»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

5.2.

Der Taxifahrer, der uns vom Hauptbahnhof bis ans Hotel mitnahm, war nicht gut auf Bonn zu sprechen. Mit seiner Stadt ginge es nur noch bergab. Und das, na ja, seit ewiger Zeit. Aber was hieß schon seine Stadt – in Bonn aufgewachsen war er ja nicht, sondern als Fahrer des Schweizer Botschafters hier her gekommen, damals, in den Achtzigerjahren, als die eidgenössische Bundesrepublik noch in Bonn vertreten war. Damals – er hatte nun, um das zeitlich hinter ihm gelegene Areal erzählerisch auszuleuchten, weit ausgeholt und dazu passte, dass die Straße, auf der er uns fuhr, ihren Namen abschnittsweise änderte von Adenauer-Allee in Willy-Brandt-Allee – in jener Zeit war alles noch herrlich gewesen. Heute alles bloß Abfall. Hatte man früher von einem Haus in Bad Godesberg nur träumen können, musste man heute stets fürchten, dort tatsächlich hinziehen zu müssen. Selbst in den Bonner Stuben, einst angeblich erstklassig in der Altstadt, befände sich mittlerweile eine Shisha-Bar. Bonn, so seine Meinung, sollte sich endlich löschen.

Ein Wutbürger, ganz klar, der den goldenen Zeiten hinterher trauerte, als er mit seinem Chef, dem Schweizer Botschafter noch nach Dienstschluss den sogenannten Einkehrschwung im Nightclub Zur Dicken Bürste üben durfte. Dieser ehemalige Vorzeigeclub Bonns inmitten der Altstadt war mittlerweile geschlossen. Das Schild mit dem Pagenkopfgesicht hing sinnlos über der mit Brettern vernagelten Türe, die dazu noch mit einem Palimpsest unterschiedlichster Sprühdosenhandschriften verunziert war. Dito die ehemalige Bäckerei gleich nebenan. Sogar die Betreiber eines wohl erst kürzlich eröffneten Burgerlokals hatten ihre Ambitionen mittlerweile entnervt (vermutlich) aufgegeben. Das Mobiliar war bereits abtransportiert.

Doch die Sonne schien und die berühmte milde Rheinauenluft sorgte bei stellenweise mehr als sieben Grad für eine gesunde Euphorie, denn zum ersten Mal seit vielen Wochen war ein Ende dieses Schreckenswinters tatsächlich denkbar geworden. Es würde Frühling werden. Und so in etwa würde es dann.

In der Konditorei Müller-Langhardt wusste man sich leider nicht mehr spezifisch zu erinnern an jene Torte, die Helmut Kohl sich dort am liebsten bestellt hatte, obwohl in der Speisekarte noch Werbung mit der Naschlust des Altkanzlers getrieben wurde. Wir bestellten von daher zwei unterschiedliche Stücke, eins von der mit Stachelbeeren und Baiser, eins von der mit Haselnusssahne unter der Marzipanhaube – ganz klar: es konnte nur die letztere der beiden sein. Das schmeckt man, es funktioniert in etwa so wie beim Gläserrücken der Spiritisten, wenn man einen fraglichen Tortenfreund so lebendig vor Augen stehen hat, beinahe schon in 3D, wie ich unseren Altkanzler Dr. Helmut Kohl.

Im Mineralienmuseum, das allein die Reise wert ist nach Bonn, gab es einen Stein namens Jaspis, gefunden in Kandern, Baden-Württemberg, der sah einer schönen Leberwurst sehr ähnlich. Also einer bereits angeschnittenen. Mit rötlich frischem Kern. Die Pellenfarbe vom Typ Hausmacher. Man roch förmlich den Majoran. Ich kann mich nicht erinnern, jemals ein schöneres Mineral gesehen zu haben.

Und wiederum war draußen alles freundlich und unzerstört. Vor den Häusern der Burschenschaften hingen bunte Fahnen herunter und hinter geöffneten Fenstern gingen junge Männer mit turbanhaften Kopfverbänden umher und tranken aus Henkelbechern Kaffee. Nach einem brutalistischen Halbmeisterwerk aus den Achzigerjahren kamen wir am Haus der Tierzucht vorbei. Ein schönes Schild aus Bronze, die Versalien sauber herausgearbeitet. Circa 1956. Die Lust, nach Bad Godesberg überzusetzen, um sich die schlimmen Zustände dort vor Ort anzuschauen, von denen im Bonner Generalanzeiger im Café eben auch schon berichtet worden war, wurde davon nicht groß intensiviert. Vor dem Traditionslokal Zum Gequetschten (weil dort ein Kruzifix in einem steilen Winkel knapp über der Tür hängt, angeblich) standen einige Narren und Narralesen in ihren Kostümen und rauchten. Trotz tadellos sitzender Narrenkappen machten sie im Licht der scheidenden Sonne einen derangierten Eindruck. Aus dem Inneren des Gequetschten kam Stimmungsmusik.

4.2.

Als ich angekommen war, leuchteten die Türme in Streifen, was ich zuvor noch nie gesehen hatte, denn zum letzten Mal war ich hier in der Weihnachtszeit gewesen, nun aber mussten die Leute wieder arbeiten, die Büros blieben bis spät in die Nacht besetzt.

Am Morgen war der Himmel blau, die Vögel machten Geräusche, die auf ein baldiges Ende des Winters hindeuteten. Es ist erstaunlich, wie viel so ein Wetterumschwung doch bewirkt; einige Cafés hatten bereits die Stühle vor die Tür gestellt. Ich saß im Cafe Plank, dessen guter Kaffee mir von Thomas Meinecke ans Herz gelegt worden war. Neulich hatte man ihn irgendwo als den »Altmeister der Genderliteratur« bezeichnet, ich hatte vergessen wo, aber der Kaffee war wirklich sehr gut.

Mein ursprüngliches Vorhaben, in der Kleinmarkthalle die Fleischwurst, die dort bei Schreiber aus einer schmalen Luke heraus nach Ansage in Abschnitten, deren Länge der Kunde vermittels schieblehrenhafter Gesten (ich berichtete darüber im vergangenen Jahr) bestimmen darf, zu verkosten, war schon eine halbe Stunde früher gescheitert, und zwar daran, ganz simpel eigentlich, dass dort die Warteschlange um ein Entschiedenes zu lang gewesen war.

Nun bezeichne ich mich zwar mit Peter Handke als einen Gernewarter, aber die Schlange dort in der Kleinmarkthalle, in der Hasengasse zu Frankfurt, reichte bereits vor der Mittagsstunde um circa zwanzig Meter weit nach links; rechts neben der Luke des Schreiber’schen Wurstgeschäfts hängt ja ein Schild »Bitte links anstellen, um die Geschäfte des Nachbarn nicht zu beeinträchtigen« – von dort aus wären es noch etwa zwei Stunden bis zum Ziel gewesen.

So lange warte ich nicht auf eine Wurst.

Vom Fenster im Plank aus sah ich auf den Kebabladen der Familie Merkel, es sind Türken, die ihren Schnellimbiss dort schon seit 1986 betreiben. Damals war ich in etwa 15 Jahre alt, und im Stuttgart meiner Jugendtage gab es zwar Udos Hamburger und McDonalds, aber an einen türkischen Imbiss kann ich mich nicht erinnern. Mittlerweile hat sich das Snackverhältnis umgedreht.

»Einmal Merkel Kebab Haus
Immer Merkel Kebab Haus«

So hieß der Slogan des Unternehmens – gar nicht mal so schlimm, wenn man wie ich nicht für immer in Frankfurt ansässig sein würde. Die Kebabrübe, das hatte ich in den vergangenen Wochen frühmorgens am Savignyplatz vor Augen geführt bekommen, hat von ihrer Form und vom Charakter ihrer Fleischmasse her etwas fleischwursthaftes. Das scheint zum Ersten wie ein schwacher Trost, der, ja, ich kann es nicht anders sagen: schmelzende Geschmack des Merkel’schen Döners ließ mich alle Reue über den verpassten Fleischwurstgenuss im Hause Schreiber, an der Luke in der Kleinmarkthalle dort, vergessen. Nun fand ich es zwar auf Anhieb schade, dass hier im Bahnhofsviertel niemand Apfelwein trank zum Döner Kebab. Dann aber wurde ich von Eingeweihten zu einem Nebenbetrieb der Familie Merkel geführt. Das läuft in Frankfurt mittlerweile wie überall: In alteingesessene, prollige Institutionen ziehen neue Betreiber ein und machen etwas draus – ein ehemaliges Wasserhäuschen mit rot-weiß-gestreifter Markise am Rande der stadtauswärts führenden Allee.

Eine ausnehmend männlich codierte Szene.

Einige der Personen hatten leuchtgelbe Weste einer Frankfurter Behörde an; es ging um bereits von Eckhard Henscheid beschriebene Themen: unter anderem um das Great Barrier Reef – bei waahr.de haben wir uns von vornherein gegen Dialektschreibweise ausgesprochen, aber insbesondere Great Barrier Reef sollte man sich bei geschlossenen Augen in hessischem Dialekt ausgesprochen zu Gemüte führen.

Herbert, daraufhin: »Im 18. Jahrhundert wurden die französischen Kinder nach Australien exportiert. Der Grund war, ganz einfach: Die Franzosen hatten keine Milch mehr.«

Alexander, ein Hochaufgeschossener mit neongelbem Schal, tippte mir an die Brust. Vorausgegangen war ein kurzes Gespräch Alexanders mit der Betreiberin des ehemaligen Wasserhäuschens, das mittlerweile in der Hand der Familie Merkel sich befand.

Alexander: »Ist hinten auf?«
Wasserhäuschendame: »Musst du nachschauen.«
Alexander: »Wenn auf ist, lass ich auf. Wenn zu ist, lass ich zu.«
Wasserhäuschendame: »Genau.«

Daraufhin hatte sie das Fensterchen geschlossen, das das Innere des Wasserhäuschens mit der Außenwelt verband. Alexander erzählte mir, dass er Verleger sei. Zum Namen seines Verlages, auch zur Geschäftsordnung, wollte er mir keine weiteren Angaben machen. Aber er lächelte wissend, und während wir einen Bohnenkamp tranken, baute er einen ziemlich dilettantisch zusammengedrehten Joint. Dazu muss man wissen: Alexander und Herbert sind zusammengenommen ungefähr einhundertfünfzig Jahre alt.

Ich sagte: »Jungs, ich sehe hier tschechisches Bier vor euch stehen. Warum trinkt ihr keinen Apfelwein?« Herbert, der behauptete, Vorstand einer japanischen Pharmafirma mit Sitz in Frankfurt zu sein, umarmte mich. Alexander, seinen Joint herumreichend, trommelte sich nach Gorilla-Art an die Brust und rief: »Ich bin ein Frankfurter Bub‘!«

Das Fenster öffnete sich abermals, ich bestellte drei Flaschen Apfelwein, aber es kristallisierte sich heraus, man hatte dort keine Gläser mehr. Also längst nicht mehr. Denn es trank schon längst keiner mehr Apfelwein. Irgendwie konnten dann aber noch zwei Gerippte und ein Geblümtes aufgetrieben werden. Ein paar Runden später, das war, nachdem die Kolumbianerin vorbeigekommen war und es angefangen hatte zu regnen, übergab sich Andi, der bis dahin still gewesen war, schwallartig in die neben dem Wasserhäuschen aufgerissene Baugrube. Alexander hielt ihm die Haare aus dem Gesicht und rief dabei in meine Richtung: »Das ist der Äppler!«

3.2.

Hinaus aus der Stadt – zumindest war das mein Plan. Schon bei der Einfahrt des sogenannten Sprinters von der Hauptstadt nach Frankfurt, das ja auch eine mögliche Hauptstadt bedeutet hatte, legte die Bahn einen vorbildlichen Zahn vor: Der Zug stand eine Viertelstunde vor Abfahrt auf dem Gleis. Ich finde sämtliche Beschwerden über die Pünktlichkeit et cetera sowieso spießig. Es reist sich mit keinem anderen Verkehrsmittel so angenehm wie mit der Bahn. Und keines hat vergleichbar schön dimensionierte Fenster zum Hinaus-in-die-Landschaft-schauen, das kommt noch dazu. Es gibt, zumindest gleich nach der Stadtgrenze von Berlin, dort sehr viel zu sehen.

Ich mag Deutschland außerhalb seiner Städte. Ich mag die Flächen, die allenfalls von Überlandleitungen strukturiert werden und ansonsten ist da nichts, noch nicht einmal Wälder, bis hin zum Horizont. Der weit ist, sich über unmerkliche Hügel erstreckt, und, weil der Zug aus Berlin heraus über Halle und Erfurt in Thüringen nach Hessen führen sollte, bis dahin beinahe ununterbrochen sich zeigen kann, denn es ist ja fast alles Agrarland, eine Brache (aus architektonischer Sicht).

Autobahnen. Ich saß im Bordrestaurant und schwelgte in den Geschichten, die mir und vielen hunderttausend anderen Lesern von dem Bordmagazin Mobil erzählt wurden, das, seitdem es vor nur wenigen Wochen erst vollkommen neu gestaltet worden war, auch inhaltlich, sich vom Gratisblatt zu einer Zeitschrift entwickelt hatte, die wahrgenommen werden wollte. Und als Herausgeber eines Archivs für literarischen Journalismus ist es für mich selbstverständlich, dann dort ganz genau hinzusehen.

Draußen färbte sich der Bildrand in Kürbistönen ein, dazwischen herrschte das Wetter; in Berlin hatte es noch geregnet, eisig kalt übrigens. Der Kellner des Bordrestaurants war mit seiner Freundin auf Whatsapp. Nach drei, vier raschen Repliken rief er sie an, um sie zu fragen, ob sie sich endlich erbrochen hätte.

Unser Zug hielt an, weit noch vor Erfurt. Wir befanden uns noch nicht einmal auf Thüringer Boden, sondern in Delitzsch. Angeblich, so kam es über die Lautsprecher, war hier eine Fliegerbombe gefunden worden, die jetzt entschärft werden musste. Nach einiger Zeit des Stillstehens stiegen alle aus.

In dem Bahnhofsgebäude gab es einen Aufenthaltsraum ohne Geldautomaten. Auf dem diagonal gefliesten Boden standen eine künstliche Palme, die aus einem ausgedienten Weinfass ragte, sowie ein lackierter Stehtisch im Tikki-Design. Was an diesem Stehtisch verzehrt oder gegluckert werden sollte, blieb fraglich, weil es im Bahnhof von Delitzsch keinerlei Imbissbetriebe, oder sonst irgendetwas dergleichen gab. Hinter dem Fahrkartenschalter saß eine Frau, die professionell auf mich wirkte, die ich fragte, ob es hier in Delitzsch einen Geldautomaten gab. Sie sagte: nein.

Dann fuhr unser Zug weiter. Es hieß, die Bombe sei nun entschärft, aber davon war in der Vorbeifahrt nichts zu erkennen: weder ein Krater, noch ein Roboter, noch Leute oder ein Gefährt.

Genau so schnell, oder eilig, wie die Laune meiner Mitfahrenden wütend und schlecht geworden war, hatte sie sich nun wieder gelegt.
Die in dem Mobil-Heft auf mehr als dreißig Seiten plattgewalzte Mobilfunkinitiative der Bahn, also, dass man jetzt von seinem Zugsessel aus ins Internet kann, während man durch die Landschaft saust, wird in Zukunft nur weitere Anlässe liefern, dass die Passagiere sich beschweren und aufregen wie bei unserem Bombenalarm. Bloß dass es dann halt nicht mehr um Ankunftszeiten gehen wird, sondern um mangelnde Downloadgeschwindigkeiten. Ich jedenfalls war ganz froh, dass die Fliegerbombe entschärft werden konnte, und uns nicht auch noch um die Ohren geflogen war! Tod in Delitzsch: Nein danke. Andererseits ist es ja auch egal, wo und wie.

Draußen zeigte der Planet einen Schattenriss seiner bebauten Kruste vor himmlischen Folien. Alles stand kurz vor dem Verglühen.

2.2.

Ich war mit Würsten gekommen. Zwar von der Metzgerei Haas, aber nicht zu vergleichen mit den Kümmelknackern auf unserem Landausflug neulich. Die waren so herrlich trocken und dabei noch zart gewesen. Zumindest in meiner Erinnerung. Und irgendwas fehlte in denen von Haas. Bloß was?

Erik hatte wohl seit einigen Tagen nichts mehr gegessen und fiel dementsprechend über die Würste her. Ihm waren in den vergangenen Wochen noch einige Güsse gelungen, die nun von Strahlern angeleuchtet auf ihren Podesten standen. Pfundweise Zinnsoldaten waren zu neuem Leben erstarrt.

Um uns herum saßen kleine Lichter auf den Kränen vor den Fenstern und blinkten rot. Einst war dies Areal, das vom Hauptbahnhof bis zum Hafen am Fluss und dahinter bis zum Flughafen reicht, von seinem Bebauungszustand her tot gewesen. Verschmäht. Eine Brache, gesäumt von Lagerhäusern und vereinzelten Industriebauten. In den warmen Monaten gab es einige Jahre ein Zirkuszelt. Trauriger Zirkus natürlich. Immer wieder mal hatten Galerien hier versuchsweise den Betrieb aufgenommen, dann wieder eingestellt. Unter Klaus Wowereit hatte es noch Versprechungen gegeben für die Berliner Kunsthalle. Was nun in Wirklichkeit hier gebaut wurde, und die Kräne standen ringsum und in die Tiefe gestaffelt, überall bis hinüber zum Bundeswehrkrankenhaus, dessen mächtiger Schlot um die Mündung herum mit roten Lichtern blinkte, war egal geworden. Angeblich, so hieß es an der Tankstelle, über die es bereits eine eigene Dokumentation auf ZDFinfo gab, handelte es sich sogar um die größte Baustelle Europas. Und hier, also bei dieser Tankstelle, so hieß es dort auf Nachfrage, hatte Brad Pitt einst im Sommer sein Motorrad betankt. Eine schwarze Ducati.

Holzberger erzählte vom vanishing point. Er hatte seine Stimme den weihnachtlichen Lichtverhältnissen angepasst, er sprach gedimmt. Wir saßen um den kleinen Tisch mit den Würsten herum, Holzberger erklärte den Denkfehler der Ingenieure einer ersten Autobahn von Bonn nach Köln, der aus heutiger Sicht betrachtet ein Erfahrungsfehler gewesen war. Man hatte diese Autobahn als gerade Verbindung geplant. Wie einen Strich auf der Landkarte von B nach K. Schon bei der Einweihung kam es zu Unfällen. Aber nicht auf der Bahn selbst, sondern im Abseits. Aus mysteriösen Gründen waren immer wieder Fahrende von der Autobahn abgekommen, und waren über den Grünstreifen ins Off geschnellt. Da es zumeist schwere Unfälle waren, konnten die verunglückten Fahrer nicht mehr nach den Problemen befragt werden, von denen diese Unfälle verursacht worden waren. Auf einer zweiten Teststrecke, Holzberger sprach hier kurzzeitig so leise, dass ich beinahe schon weggenickt war, passierten diese unerklärlichen Unfälle ebenfalls. Man zweifelte an der Richtigkeit der Idee Autobahn an sich, die man mehr oder weniger von der römischen Heerstraße übernommen hatte, gedanklich. Man rief bei Thomas Pynchon an. Quentin Tarrantino schrieb bereits an der Szene einer Nachtfahrt auf der Deutschen Autobahn, die einen langen Dialog zum Inhalt hatte, in der ein Schauspieler dem anderen die Geschichte vom vanishing point erzählte, und die dann freilich ein überraschend blutiges Ende nehmen würde.

Jedenfalls stellte es sich dann heraus, dass das menschliche Gehirn vom Befahren einer strichgeraden Autobahn zwangsläufig ermüdet. Im Auge wird dann ein für die Wahrnehmung vor Windschutzscheiben verantwortlicher Botenstoff rasch aufgebraucht, das Gehirn bekommt keine neuen Informationen, es hält den scheinbar immer gleichen Bildausschnitt für ein Standbild – vergleichbar mit einem Bildschirmschoner – und schaltet sich ab, beziehungsweise geht es auf Standby. Langeweile der Zentralperspektive. Vanishing point.

Holzberger: Die Lösung fanden die Ingenieure in Fahrbahnen, die um einen Radius von zwei Kilometern gekrümmt verlaufen. Durch diese mal nach links, mal nach rechts beinahe unmerklich geschwungen angelegten Autobahnen, gibt es einen sich ständig verlagernden Fluchtpunkt fürs Auge. Die Fahrt durch die Landschaft eröffnet geschwungene Panoramen. So angelegt, wurde die deutsche Autobahn zum unterhaltsamsten Autobahnensystem der Welt.

Besonders schön geführt war die Autobahn, so Heiko Holzberger, auf der Strecke nach Erfurt, dort schwingt sie aus ästhetischen wie Sicherheitsgründen an Weimar vorbei.

1.2.

Beim Klang seines Namens kommt mir der Februar gestreift vor. Was vermutlich am Zebra liegt, am Element Br in beiden Worten. Der Januar schwingt und März ist ein Punkt.

Ein Vogel sitzt verborgen im Strauch bei der Mauer. Ich stelle ihn mir klein vor und rund. Er macht ein Geräusch, das so klingt, als ob ihm sein Schnabel über Nacht erst gewachsen wäre. Als ob er die Schnabelhälften noch auseinandersprengen müsste, indem er in sie hineinstößt wie in ein Blasinstrument aus Horn. Es macht einen piepsenden Knall.

Es ist so schwierig, einen guten Film zu drehen, einen guten Roman zu schreiben, ein gutes Bild zu malen – alles andere ist ja schon so gut gemacht. Das Kunstwerk müsste in etwa genauso gut werden. Aber ganz anders. Und selbstverständlich sein. Rätselhaft.

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