungen im Gesamtwert von 600 Euro«.

Oder so ähnlich. Es könnte mir auch, in Form einer Widgetwarnung, einfach in meinen Kalender schreiben: »Rechnungen ausstellen für den Text an Sowohin«. Das erforderliche Hintergrundwissen stammte aus dem Gesendet-Ordner meines Mail-Accounts. Das iPad könnte sogar diese Rechnungen von sich aus schreiben. Aus der Analyse meines iCloud-Speichers weiß es ja, wie die auszusehen haben. Und das iPad weiß oft besser als ich, den wievielten wir gerade haben.

Das Programm, das meinen Lebensrhythmus verbessern soll, heißt Schlafenszeit. Das Symbol ist aber leider keine Schlafmütze (vermutlich in Kalifornien unbekannt) oder ein Glas Wasser (optional mit einem Gebiss drin), es zeigt die Strichzeichnung eines Sofas, neben dem eine Stehlampe, nun ja: steht. Also ein nächtliches Sofa. Oder, zur Zeit, ein Sofa ab 15 Uhr 30. Neulich hat Maxim Biller in der Zeit geschrieben, dass er sich immer, wenn er seinen Freund vermisse, auf sein »langes graues Sofa« lege. Mein Sofa ist kurz und weiß. Ich lege mich nie drauf (weil ich dafür zu lang bin). Ich benutze es eigentlich so gut wie nie.

Was das iPad nicht weiß, aber wissen könnte (durch die Analyse meiner Bewegungsdaten in Verbindung mit der Auswertung der sieben oder acht gyroskopischen Sensoren, die in ein iPad eingebaut sind (für das verbesserte Erlebnis beim Videospielen): Ich liege ja so schon echt viel in meinem Bett. Ich muss mich gar nicht umbetten, wenn es Schlafenszeit wird. Ich muss einfach bloß meine Augendeckel schließen. So aber werde ich seit gestern Abend um viertel vor elf vom iPad daran erinnert, dass ich das in einer Viertelstunde bitte tun soll. Es meldet sich und schreibt: »In einer Viertelstunde ist Schlafenszeit, Joachim. Bitte gehe ins Bett«. Um sechs Uhr wiederum weckt es mich mit einem extrem angenehmen Ton, den ich mir selbst ausgesucht habe. Der Ton nennt sich Orbit. Und ich hoffe schwer, dass Ralf Hütter das nicht liest, denn Orbit ist halt frech von Neonlicht abgeschrieben.

Wenn ich die abendlichen Anweisungen des iPads fügsam befolge, verspricht es mir, werden die Stäbchen in meiner persönlichen Schlafgrafik in eine verbesserte Anordnung gebracht. Verbesserte Anordnung der Stäbchen in meiner Schlafgrafik bedeutet Gesundheit. Gesundheit bedeutet das, was Siri dazu im Internet gefunden hat. Der Wikipedia-Eintrag zum Thema Gesundheit ist ganz in Ordnung geschrieben. Macht allerdings nicht mehr oder bessere Lust auf ein langes Leben. Der über Peter Rühmkorf schon eher.

22.11.

Auf dem Küchentisch ein Gedicht von Dietmar Dath: Menschenseelen brauchen

Natürlich in jedem Alter

Wenn sie nicht verkümmern wollen

Schönheit und Wahrheit

Als Nahrung

Zur Entfaltung

Am Morgen sah Daniel noch einmal zerstörter aus. Ganz leise sein Gruß, das gewohnte Lächeln nur wie ein Hinweis darauf, wie ich es im Gedächtnis behalten sollte. Fahl und, wie es heißt: von Gram zerfurcht. Es war das erste Mal, dass er sich in meiner Gegenwart kein Croissant bestellte. Schwache Reaktion auf meinen Bericht von den erotischen Zeichnungen George Condos in der Sammlung Berggruen. Ich spürte sein Verlangen, nun endlich wieder über die politische Lage in Amerika sprechen zu dürfen, körperlich. Immer wieder ging sein Blick zur Zeitung hin, die aufgeschlagen vor mir lag.

Ich zeigte ihm das Bild vom Papst, der, ganz klein im Verhältnis zur riesenhaften Pforte der Barmherzigkeit, diese, sein Gesicht vom Kameraauge abgewandt, im Zuschieben begriffen war. Das Bild allein, genial beschnitten, das Zusammenspiel der alten Farben, dunkles Holz, polierte Bronze, der helle Brokat des bodenlangen päpstlichen Gewandes, das noch Falten warf, wie auf den Gemälden alter Meister, aber halt auch wie auf denen von George Condo festgehalten: Es tat seine heilende Wirkung. »Oh nein, nein, nein: der Vatikan ist fantastisch«, sagte Daniel. Und fing an laut zu träumen von der Kunstsammlung des Vatikans, they are collecting art since the beginnig of time. Mich würden ja vor allem die Briefe der Missionare interessieren, die in der Bibliothek des Vatikans aufbewahrt werden. Und dann, dies interessierte uns beide: häusliche Szenen. Wie dann etwa in einer Sitzecke vor einem raumhohen Fenster mit Ausblick auf die Stadt einige Kardinäle in mit Leder bezogenen Sesseln um einen niedrigen Tisch herumsäßen, Tisch vielleicht in Form einer ausgedienten Pauke der Schweizer Gardisten, und sich auf Latein unterhielten (so wie es ja jahrzehntelang Faszinosum gewesen war, dass in der Redaktionskonferenz der Zeit noch lateinisch diskutiert worden war, angeblich; und dazu wurden drei Sorten Sherry serviert: Medium, Dry, Sweet für die Frauen).

Ob es wohl möglich wäre, ein halbes Jahr lang im Vatikan zu hospitieren? Nach freiwilliger Abgabe von Smartphone und Rekorder, bloß mit Block und Stiften bekleidet? Tief in dieses herrliche Gedankenspiel verstrickt, gewärmt davon auch, überquerten wir die gefährliche Straße wie eine Furt und bald darauf trennten sich unsere Wege.

Kurze Zeit später sah ich von meiner Arbeit auf und es wurde bereits wieder dunkel. Es dunkelte sich ein von den Rändern her. Die Dunkelheit sank tatsächlich von oben hernieder und in etwas geringerer Streifenbreite stieg die Dunkelheit auf, hinter dem Gerippe des Waldes auf der anderen Seeseite, bis die trübe Helligkeit in der Mitte zu einem Schlitz zusammengedrängt worden war, wie früher, ganz früher, ein verlöschendes Fernsehbild. Selbst durch das Fernrohr konnte ich von dem Raubvogel, der auf dem Baum schräg gegenüber ansaß, nicht mehr erkennen als einen Schattenriß. Seiner Form nach tippte ich auf einen Bussard. Und dabei fiel mir ein, dass ich den auf Twitter angekündigten Großreport in der Sonntagszeitung über die Jäger gar nicht gelesen hatte gestern. Weil ich ihn offenbar gar nicht gefunden hatte. Nein, weil ich von Friederikes Geschichte, von der ich nichts gewusst hatte, bis ich sie in der Zeitung dann fand, derart angetan war, dass ich es danach nur noch bis zum Feuilleton geschafft hatte. Und dann, den Sonntag über, die Reaktionen auf Twitter verfolgen wollte: dass sich tatsächlich, wie in dem Gedicht von Novalis, durch ein geheimes Wort von ihr das ganze falsche Wesen dort auf Twitter und auf Facebook hinweg gehoben hatte und verzogen — zumindest für ein paar Stunden. Ganz schön viele. Immerhin!

Und dieses Wort war natürlich Liebe gewesen.

Am 5. Januar 1999 fährt Rainald Goetz nach Wolfsburg, um sich dort eine Andy Warhol-Retrospektive anzuschauen. Ich hatte mir das gestern noch einmal durchgelesen wegen der Sache mit Warhols Dogge, von der Daniel mir erzählt hatte. Rainald fährt mit dem Bus zur Kunsthalle, die ich auch kenne. Er sieht die Fußgängerzone dort, die ja bizarr ist, mit dem von Trashläden wie schief gerahmten Bau von Alvar Aalto, und schreibt um 10 Uhr 02: »Und diese Vorstellung, wie es wäre, wenn es einen durch die Liebe sowohin verschlagen würde, dann wäre vielleicht alles ›Wolfsburg‹, und das würde dann alles beinhalten und versprechen.«

Dem war nichts hinzuzufügen aus meiner internen Sicht.

21.11.

In unserer kleinen Künstlerkolonie ist Daniel im Besitz des Druckers. In den letzten Wochen waren wir uns nur noch im Austausch von Dateien gegen Papier begegnet, oftmals hatte er mir die Ausdrucke in den Briefkasten gelegt, weil keine Zeit gewesen war für eine persönliche Übergabe. Im kleinen Café gegenüber, wo wir uns zuvor beinahe täglich begegnet waren, war ich selbst schon länger als zwei Wochen nicht mehr gewesen. Ich wusste, dass auch bei ihm die Phase der Inkubation abgeschlossen und er bis zu seiner Heimkehr nach Los Angeles schwer beschäftigt war, um seine Arbeit fertigzubringen.

Ich hatte gerade die Lektüre des Politikteils beendet und wollte mich dem Aufmacher des Feuilletons widmen, in dem es um eine Ausstellung zum Begriff des Vulgären ging, da tippte er mir von unten an meinen Ellbogen (die Hocker mit Blick auf den Bahnhofsvorplatz sind hoch eingestellt). Seit mir Daniel erzählt hatte, dass er aufgrund seiner Wirbelsäulenerkrankung um bis zu zwei Inches im Jahr schrumpft, kam er mir tatsächlich bei jedem unserer Wiedersehen noch kleiner vor als jemals zuvor.

Er nahm seine Mütze ab. Ich erschrak. »My clock is ticking«, sagte Daniel. Aber das schien nicht auf seine selbst gemachte Kurzhaarfrisur bezogen, es ging da schon um seine drohende Abreise am 17. Dezember, weil dann das Semester der American Academy zu Ende ist. Abermals machte er mir den Vorwurf, ich hätte ihn im August überredet, mit der abschließenden Fotoproduktion zu seinem Ulrike-Meinhoff-Zyklus bis zum November abzuwarten, weil dann von vorn heranpeitschende Regenstürme, nackte Baumgerippe und graue Suppe ihm den deprimierendsten Hintergrund für die Aufnahmen liefern würden. Und jetzt: tja. Blauer Himmel, linde Lüftchen. Bunt waren die Wälder zwar schon, umd der Wind wehte kühler, wie es im deutschen Herbstlied heißt, aber auf seinen Fotos sähe man die Temperatur des Windes halt nicht.

Sorry, sagte ich. Und, das macht ja nicht nur Daniel so, das machen meiner Erfahrung nach sehr viele Amerikaner in einer solchen Situation: Er versicherte mir, das wäre ja nun nicht meine Schuld. Dann sprachen wir über die anstehende Feier des Thanksgiving, für das aufgrund der Bird-Flu-Situation die Truthähne für 150 Gäste der American Academy in der Diplomat’s Pouch nach Berlin eingeflogen werden würden (eingeflogene Truthähne: mise en abyme Fragezeichen), dann noch einmal über seine Frisur und von dort aus war die Rutschbahn hin zu Donald Trump schon eingeseift.

Um es abzubiegen, nahm ich die Zeitung her und zeigte ihm als comic relief das kleine Foto des Goldfasans, dessen Federschmuck ja tatsächlich aussah wie der comb-over des künftigen POTUS. »Hahaha«, machte Daniel. »That’s fantastic!« – »Ja, gell«, sagte ich. »Und hier steht, dass die Geräusche der Goldfasanenstimme von den Ornithologen verglichen werden mit dem Wetzen einer Sense.«

Daniel war der Ansicht, dass es nur eine einzige Möglichkeit gäbe, um seinen zukünftigen Landesvater zu zähmen. Ihm schwebte ein Szenario vor, in dem Donald Trump vor ein Publikum aus internationalen Politikprofis treten müsste, also beispielsweise vor den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, und dort hätte jeder, ob Frau oder Mann, auch die Bodyguards und die Simultanübersetzer in ihren Kabinen, seine Frisur auf. Der comb-over hatte sich ja bereits auf der Canal Street von New York zu einem unheimlichen Verkaufsschlager entwickelt. Und in den Heimatländern der auf der Canal Street Handel treibenden, im asiatischen Raum, wo die Perücken hergestellt werden, ging es vermutlich noch wilder ab. »Jeder sollte diese Frisur tragen«, sagte Daniel. »Jeder Taxifahrer, jeder Kellner, jedermann auf der ganzen Welt.« Daniel hatte Andy Warhol noch persönlich kennenlernen dürfen. Am Rande einer seiner letzten Ausstellungen gab ihm Andy Warhol die Hand. In Pittsburgh, im Andy-Warhol-Museum, in dem ich leider noch nie gewesen bin, wird wohl die Dogge ausgestellt, die Andy Warhol sehr geliebt hat. Als sie gestorben war, ließ Andy Warhol seine geliebte Dogge in sitzender Position ausstopfen und auf ein Brett mit Rollen unten dran montieren. Es gibt wohl sogar kurze Filme aus den letzten Tagen der Factory, da zieht Andy Warhol seine ausgestopfte Dogge auf dem Rollbrett hinter sich her. Ich ließ mir von Daniel erklären, wo Pittsburgh liegt, weil ich davon keine Vorstellung hatte. Amerika ist einfach viel zu groß.

Draußen wurde es allmählich schon wieder düster. »I got to run«, sagte Daniel und setzte sich seine Mütze auf. Da war er schon halb aus der Tür. »Nächstes Jahr in Pittsburgh«, rief ich ihm hinterher.

20.11.

Wenn dann mal erst Geruchstwitter erfunden ist. (Vor gut zwölf Jahren hatte ich mal einen Gedankenaustausch mit einem Geschäftsmann, Ex-Werber, aus, ich glaube, Dänemark, der sah sich damals knapp davor, etwas ganz ähnliches entwickelt haben zu wollen. Ein Nachfahre von John Waters gewissermaßen, der ja mit dem Odorama schon viel früher etwas in dieser Richtung unternommen hatte. Der Däne wiederum, angeblich wurde er für seine Forschungen von American Express bezahlt und von Singapore Airlines, die ja einst die ersten von den Fluggesellschafte waren, die ihre, die angeblich besten First-Class-Abteile der Welt mit einem signature smell beduftet hatten (der Stefan Floridian Waters hieß), verschwand so rasch und spurlos wieder aus meinem Leben, wie er gekommen war – ganz passend freilich für einen Mann der Düfte; unter Parfumfreunden hieße es, er konnte nur eine kurze Sillage sein Eigen nennen. Wohingegen John Waters Punktpunktpunkt.)

Beim ersten Gang zum Supermarkt seit meiner Ankunft fand ich, halb verdeckt von feuchtem Laub, ein Taschentuch mit Monogramm und blauen Doppellinien auf ansonsten weißem Grund. Weiß auch nicht, weshalb mich das dann traurig stimmte. Also der Gedanke an die Person, der dieses Taschentuch nun fehlt. Mitnichten ist es so, dass bizarre Fundstücke am Wegesrand mir unbekannt sind. Einmal, ich glaube es war auf dem Weg zu einem Geburtstag von Holm Friebe, da sammelte ich in einer Tüte aus transparentem Kunststoff einfach alles ein, was am Rande meines Weges dorthin den Tag über liegen geblieben war. Mit Haarsgummis und einzelnen Handschuhen könnte ich eh einen schwunghaften Handel betreiben, ich wäre vermutlich schon lange Millionär, wenn es einen Markt für Haargummis und einzelne Handschuhe gäbe (und vielleicht gibt es den auch, aber ich habe es noch nicht einmal ausprobiert; ohne leider), aber an jenem, sozusagen willkürlich ausgewählten Tag fand ich dort halt auch einzelne Schuhe, zerbrochene Kreditkarten und weggeworfene Akkus von Mobiltelefonen. Brillenbügel, auch halbe Brillen. Nahrungsmittel, klar, aber die zählten ja nicht. Ich war noch nicht angekommen, da musste ich aufhören mit aufsammeln, denn die Tüte war voll (und weil es eine transparente Tüte war, sah mein Geschenk wirklich eindrucksvoll aus. So ein bisschen Mike Kelley, auf gar keinen Fall wie Müll, auf jeden Fall wie Kunst). Auf der Kurfürstenstraße – nicht zu verwechseln mit dem sogenannten Ku’damm – machte ich im Sommer ein Foto von einem Höschen, einem Schuh und einem Lippenstift. Aus dem Ensemble sprach eine Art Drama, andererseits auch kein wirklich unerhörtes, denn dort blüht ja der Kinderstrich. Das weggeworfene Taschentuch aber war besonders. Vermutlich, weil ich gar niemanden mehr kenne, der noch Stofftaschentücher benutzt. Und wer das tat, so stellte ich mir vor, der würde seine Taschentücher auch monogrammieren lassen (oder monogrammierte geschenkt bekommen von jemandem, der diese Person so gut kannte, dass es ihnen beiden eine Freude war). Damit war dann aber auch klar, dass dieses Taschentuch vermisst werden würde. Und in der Hoffnung, dass es etwas bringen würde, hängte ich das vom Regen durchweichte Taschentuch relativ gut sichtbar an einen nahegelegenen Zaun.

Zeichenhafterweise fiel es mir erst in dem Zug auf dem Weg zur geplatzten Kuh auf, dass ich meinen Füller bei meinen Eltern hatte liegengelassen. Zeichenhaft, weil ich alles mögliche liegenlasse, verlege oder vergesse, aber den Füller doch nie. Mein Vater behauptet momentan zwar noch, dass der Füller nicht aufzufinden sei bei ihnen, aber ich weiß, dass dem nicht so ist. Weil meine Mutter an dem Abend nach dem Besuch im Hirschen zu Heimsheim, um dessen Feder auszuprobieren, mit diesem Füller in mein Notizbuch geschrieben hatte: »Heute ist Mittwoch« (von mir aus hätte es auch ein Herz werden dürfen, das sie dort hineinmalte, aber so ist sie nun mal). Und danach haben weder ich noch ich mit dem Füller das Haus verlassen. Also sagte ich, dass sie sich keine Sorgen des Füllers wegen zu machen brauchten. Und bitte erst recht auch nicht schicken, so er wieder auftaucht, denn es gab in diesem Jahr schon genügend Hustle mit DHL. Da war ich dann von mir selbst verblüfft, mit welcher Leichtigkeit im Sinn ich einen erneuten Besuch bei den Eltern versprochen hatte. Um den Füller persönlich entgegenzunehmen. Im Hintergrund aber webte darin die Versöhnung mit ihnen, den Eltern und mit diesem Ort, Heimerdingen, wo ich aufwachsen musste und dem ich vor vielen Jahren regelrecht und faktisch entflohen war. Lange Zeit, es sind Jahrzehnte geworden, hatte ich behauptet, ich sei vom Landleben derart traumatisiert, dass ich schon beim Anblick gelber Ortsschilder wahnsinnig würde. Bei sogenanntem Lichte betrachtet, lebe ich seit Anfang des Jahres nun selber dort. Und das so gut und so glücklich wie noch nie zuvor. Was ich bei meinem Besuch dort herausgefunden habe: mich stören weder die Landschaft noch sind es die Tiere und auch nicht das Kirchengeläut, es ist die Enge. Die ist nun mal aufgrund der hohen Grundstückspreise (die wiederum vom Baden-Württembergischen Erbrecht verursacht wurden) besonders, nun ja: eng dort unten. Man sitzt dort halt immer schon halb im Haus des Nachbarn »wie auf dem Präsentierteller« und (Zitat Arno Schmidt) »beobachtet, wie auch ihr beobachtet werdet«. Drum lautete ein güldener Ratspruch meiner Mutter aus Kindertagen: Familie und Verwandschaft werden besser, wohnt man möglichst weit weg. Was ich beherzigte und meine ersten neun Jahre in Hamburg verbrachte. Damals, noch vor dem ICE, dauerte eine Heimfahrt mit dem sogenannten D-Zug satte zwölf Stunden. Kann aus heutiger Sicht nicht sagen, dass es unserer Familie tatsächlich gut getan hätte. Aber, und diesen goldenen Ratspruch verdanke ich der Mutter Holm Friebes, Inge, die Douglas Coupland gechannelt hatte, damals auf dem Sommerfest des LCB 2010: All Families Are Psychotic. Von daher ist das mit der Heilung durch Abstand halt bloß ein frommer Wunsch.

Kaum angekommen, saß ich am Telefon und hörte mir Tabassoms Leidensgeschichte an. Sie litt an der Liebe, es hatte sich nichts verändert. Ich fummelte an meinem Ersatzfüller herum, ich machte mir zwei Kaffee, ich knusperte mehrere Brote und rührte den Teig für den sonntäglichen Schokoladenkuchen an. Wenn man sich so lange kennt, telefonisch, darf man auch mal kurz einschlafen, wahrscheinlich sogar Zahnseide benutzen, Zahnseide kaufen gehen, falls keine mehr im sogenannten Haus ist, und es wird sich nichts ändern. Irgendwann stieß ich einen persischen Fluch aus – eben diesen einzigen Fluch, den ich kenne, und der angeblich so stark wirkt, dass er vom Lektor bei Kiepenheuer & Witsch aus dem Manuskript von Untitled getilgt wurde, weil man dort die Fatwa fürchtete. Und Tabassom sagte, dass sie jetzt ihr iPhone ausräuchern und neu weihen lassen müsste aufgrund meiner Flucherei. Draußen huschte ein Eichhörnchen durch die nicht mehr existenten Büsche wie eine im Schnellvorlauf abgespulte Raupe. Landleben: What’s not to like?

Meine Eltern haben zwei Autos für zwei Personen. Weil einer von beiden immer im Auto sitzt, um irgendwas zu besorgen. In Heimerdingen gab es mal zwei Friseure, zwei Bäckereien, ein Postamt, einen Blumenladen, zwei Banken, eine Metzgerei, eine Drogerie, einen Rewe und einen kleinen Supermarkt. Eine Grundschule, einen evangelischen Kindergarten, einen katholischen und zwei Kirchen (dito). Es gab sogar einen Schuhmacher, eine Bücherei und ein Autohaus. Die zwei Kirchen gibt es noch. Und einen Netto mit Backshop. Und eine Apotheke, die gute Geschäfte macht. Auf dem Land leben meine Eltern heute so, wie ich 1996 in Ostberlin, als ich zum KaDeWe fahren musste, wenn ich einen cremefarbenen Briefumschlag wollte. Und hier in der Stadt, insbesondere in Ostberlin lebt es sich heute wie einst auf dem Land. Wie in Heimerdingen, wo man alles zu Fuß erledigen konnte, wo jeder jeden beobachtet, wie auch er beobachtet wird.

Strange isn’t it, wie Omar Khayyam zu sagen pflegte. Aber vielleicht gar nicht mal so sehr verwunderlich. Als ich mit Gunnar neulich beim Mittagessen Narbenquartett gespielt habe, sagte er: »Aus Verlegersicht ist das interessant« (allerdings halt schwer zu finanzieren). Es schreibt ja niemand mehr irgendwas auf.

Also: Was wollen die Leute? Die Leute wollen ganz wenig. Vermutlich sind es zudem ganz einfache Dinge. Dass es nach frisch gebackenem Schokoladenkuchen duftet, wenn sie nach Hause kommen. Und dass es jemanden gibt, der Schokoladenkuchen gebacken hat, wenn sie nach Hause kommen eventuell. Im Jahr 2000, jenem Jahr, das uns allen damals als Ankunft der Zukunft versprochen worden war (Captain Future, Laserstrahlen bspw.), war es, damals wohnte ich kurz mal in München, en vogue, die Wohnung mit einem Spray zu parfumieren, das von der Einrichtungsmarke Laura Ashley verkauft wurde. Das roch nach frisch gebackenem Pflaumenkuchen. Und alle liebten diesen Spraygeruch. Sogar Niklas Maak (wir redeten damals nahezu pausenlos über dieses Spray, kurz darauf gab es allerdings die Sonntagszeitung und ich und auch Niklas Maak zogen um nach Berlin; Laura Ashley ist mittlerweile in Vergessenheit geraten. Wie so manches. Wie so viel!).

Alles weitere zum Thema Die Leute haben Fünf Sterne Deluxe gesagt.

19.11.

Schnecken sollte man nicht länger als drei, maximal vier Tage unbeaufsichtigt zuhause zurücklassen.

18.11.

Links entgegen der Fahrtrichtung wäre richtig gewesen. So kam der Stausee, bei dem es sich um die Kinzigtalsperre handelte, halt nicht auf mich zu, sondern war irgendwann einfach da. Auch nicht schlecht. Da hatte unser Zug bereits eine Verspätung von einer halben Stunde auf sich versammelt. Kurz nach der Sperre, während eines unplanmäßigen Aufenthaltes auf dem Bahnhof einer Ortschaft namens Schlüchtern, häufte er davon noch weitere vierzig oder so an, sodass wir mit einem Verspätungskontingent von krassen 78 Minuten ins Rennen gingen. Mein Vater wäre durchgedreht. Dabei gab es einen traurigen Grund für den erneuten Aufenthalt: Der ICE vor uns hatte eine Kuh überfahren! Vermutlich dauerte es deshalb auch vierzig Minuten, bis die Strecke wieder freigegeben werden konnte (so eine Kuh ist ja reichlich groß und ständig vollgefressen, das Euter sozusagen zum Zerreißen gespannt, der ICE, das kommt noch erschwerend dazu: rasend schnell).

Schweigend hatte mein Vater mich zum Bahnhof gefahren, weil meine Mutter einen Termin auf dem Friedhof wahrnehmen musste. Müde und mit Gold behangen, säumten Lärchen unseren Weg. Gleich hinter Münchingen macht die Schnellstraße schon seit ich denken kann eine Linkskurve, die einfach nicht enden will; das fiel mir gestern erst wieder ein, wie oft ich doch schon in dieser Kurve fahrend gedacht haben musste, dass die Kurve nicht mehr aufhören würde. Aber irgendwann hat sie bislang doch aufgehört und dann sind dort die Tunnel von Feuerbach. Als Verfilmung meiner Jugend wäre eine Endlosschleife dieser nicht enden wollenden Kurve durchaus statthaft. Und dazu ein bisschen Scheibenwischerquietschen und eine vorfreudige, sich auf das Ende der Kurve hörbar freuende Musik (beispielsweise Jumping Someone Else’s Train).

Mein Vater findet diese Frau attraktiv, die mit ihrem Gesicht deutschlandweit auf allen Automaten für biometrische Passbilder wirbt. Ich nahm es als Zeichen für seinen Geschmack auf der Höhe der Zeit. Wir waren ja unter uns.

Auf einer digitalen Werbetafel erschien uns zum Abschied ein Rezept für ein sogenanntes Zupf- oder Pull-Apart-Brot. Dafür nimmt man ein ganzes Brot, schneidet es kreuzweise tief ein, aber so, dass der Brotboden die Schluchten noch zusammenhält. Die Einschnitte werden mit Käse und Lauchzwiebelringen gefüllt. Käse und Schinken geht natürlich auch. Im Ofen erhitzen, bis der Käse geschmolzen ist. Im Ganzen servieren. Beispielsweise auf einem Brett.

Na ja. Kurz vor Hildesheim zauberte Friederike einen edelsteinartig glimmenden Himmel, der eine geradezu afrikanische Wolkenvielfalt hatte – vom Schäfchen über die Strähne; Rosentüpfel, linealglatter Kondensstreifen und düster quellender Hecke: es war für jeden was dabei –, der mich nicht nur trösten konnte, sondern mich mit dem ganzen Schlamassel versöhnte. Und zwar voll und ganz.

17.11.

Derek Ladewig heißt der Betreiber der alternativen Bahngesellschaft auf der Strecke von Stuttgart nach Berlin (und umgekehrt). Das Logo seines Unternehmens Locomore erinnert deutlich an das von Tocotronic und die Abteile sind, von dem her, was bislang zu sehen ist, hübsch ausgestattet. Ab dem 14. Dezember soll es losgehen zu extrem niedrigen Fahrkartenpreisen (circa ein Drittel vom regulären Bundesbahntarif) und es soll nicht nur Abteile geben (während die Bahn angeblich zukünftig voll auf Großraum setzt), sondern sogar Abteile mit Motto: Skat beispielsweise für Freunde des Kartenspiels. Stelle ich mir nicht nur angenehm vor, werde es aber trotzdem bald mal ausprobieren. Ich freue mich aber auch auf meine Heimfahrt mit der regulären Bundesbahn: einfach mal ein paar Stunden lang aus dem Fenster gucken, ohne dass mich jemand fragen darf oder fragt, warum ich aus dem Fenster schaue. Eigentlich hatte ich vorgehabt viel zu lesen. Aber in drei Tagen bin ich bei Emma Cline gerade mal bis ins sechste Kapitel vorgedrungen, über dem die Jahreszahl 1969 steht. Einem Jahr, in dem unter anderem meine Eltern geheiratet haben.

»Es war eine Zeit, in der meine Vorstellung vom Heiraten einfach und von Wunschdenken geprägt war. Der Moment, in dem jemand gelobte, dass er sich um dich kümmern würde, gelobte, dass er merken würde, wenn du traurig oder müde wärst oder Essen nicht leiden könntest, das nach der Kälte des Kühlschranks schmeckt. Der gelobte, dass sein Leben parallel zu deinem verlaufen würde.«

Ein bis dahin eigenartiges Buch. Und ich hoffe, dass dem so bleiben wird. Eigenartig gut, extrem gut übersetzt (Diamantringe, kühle Bäche, Apfelbäume: alles wurde vollständig mit hinübergerettet; Wortbilder, Bedeutung und Rhythmus: intakt). Eigenartigerweise habe ich mich wochenlang durch die ersten Seiten geschleppt, oft nicht mehr als ein paar Sätze am Tag geschafft – weil es so dicht war? (In den Achtzigerjahren hätte man idiosynkratisch gesagt.) So lange die Entfremdetheit des erzählenden Mädchens sich mit sich selbst unterhält, wirkt das zumindest so. Wie aus der Unterwasserwelt beobachtet (Uferrandperspektive). Dann kommt die Party und obwohl man weiß, dass es noch schlimmer kommen soll, kann es dann gar nicht mehr schlimmer kommen: das schmutzige Essen (die Melone, die Tischkante, die Kartoffelsuppe), die verwahrlosten Kinder.

Vorgestern nach der Ausstellung hatten wir es eilig, zur Tauberquelle zu kommen, weil ein zentrales Motiv der Ausstellung in Linsen mit Spätzle und Saitenwürsten bestanden hatte, ein Gericht, das in der Innenstadt vor allem noch die Tauberquelle im Angebot hatte. Wenn es das gäbe, dann könnte man bei der Tauberquelle von einem zunehmend übersehenen Lokal sprechen. Ganz einfach, weil an dieser Ecke derart viel und dramatisch umgebaut und neugebaut worden ist, dass ein kurzes, dazu einstöckiges Haus dort mittlerweile nicht einmal mehr wie eine Laune der Architektur wirkt, sondern bestenfalls noch wie etwas aus der Natur; wie ein Stein oder etwas anderes, das dort aus der Erde ragt (die es freilich in der Innenstadt auch nicht mehr gibt, allenfalls symbolisch!). Schräg gegenüber von Hegels Haus, das ebenfalls seltsam und wie vorgeschoben auf seiner Verkehrsinsel steht, wie bestellt und nicht abgeholt. Und in seinem Nacken dünstet das cremefarbene Parkhaus vor sich hin. Ohne ein einziges Fenster, dafür mit vermoosten Lüftungsschlitzen, das, obwohl es sich nicht bewegen kann, trotzdem so wirkt, als ob es hinter dem Hegelhaus drückt und schiebt. Aber kaum sitzt man in der Tauberquelle, ist das Elend vergessen. Was auch an den niedrigen Fenstern liegt, durch die man, an den Gardinenzipfeln vorbei, allenfalls Knie sieht von den Passanten und die Türgriffe und Tankdeckel vorbeifahrender Autos (Fahrräder oder Hunde gibt es in der Stuttgarter Innenstadt so gut wie gar keine). Naja und das Essen dann: wie zu erwarten. Nämlich hervorragend! Dazu kam das Stuttgarter Bier, das einen derart eigentümlichen Wohlgeschmack hat, dass ich ihn jedes Mal sofort wieder vergesse, ohne ihn beschreiben zu können. (Süßlich, aber auch sehr bitter; vor allem bitter! Aber nicht zu sehr.) Na ja. Schön war’s. Auch gestern abend noch im Hirschen zu Heimsheim. Dem traditionellen Abschiedslokal. Der Wirt hatte das namensgebende Wappentier bereits in einer über zwei Meter hohen Variante aus Lichterketten und Schaumstoffelementen vor der Freitreppe zum Lokal aufgebaut. Was nicht allen gleich gut gefiel. Es wurde diskutiert, ob der Hirsch nun bereits zu früh aufgestellt ward (erster Advent erst in knapp zehn Tagen), beziehungsweise, ob das mit den künstlichen Materialien wirklich sein müsste (Gäste von außerhalb Fragezeichen). Aber dann kam, als Streitschlichter: der Kartoffelsalat in einer Extraschüssel (in Äthiopien nennt man ihn den Ahmadjad, und ohne ihn geht wirklich gar nichts im öffentlichen Leben, weshalb Äthiopier i m m e r zu dritt anzutreffen sind (»Wenn zwei sich streiten, schlichtet der Dritte« lautet ein dementsprechendes Sprichwort der Ä.)

Jetzt habe ich bloß noch ein Problem, ich bin mehrfach deswegen aufgewacht, konnte es aber nicht lösen, weil meine räumliche Vorstellungskraft scheinbar seniorentellerhaft abnimmt. Wenn ich mir nachher den Stausee bei Bad Orb ganz in Ruhe anschauen will und es sich sowohl bei Stuttgart als auch im Falle Frankfurt am Mains um einen Sackbahnhof handelt: Setze ich mich dann in Stuttgart in oder entgegen der Fahrtrichtung auf einen Fensterplatz, sowie: auf welcher Seite dann? In oder entgegen der Fahrtrichtung links oder rechts?

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