»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

9.12.

Dieses herrliche Einkaufszentrum! Gestern, eigentlich hatte ich bloß Glühbirnen kaufen wollen, war ich dort schon um kurz nach neun. Um dann aber festzustellen, dass die Geschäfte erst ab zehn geöffnet werden würden. Ohne leider und zu müssen, übrigens. Es gibt keinen mir bekannten Ort in Deutschland, der von Menschen gemacht wurde, und der eine vergleichbare Anmut besitzt wie dieses Einkaufszentrum eine halbe Stunde vor der Ladenöffnungszeit. (Apropos: Stellen Sie, liebe Leser, sich doch bitte vor, gerade jetzt, da Sie diese Zeile mit der Anmut und dem Einkaufszentrum lesen, schöbe sich von oben her ein tannengrünes Schild ins Bild, auf dem dann nach einem einleitenden »Entschuldigen Sie die Störung« die Redaktion waahr um Spenden bitten würde. Ist mir eben genau so auf Wikipedia passiert, als ich kurz nachschauen musste, wie der Terminus technicus für die Öffnungszeiten für Geschäfte, Läden u.ä. lautet. Also ich finde das aufdringlich. Unangenehm. Zumal ich nicht unbedingt auf Wikipedia hatte nachschauen wollen, ich gab das Suchwort Ladenöffnungszeit bei Google ein. Wusste es eigentlich eh schon vorher et cetera.)

Der Grundriss des Gebäudes ist dem Ausschnitt aus der Silhouette einer kurzen, dafür extrem breiten Schlange nachempfunden, die sich gerade voranschlängelt. Darauf bauen sich zwei Stockwerke auf, in denen – das weiß ich seit gestern; es wurde mir mitgeteilt in jenem magischen Moment, den ich hier mit seinen Facetten zu beschreiben versuche – 170 Geschäfte untergebracht sind. Snackbars, Nailbars, Saturn, Turnschuhe, Rewe, dm, alles. Sogar eine Filiale des von mir so extrem geschätzten schwedischen Dekoladens Flying Tiger (wenn auch mit einem, im Vergleich zu dem in Schöneberg, empfindlich reduzierten Sortiment). Ein zentral im Erdgeschoss (das hier weltmännisch Grundebene sich heißt) aufgestellter Geldautomat, gibt die Scheine wahlweise in Schweizer Franken, US-Dollar oder eben Euro aus. Es ist dort, vor Beginn der Ladenöffnungszeit, still. Nur wenige Männer sitzen in den Wartezonen auf kurzen, mit genarbtem Kunstleder bezogenen Polsterbänken. Sie warten jeweils vor den mit eisernen Rollgardinen (ich schaue jetzt n i c h t mehr nach, weil ich nichts spenden w i l l !!!) verhängten Eingängen zu den Geschäften, die vor Beginn der Ladenöffnungszeit (damit hat sich jetzt meine Spende amortisiert) noch geschlossen haben. Ihre wenigen Besitztümer: Schlüsselbund (werden auch immer dürrer, seit es Codekarten und Systemschließanlagen gibt), Smartphone, Riesenkaffeebecher breiten sie auf dem Polster neben sich aus. Die Jacke lassen sie an. Den Schal auch um, obwohl es vor der magischen Stunde schon angenehm temperiert ist in den Gängen des Einkaufszentrums. Männer mögen keine Handtaschen. Viele lehnen sogar die offizielle Alternative Umhängetasche ab. Die meisten Männer haben sich aber gleichwohl von der althergebrachten Aktentasche abgewendet. Männer sind halt nicht nur in Bezug auf ihre Haltung den Taschen gegenüber wie traurige Geheimagenten, da hatte und hat Clemens J. Setz halt recht. Ob dem so sein wird?

Kunsthistoriker werden in dreitausend Jahren anhand der Ruine des Einkaufszentrums einen klugen Vergleich ziehen wollen hinsichtlich dem Grundriss (Schlangen dann vermutlich ausgerottet und, wie von Philip K. Dick prophezeit, allenfalls als verbesserte Nachbauten erhältlich; Sünde demnach auch bloß noch mimetisch empfunden – aber was heißt schon bloß noch; wer weiß, wie das dann kicken wird) und Hogarths Line of Beauty and Grace. Momentan befinden wir uns noch zu nah dran am 17. Jahrhundert (Die Lebensdaten Hogarths weiß ich ungefähr auswendig. Was mir größere Schwierigkeiten macht, ist die Umrechnung von Viererkombinationen in Jahrhunderte: 1856 beispielsweise: welches Jahrhundert? Bin dann immer versucht, 18. zu sagen, weil eine 18 die Kombination einleitet), um die Schönheit des Einkaufszentrums nüchtern sehen zu können, ungetrübt von den letzten zweihundert Jahren Malerei und Skulptur. Von daher kommt es uns mit seinen geschwungenen Gängen, den vogelnestartig über die armierten Brüstungen hängenden Sitzblasen, den Skeuomorphismen allerorten, den von innen nicht etwa traditionell ausgemalten oder blattvergoldeten, sondern violett verspiegelten Kuppeln und den Ausblicken hier und da auf getönte Stadtlandschaften und himmelhohe Türme einfach nur postmodern vor. Das ist momentan noch der einzige Begriff, den wir uns dafür gegeben haben. Aber in dreitausend Jahren! Da wird diese Epoche exakt und sehr fein in ihre Phasen zerlegt und beschrieben sein, dass es eine Lust sein wird, uns zu studieren.

Es war dann so, dass zu der Zeit, da die magische Stunde in dem Einkaufzentrum kurz zuvor stand, sich an dem Stand mit der Überschrift »Deluxe Döner« drei frisch aufgesteckte Dönerspieße sich vor keinem Publikum, und kein Tresenangestellter weit und breit zu sehen, nur für sich alleine drehten. Geräuschlos. Ein mechanisches Ballett. Wie einst von Sven Väth, dem großen Schamanen, Sohn der Stadt Frankfurt, in deren Mitte dieses Einkaufszentrum mehr gelandet schien als errichtet, prophezeit, als er sein den Techno zugleich beendendes und neuschaffendes Album nach diesem Moment of Beauty und Grace, dieser drei grazienhaft sich um sich drehenden Dönerspieße im menschenleeren Einkaufszentrum, schon so benannt hatte: The Harlekin, The Robot, The Balletdancer. Auch hier schon: Entwicklung. Auch hier: Zukunftsoptimismus. Auch hier, letztendlich: A Line of Schönheit und Anmut. Und dann: Eine sirihaft weibliche Stimme ertönt. Es gibt keine Schluckgeräusche, keine Atempausen mehr. Sie heißt die Besucher des Skyline Plaza Centers willkommen: »Alle 170 Geschäfte sind ab sofort für Sie geöffnet«. Und währenddessen heben sich mehr oder minder geräuschlos, aber synchron, sämtliche der eisernen Rolltore und geben den Blick auf die dahinter sich formierenden Verkäuferinnen frei. Die Wartenden erheben sich von ihren Bänken. Die Stimme aus den zahllosen Lautsprechern auf den bis eben noch menschenleeren Fluren des Einkaufszentrums wünscht einen schönen Tag. Im Anschluss läuft Lana Del Rey.

8.12.

Fremde Städte lassen sich am schönsten vom Sortiment ihrer Supermärkte her erschließen. Sozusagen in einer Archäologie der Gegenwart, als die einst DJ Shadow seine Methode beschrieben hat. Zugegebenermaßen habe ich damit zunehmend Schwierigkeiten, da sich die Sortimente aneinander angleichen – das Angebot in einem Supermarkt in Manhattan unterscheidet sich nicht mehr groß von dem eines Supermarktes in Berlin (um jetzt nicht eine völlig grotesk an den Haaren herbeigezogene Stadt wie Lima bloß um ihres grotesk an den Haaren Herbeigezogenseins willens zu nennen); allenfalls unterscheiden sich ländliche Supermärkte in der Republik Kongo noch deutlich von denen auf St. Helena, was dann wiederum in beiden Regionen mit der jeweils spezifischen Beschaffungsproblematik zu tun hat (und nicht etwa mit dem theoretisch verfügbaren Angebot, beziehungsweise mit der über das Internet selbst in abgelegensten Regionen geweckten Nachfrage danach).

Hier jedenfalls, in der Frankfurter Innenstadt, gibt es einen diesbezüglich für mich hochinteressanten Supermarkt, weil er, also man dort, die Mangelwirtschaft Bulgariens abbildet. Es ist also eher kein Supermarkt, sondern ein Laden, der keinen in einer für mich lesbaren Schrift dargestellten Namen hat, also - wie ein Frisör ohne Namen in Berlin - als Laden ohne Namen in Frankfurt Erwähnung finden soll. Im Eingangsbereich, wo ansonsten noch in Knisterfolie verpackte Cremetorten gelagert werden, stehen einige wenige Kisten mit Weißkohlköpfen, in grün und rot melierten Paprikaschoten, Gemüsezwiebeln und losen, mit einer erdigen Staubschicht umschlossenen Kartoffeln herum. Dazwischen drei, nicht ineinander geschobene Einkaufswagen. Dann gleich Alkoholika, aber nur wenig. Auch die Auswahl eher lustlos: warmes Bier (die Coca-Cola- und Spriteflaschen werden in einem Kühlschrank mit Werbeleuchtschild von Coca-Cola präsentiert), Pfefferminzlikör (oder Schnaps, ich konnte es nicht lesen, aber die Farbe der Flüssigkeit deutete auf Pfefferminze hin), Wodka (oder etwas ähnlich Klares), sowie der in der DDR unter Schriftstellern und Theaterregisseuren* beliebte, nicht aber begehrte bulgarische Rotwein. Dann noch etwas Wurst, also Dauerware, die selbst für einen extremen Wurstfreund wie mich einen extrem bedauerlichen Eindruck machte (aber jede einzelne davon noch appetitlicher als die angebliche Spezialität in Hessen Ahle Worscht), kaum Käse (und wenn schon mal, dann lag er in Salzlake versunken), viele Süßigkeiten. Etliche Regalmeter blieben leer, um, wie gesagt, die heimische Mangelwirtschaft Bulgariens abzubilden. Ich hatte auf Petersilie gehofft, kaufte dann Liebstöckel, getrocknet, die Tüte zu 39 Cent. Zwar war mir durchaus bewusst, dass die Grüne Sauce größtenteils aus frischen Kräutern zu bestehen hat, aber was sollte ich machen, wenn es nun mal keine gab?

Bei Penny übrigens auch nicht. Obwohl der, Stichwort Archäologie der Gegenwart, lediglich von einer vierspurigen Schnellstraße (Symbol für die Zeit) getrennt auf der anderen Seite ein und desselben Stadtviertels lag, stand, sich befand. Dort, ich müsste es absichtlich verschweigen, um keine politische Aussage zu treffen, aber es war tatsächlich so und trug sich folgendermaßen zu, dass im Supermarktradio eine männliche sirihafte Stimme die den feierabendlichen Alkoholkauf untermalende Muzaq unterbrach, um mit einem »Liebe Pennykunden« anzuheben. Dann fuhr sie fort: »Es ist Weihnachtszeit bei Penny. Um Sie und Ihre Lieben zu verwöhnen, haben wir diese Woche im Angebot das dreilagige Toilettenpapier Happy End mit himmlischem Spekulatiusduft und Weihnachtsbaummotiven«.

Ganz klein, in die Ecke gedrängt vor einem Notausgang, entdeckte ich ein Gebinde billigen Apfelweins in PET-Flaschen. Auf den Etiketten stand in silberner River-Cola-Typo auf weinrotem Grund Stöffsche.

Na gut. In der die beiden Welten verbindenden Gass‘ schaute ich mir dann gerade die Auslag‘ eines extrem dubiosen Ladens an, der gefälschte Telefonkarten, aber auch geklaute Telefone und Computer im Schaufenster hatte, da hielt direkt neben mir und entgegen der legalen Fahrtrichtung dieses Einbahnsträßleins ein Maserati Dueporte mit einem extrem kurzen Frankfurter Nummernschild (F-F 6). Der Fahrer, ein mich um einen Kopf überragender Mann, schaute mich auch an, nachdem ich ihn wohl zu lange bereits angeschaut hatte. Dann machte er eine Kopfbewegung die übrigen Autos am Straßenrand betreffend: »Einbahnstraße oder was?«

»Ja«, sagte ich. »Macht aber nix!«

»Ernsthaft! Seit wann?«

»Seit gestern.«

»Echt!«

»Nein, nein, war nur Spaß. Ist schon eine Weile so.« Und fühlte tatsächlich Erleichterung, als er mich sozusagen vom Haken ließ und beinahe herzlich wurde: »Ändert sich ja dauernd hier, Scheiß.«

*Quelle: Das Leben der Anderen, BRD 2006

7.12.

Rehe in Landschaft mit Sonnenuntergang, gemalt von Anton Zwengauer: Vor diesem Bild blieb ich im ersten Nebenraum des Städel Museums lange stehen. Von weiter her hatten mich die im Spiegel des Sees dargestellten Farben des Sonnenuntergangs angezogen. Das Bild, die Farben vor allem, erinnerten mich an daheim. Gleich daneben hing der mir liebe Rosenfreund von Carl Spitzweg. Entstanden im selben Jahr wie Zwengauers Gemälde. 1848 war also ein gutes Jahr für die Malerei. Und so sehr ich das Städel Museum gut finde, mit der Bildbeschreibungstafel für den Rosenfreund war ich nicht einverstanden. Wer auch immer die verfasst haben mochte, es wird dem an einer Rose schnuppernden Wanderer dort Voyeurismus unterstellt! Das lässt sich, ganz eventuell und mit sozusagen erotomanem Willen in die Komposition hineinlesen (im, auf dem Original übrigens im Vergleich zu meiner Postkarte, noch einmal doppelt sinister verschatteten Garten, ist ja ganz weit hinten im Schatten eine Frau auszumachen, die sich, wenn man so will, von einer anderen Gestalt, könnte ein Mann sein, stützen, eventuell sogar umarmen lässt, während dahingegen im vom letzten, geradewegs im scheiden begriffenen Sonnenlichte, das den an diesem schatt’gen Grundstücke vorbeiführenden Pfad noch streift, der Rosenfreund, ein im übrigen, es ist ihm anzusehen, unbescholt’ner junger Mann mit einem Stapel Bücher in der linken Hand, die er im Rücken hält, um sich zu stützen, zum Zwecke dass er an die dort am Zaune zum schatt’gen Grund emporrankenden Rosen schnuppernd sich erquöcke), doch wozu?

Hat möglicherweise etwas mit der museumspädagogischen Haltung des Hauses zu tun, die Themenausstellung Geschlechterkampf, derentwegen wir auch gekommen waren und die nach diesen ersten, Altmeister wie Carl Spitzweg und Anton Zwengauer ausstellenden Räumen beginnen sollte, war jedenfalls ebenfalls auf der textlichen Ebene etwas boulevardesk geführt. Das Treppenhaus ist mit Zitaten aus Zeitschriften und Zeitungen tapeziert, die irgendwie zusammenhängen, weil es in den Textstellen jeweils irgendwie um Männer und Frauen geht bzw. ging. Man hätte also in dem Stile vermutlich sogar ganz Frankfurt, ja sogar die unter Journalisten beliebte Strecke vom Planeten Erde bis zum Trabanten Mond und wieder zurück tapezieren können; ein anderer Serviervorschlag bestünde darin, sämtliche Textstellen ohne Quellenangaben zu einem einzigen Text zu montieren und den als einen die Ausstellung begleitenden Essay abdrucken lassen.

Die gezeigten Bilder hingegen sind überwiegend interessant und oft auch sehr schön. Ich kannte Leo Putz auch gar nicht, vor dessen Gemälde Der Schneckenkampf mich erneut das Heimweh kurz ergriff. Die Zusammenstellung konzentriert sich auf die ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es gibt ein ganzes Kabinett mit den tollen Bildern von Franz von Stuck, den ich verehre. Unter anderem ist Die Sünde zu sehen, die ich zuvor noch nie im Original vor mir hatte. Die Materialität der Schlange, also wie das die Schlange im Zickzack überziehende matte Narbengewebe sich absetzt von der wie schleimig glänzenden Schuppenhaut (Victor Hugo stellte sich den Sternenhimmel als eine Schlange vor, von Sternen geschuppt, die nächtens ihren Leib um unsere Erde enger zieht wie um ein Ei) und dann noch einmal mit demselben Pinsel gemalt: vom winzigen, dafür umso kostbarer funkelnden Aug‘. Und wie das Gesicht der Sünde dort im Dunkeln glüht!!! Und es gibt das Bild eines Künstlers namens John Collier, Porträt der Klytämnestra kurz nach dem Zerhacken Agamemnons. Collier, der Engländer war, malt die Frau mit Doppelbeil (angeblich ja ein Symbol für sapphische Präferenzen?) wie nach den neuesten Erkenntnissen der Profiler mit hängenden Schultern (angeblich macht das Töten ja angenehm müde, vergleichbar mit dem Verlangen nach einem Chillout nach dem Rave), das Blut sickert zwischen grandios gemalten Marmorfliesen in einen Spalt, aber besonders sind vor allem Licht und Farben: Das Bild sieht aus wie ein Standbild aus Ben Hur, also von der Farbigkeit her, aber gab es denn da überhaupt schon farbigen Film? Irritierend jedenfalls. Aber auf eine sehr gute Weise. Man schaut es immer wieder und das gerne an. Auch von weitem noch. Durch die Flucht der Räume. Wie um Abschied zu nehmen. Weil es ja dort hängen bleiben muss.

Museumsshop größer als das Museum selbst. So ist sie halt, die Zukunft. Es hätte schlimmer kommen können für die Kunst. Passend zur Ausstellung gibt es Geschlechterkampftee. Riecht schon durch die Tüte irgendwie oll. Am Kaffeetresen empfiehlt uns der freundliche Barista ein Buch. Ohne dass wir uns ihm vorgestellt hätten. Le Corbusiers Sustainable Cabin im Birkhäuser Verlag. Sehr schönes Buch. Über Hütten für zwei, die man an schönen Orten aufstellen kann. Könnte. Wie kommt er darauf? Draußen ist der Nebel mittlerweile von den dreißigsten Stockwerken auf die zwölften herabgesunken. Man weiß schon beinahe nicht mehr, in welcher deutschen Großstadt man sich gerade befindet. Jemand hat den Platanen ein Leid getan. Und zwar allen dasselbe.

6.12.

Geräusche raten im Bett, noch bevor es hell geworden ist: Was die dazugehörigen Menschen wohl machen?

»Krch-ch-ch-kh, krch-h-h-ckh!«, kann ja nicht gerade vieles, aber doch einiges sein. Liegt noch ein bisschen Nachhall drunter (der Nachbar schlägt die Haustür zu wie einen Gong im Buddhistenkloster), wird es eine Schippe sein, wahrscheinlich also von der Baustelle gegenüber das Geräusch, wo – von der Zeit her könnte es hinkommen – ein Bauarbeiter* mit der Schippenrückseite nach oben über den Asphalt schabt, um mit der Schippenkante etwas, vielleicht Dreck, der aus den Stollen des Planierraupenreifens gebrochen dort festgebacken liegt, zu lösen.

Kein oder wenig Nachhall: dementsprechend kleine Schippe. Winzlingsschippe: ein Eiskratzer nämlich zum Windschutzscheibenfreikratzen. Es ist ja so kalt. Gestern, wir waren gerade auf dem Weg zum Weihnachtsmarkt, der ja einer der ältesten in ganz Deutschland sein soll, fing es kurz nach 18 Uhr an zu schneien. Der erste Schnee in diesem Jahr! Sanft und eher tanzend als rieselnd wurden die feuchten Flöckchen im orangefarbenen Licht einer Straßenlaterne sichtbar. Dann kam die Bahn. Als wir inmitten des Weihnachtsmarkt durch den Schacht der Rolltreppe an die Oberfläche befördert wurden, war es mit dem Schneien schon wieder vorbei. Es wird aber wiederkommen. Auch heute morgen riecht es schon danach.

Weihnachtsmarkt ansonsten sehr gut. Insbesondere der historische Kern auf dem Römer auf Höhe des tollen Wandmosaiks, wo ein Riesenvogel die Kreuze aus den Gräbern zieht und gen Himmel schickt. Die Outskirts des Marktes in Richtung Zeil werden stilecht dann zunehmend ghettohaft, aber das ist ja mittlerweile überall so. In Berlin gibt es ja nur einen einzigen erträglichen Weihnachtsmarkt, das ist die gated Weihnachtscommunity auf dem Gendarmenmarkt, wo Eintritt verlangt wird, und sämtliche Geschäfte in auf einem Raster (Methode Mannheim) ausgerichteten orientalischen Schlumpfzelten auf die zahlenden Besucher warten. Da stehen dann original sächsische Glasbläser bereit, um ihr mundgeblasenes Glas zu verkaufen et cetera. Gibt natürlich auch Currywörscht. Im Idiotikon des Berlinischen, das ja unter den Mundarten eine Sonderstellung einnimmt, immerhin!, weil es als ein Soziolekt begriffen werden muss, steht freilich Cürriwourst. Hier hingegen bekam ich gestern am Stand des Eberhardts meine erste Rindswurst**. Ganz was eigenes. Ich bin zwar weiterhin der Meinung, dass die Stuttgarter Rote die (leider) ungekrönte (doppelt leiderdings auch: ungekrönt von den Stuttgartern; man unterschlägt dort einfach ihre Delikatesse, so wie man auch im Feuilleton der Stuttgarter Zeitung, das ja nicht immer schon so belanglos war, traditionell die in Stuttgart schaffenden Schriftsteller unterschlagen hatte; dass man es mittlerweile nicht mehr tut, und sich beispielsweise der Existenz von Anna-Katharina Hahn dann rühmen tut, beweist halt trauriger- und beinahe schon perverserweise, dass es mit der Seriosität der Stuttgarter Zeitung abwärts gegangen ist und geht) Königin unter den Bratwürsten Deutschlands ist (in Frankreich rühme ich die Merguez!); Frankfurter Rindswurst aber ab jetzt auf Platz zwei. Züricher Cervelat auf Platz drei.

Dann lange, lange nichts. Aber dann, ganz wichtig: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, lieber Peter Handke!

* Es wird übrigens kein Platz, es wird ein Haus!

** Die Detailrankings meines umfassenden Rindsworschttestessens, sowie meine dezidierten Ansichten zur unseligen hiesigen Tradition, den Apfelwein erhitzt auszuschenken, folgen in der Wochenendausgabe Escape from Mainhattan des Tagebuchs 2016—The Year Punk Broke.

5.12.

Ein Platz wird gebaut in der Frankfurter Innenstadt. Die Geräusche der Baumaschine dringen von weit her durch die geschlossenen Fenster. Als Abwechslung finde ich es schön, wenn es morgens mal nicht still ist draußen. Die Maschine ist, ohne aus dem Fenster zu schauen, schwer bis unmöglich vorzustellen. Die Geräusche klingen lange erst so, als ob es sich um eine Maschine handelte, die etwas Schweres, Klumpiges aus Eisen zwischen zwei aufrecht stehenden Platten aus Eisen hin- und herschüttelt wie einen Klöppel. Dann entsteht eine Pause und es rührt und röhrt nur der Motor. Es wird vollkommen still und dann werden übergangslos und kurz hintereinander eiserne Röhren, in etwa zweieinhalb Meter lang, die einen Durchmesser von 50 Zentimetern haben, eine kurze Rampe hinuntergerollt. Daraufhin noch einmal der Motor in seinem geräuschvollen Leerlauf. Und das Ausschütteln von eiserner Schmutzwäsche aus einer eisernen Tüte. Es sieht so aus, als ob rings um den Platz schwarz lackierte Poller in den Erdboden eingelassen werden. Vor einer Häuserwand steht ein Erdbohrer bereit. Außer einem kleinen Bagger ist keine weitere Maschine zu sehen.

Gestern waren im Palmengarten die Becken und Teiche dünn vereist. Da mit der Stiefelspitze vorsichtig aufdrücken und dieses langgezogene Quietschen, bevor das Eis ins schwarze Wasser bricht – die Sonne schien aus klarem Himmel, an dem der dünne Mond erschienen war. Ein Kondensstreifen führte durch sein Bild hindurch, als ob er daran aufgefädelt würde. Es gab natürlich noch so einige Kondenstreifen zu bewundern, bevor es dann dunkel wurde (übrigens weit später als in Berlin; es bleibt hier länger hell am Nachmittag, weil Süden vermutlich). Ich dachte an das I Ging, das im letzten Sommer gesagt hatte, dass der Südwesten Rettung bringen wird. Wie kann das sein?

Eine junge Frau und ein junger Mann, beide aus Russland (zumindest werden sie Russisch angesprochen von einem Fotografen mit professionell wirkender Kamera) posieren im letzten Sonnenlicht. Hier werden die Spielszenen für eine Pornogeschichte ausfgenommen. Das sieht man den Posen, das sieht man der Kleidung (vor allem seiner!) deutlich an. Der Fotograf ordnet ihr an, vor einem teils bereiftem Rosenbusch niederzuknien und eine dort im Sonnenlicht hängende Rosenblüte mit spitzen Fingern an ihr Gesicht heranzuziehen. Sie soll dort im Knien vor dem Rosenbusch die Rose zwischen die Lippen nehmen, während ihr Begleiter etwas abseits neben ihr steht und ihr die Hand tätschelnd an den Hinterkopf legt.
Denkbar, dass die Nackthandlung dann in einem der Gewächshäuser inszeniert werden würde, weil es dort drin hot and steamy zugeht, aber praktisch wird es dann doch die Behindertentoilette des Café Siesmeyer oder halt ein Hotelzimmer geworden sein, weil in den Gewächshäusern des Palmengartens herrschte sonntäglicher Publikumsverkehr comme d’habitude.

Ansonsten aber nur wenige Passanten zwischen den schönen Häusern. Komisch, dass mich die Architektur, sogar oder gerade die des Einkaufscenters hinter dem Messeturm, noch einmal ganz anders ergreift, wenn es kalt ist (und alles Lebendige entweder drin bleibt, oder erstarrt; die Nilgänse jedenfalls, die ich in einer kleinen Anlage dort sah, standen wie geschnitzt auf ihren dicken roten Beinen herum).

Früh zu Bett mit der Nachricht von Norbert Hofers Niederlage in Österreich. Endlich mal eine gute Nachricht. Mal wieder.

4.12.

Freilich habe ich mir dann doch noch einen kleinen Scherz erlaubt mit meinen beiden Schnecken. Und zwar einen practical joke, einen, wie es nicht erst mittlerweile heißt, prank – ich bin mir leider sicher, dass sie ihn nicht verstehen werden. Aber was soll’s! Ich stelle es mir so dermaßen lustig vor, aber leider werde ich ja nicht zugegen sein können, wenn die Sache steigt, die Bombe platzt gewissermaßen und von daher stellt sich jetzt die Frage, ob ein Witz auch witzig sein kann, wenn ihn niemand mitkriegt, also an sich? Daoisten wie Jorge Luis Borges fällt dazu vermutlich der Sound of one Hand clapping ein.

Ich hingegen habe den Schnecken ein rohes Ei unter ihre Kuppel gelegt. Sie sind ja ganz verrückt nach Kalk und fräsen jede Woche den Gipfel einer Frühstückseierschale kurz und klein. Nun, da sie allein zu Hause sind, werden sie sich nach dem Zerschleimen des Gemüsebergs mit Wonne auf das monolithisch umherkullernde Ei stürzen, um dessen Schale wie gewohnt mit ihren unermüdlichen Radulen zu beackern. Dass diese ihre Knochenschaufelräder scharfzackig sind, erwähnte ich ja gestern bereits. Um dann aber, hier kommt der Prank mit dem Arbeitstitel Après nous le Déluge, nach ein paar Tagen durch die Schale zu brechen wie üblich. Gänzlich neu wird ihnen dabei sein, dass ihnen aus dem Raum hinter dem Loch in der Eierschale, aus dem Eiinneren also, eine Riesenmenge zimmerwarmen Schleims entgegenquellen wird (ob Schnecken mit ihren Fühlerpünktchen Farben sehen können, ist noch nicht erforscht). They met their master, so to say. Das ließe sich jetzt ewig weiterspinnen, ob dann die von Eiklar gänzlich verschütteten Schnecken in diesem Ei, aus dessen Schoß quasi die Schleimmassen quollen, ihren Gott und Überschneck erkennen wie einst die Ewoks auf dem Waldplaneten Endor im goldenen Roboter C3PO den Ihrigen et cetera. Aber es wird ja leider, wirklich leider so sein, dass ihnen zur Epiphanie der hierfür nötige Geist fehlt. Schleim zu Schleim gewissermaßen.

Ich finde es trotzdem derart lustig. Also die Vorstellung! Mir hat sie die ganze Bahnfahrt versüßt (und den Rest besorgte der sogenannte Relaunch des Bahnmagazins Mobil), wie ich mir diesen tunnelhaften Moment des Durchbruchs in Makro und unter der Zeitlupe wieder und wieder in Gedanken habe vorspielen lassen: Wie das Eiklar mit monströs gedehnten Quellgeräuschen aus dem Loch lappt und beide Schnecken (mit winzigen golden spiegelnden Bauarbeiterhelmen auf) gurgelnderweise mit sich reißt. Dagegen war die arme Kuh, die neulich auf meiner Rückfahrt auf Stuttgart vom ICE überfahren wurde, geradezu gar nichts. Wobei: ein bisschen halt doch (aber auf der Fahrt zum Bahnhof hatte ich in der S-Bahn neben einem Mann Platz genommen, der eine Augenbrauenprothese auf hautfarbenem Plastik montiert trug (darunter, sie saß nicht ganz perfekt, lag schwarz im Schatten seine Augenhöhle ohne Augapfel drin, das war ganz schön gruselig!)).

Vor dem Fenster draußen, wir hielten in Wolfsburg, stand der Rauch wattehaft über den Schornsteinen des schönen ziegelbraunen Komplexes. Ein Sonnenuntergang in Grün und Gelb durch staubige Scheiben. Die in Orange beleuchteten Outskirts von Hildesheim. Dann Stadt des Wissens. Ich vervollständigte die zarte Silhouette des Mondes mit der Zeigefingerspitze in die Luft malend zu einem in Schreibschrift geschriebenen Z (also nahm er zu und es würde schon bald wieder mal Vollmond sein). Kurz vor Fulda (die Barockstadt hat einen neuen Zusatznamen und nennt sich jetzt auf den Bahnsteigschildern »Voll da! Fulda.« (Abb. Emoji »Face with Medical Mask«) hielten wir ohne erläuternde Lautsprecherdurchsage zehn Minuten lang bei schlechten Lichtverhältnissen auf freier Strecke an. Ich dachte natürlich sofort an die Kuh und musste als einziger lachen im Ruheabteil. Danach ging wieder das mit den Schnecken los. Als wir die Kinzigtalsperre passierten, war es kohlrabenschwarz, still, finster und Nacht.

Hallo, lieber zweiter Advent.

3.12.

Probleme der Haustierhaltung: Gestern auch sehr schön in dem Film von Sonja Heiss auf Arte, Hedi Schneider steckt fest, in dem eine junge Frau nach drei Tavor und einer halben Flasche Obstler in einer Zoohandlung nach einem Hasen verlangt: »Ich will einen Hasen«. Zuvor hatte ihr der Verkäufer dort ein Chamäleon angepriesen: »Aus dem Jemen. Das hat geile Farbwechsel« (das Drehbuch auch von Sonja Heiss und total genial, bis auf den Schluss, die letzten zwanzig Minuten, aber wie Jan immer sagt: der Schluss ist wurscht), wohingegen sie, nachdem die chemisch induzierte Welle einer Sympathie für das Chamäleon vom Bauch ins Hirn durch sie hindurchgeschwappt ist, erinnert sich an seine Worte, dass ein Chamäleon nicht wirklich zutraulich würde und danach geht in ihr der Wunsch nach einem Hasen auf. Laura Tonke spielte diese Frau (toll auch ihr Gluckluckgluck mit einer Flasche Bratkartoffelbier; überhaupt der Score in diesem Film (Lambert), und auch so sonst alles, jede Szene erfreulich und schön).

Als ich vor ein paar Wochen schrieb, man dürfe Schnecken nicht länger als vier Tage alleine lassen, schrieb mir daraufhin Wolfgang Ullrich, noch nicht in direkt kondolierender Absicht, aber schon in einem mitfühlenden Ton, da ich mich offenbar missverständlich ausgedrückt hatte. Ein bisschen Übertragung wird dabei eine Rolle gespielt haben, denn ihm war zur selben Zeit während seiner Abwesenheit seine grüne Raupe gestorben. Eingegangen: Bei Raupen passt dieses Wort ausnahmsweise, es sieht tatsächlich so ähnlich aus. Und das ohne ersichtlichen Grund, da liegt für den Halter, aus menschlicher Perspektive, ein Kummertod nahe. Selbstmord scheidet bei Raupen aus, weil sie sich in einem Terrarium nirgendwo runterstürzen können und selbst bei maximaler Krabbelgeschwindigkeit wohl tausendmal gegen die gläsernen Wände sich rammen könnten, ohne dass ihnen ein lebenswichtiger Knochen bräche oder bricht. Weil sie gar keine haben.

Meine Schnecken hingegen sind wohlauf. Und waren es auch bei meiner Heimkehr nach tagelanger Abwesenheit neulich, allerdings hatten sie ihre von mir für sie geschaffene Welt vollkommen zerstört. Schnecken sind, ihrem anschmiegsamen, durch und durch weichen Wesen wie zum Trotz: ziemlich stark. In den Schneckenforen werden Novizen auch darauf hingewiesen, dass eine Schnecke das fünfzehnfache ihres Lebendgewichtes stemmen kann. Meine Schnecken wiegen mittlerweile jeweils so viel wie eine Standardpostkarte samt Marke und Tinte, also gibt es abgesehen von der ihr Schleimarium begrenzenden Glasschüssel nichts in ihrer Welt, was ihrem unergründlich bleibenden Willen im Wege bleiben müsste. Dazu kommt, das musste ich neulich nach meiner mehrtägigen Abwesenheit feststellen, eine zersetzende Komponente im Schneckenschleim. Die Schnecke produziert sozusagen, wo sie geht und steht diesen Schleim, auf dessen Film sie sich fortbewegen kann. Bei täglicher Reinigung fällt das nicht auf, aber die auf Salatblättern, Salatgurken hinterlassene Schleimspur zersetzt das organische Material rapide, bis schließlich nach drei bis vier Tagen alles zu Schleim geworden ist. Wolfgang Ullrich gegenüber verwendete ich den Begriff Midasschleim, der das Phänomen zu beschreiben hilft. Mit Nietzsche gesprochen, ist grün alles, was die Schnecke fasst, und Schleim alles, was die Schnecke lässt.

In der einzigen mir bekannten Verfilmung des Lebens mit einer Schnecke als Haustier, Spongebob Schwammkopf, gibt es, obwohl die Serie unter Wasser spielt, hin und wieder Episoden, in denen die verderbliche Wirkung des von Gary abgesonderten Schleims thematisiert wird. Allerdings füttert der hosentragende Schwamm seine Schnecke mit einem Trockenfutter aus der Tüte. Mal davon abgesehen von der Frage, wie sich Trockenfutter unter Wasser in den Schneckenfutternapf streuen lassen soll, wird auch dieses Futter von der Schnecke in Schleim verwandelt werden. Allerdings spart die Verfilmung dieses unappetitliche Detail aus. Die Schnecke wiederum wird es nicht unappetitlich finden. Darauf weist Giorgio Agamben bereits hin in seinem Essay Das Offene – Der Mensch und das Tier, wenn er das Bild von der honigsaugenden Biene anführt, der während ihres Trinkens der Hinterleib abgetrennt wird mit einem Skalpell, das Insekt aber ungerührt weitertrinkt, wobei ihr inzwischen der Seim aus dem geöffneten Rumpf quillt. Agamben führt das Beispiel aus zu seinem Begriff des Benommenseins des Tieres von seiner Umwelt – vergleichbar mit der Frau in Sonja Heissens Film, die Drogen im Blut hat und den kuscheligen Hasen im Arm. Es lässt sich durch den gravierenden Einschnitt in seine Welt, den Körper, nicht ablenken, weil es im Moment der Nahrungsaufnahme eins geworden ist mit der Welt der Nahrung, sich also nicht nur als dieser Welt zugewandt erlebt, sondern zu einem Teil von ihr geworden ist. Das Tier ist das Trinken, wenn es trinkt. Krasser verhält es sich da mit der Schnecke, die, um sich fortzubewegen, nicht bloß den Schleim produziert, auf dem sie fährt, sondern gleich die ganze Welt in Schleim verwandeln kann. Wenn erst alles weich und leis‘ blubbernd ihr zu ihrem Fuße liegt und gärt, existieren in ihrer ganz von Widerständen bereinigten Welt bloß noch zwei feste Komponenten: ihr Häuschen und die Radula, jenes unaufhörlich sich drehende Rad aus einem winzigen Knochen, mit dem die Schnecke alles, was uns grün scheint, in sich hineinschaufelt. Von weitem, also aus menschlicher Perspektive betrachtet, mümmelt und saugt die Schnecke an Gurkenschale und Salatblatt herum. Unter der achtfachen Vergrößerung, die mir die aufgeschraubte Makrolinse meines Fernrohres bietet, zeugt sich ein raspelndes Weiden; die Schnecke reißt und fetzt sich durch das Material. Klebt sie scheinbar müßig an der gläsernen Kuppel, geht in Wirklichkeit ein unaufhörliches wellenhaftes Pulsieren durch die Muskulatur ihres Saumes, der unter der Linse betrachtet etwas faszinierend Vaginales hat.

Tja. Obwohl es von den momentanen Temperaturen her durchaus nicht unmenschlich gewesen wäre, die beiden vor meiner Abreise ins Freie auszusetzen, konnte ich mich dazu einfach nicht entschließen. Stattdessen stopfte ich ihnen alles, was ich noch an leicht verderblichem Grünzeug übrig behalten hatte, unter die Kuppel. Es geht halt nichts über empirische Wissenschaft. On verra.

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