»2020 – Sing Blue Silver«
Blue Silver«
30.3.
Kinder wollen mein Haar berühren. Zwar sollte man seinen Friseur niemals wechseln, aber in letzter Zeit war es bei uns spürbar zu Unstimmigkeiten gekommen. Ich hatte den Eindruck, man nimmt mich dort nicht mehr ernst. In einer nicht zuletzt durch Naturphänomene – flirrende Schwärme hellgrüner Tüpfel zwischen den nackten Zweigen, seidig aufgeplusterte Haselkätzchen, Rasenmähergeräusche und meckernde Meisen, berstende Kirschblütenknospen entlang der Hiroshima-Allee – verstärkten Frühjahrslaune, kehrte ich spontan und ohne telefonische Voranmeldung in jenen unbekannten Salon ein, der mir bei abendlichen Spaziergängen schon einige Male durch seinen großzügigen Behandlungsraum irgendwie aufgefallen war. Auch des Namens wegen, denn der war, wie in dem preiswerten Segment der Branche üblich, doch irgendwie lustig, als Wortspiel auf irgendetwas mit Haaren konzipiert, tat aber nicht direkt weh. »James Blond« klingt noch immer leicht dämlich, auch geht der Versuch, mit der Unterzeile »License to Cut« eine geschlossene Bildwelt herzustellen, nicht vollends auf. (Das Signet zeigt die Silhouette von Roger Moore im Smoking, der anstelle einer Pistole eine Schere in der charakteristisch abgewinkelten Hand hält.) Aber da die Wände der Räumlichkeiten, in denen ausschließlich Herren bedient werden, ausschließlich mit alten Plakaten von L’Oréal dekoriert sind, auf denen Catherine Deneuve für Blondierungsmittel und Haarspray wirbt, ergibt sich alles in allem ein in seiner Uneindeutigkeit neuigierig machendes Gesamtkunstwerk.
Ein Cousin des Besitzers betreibt zudem einen Spätkauf in der benachbarten S-Bahnstation, der sich durch ein ausuferndes Sortiment internationaler Zeitschriften von der im direkten Umfeld zahlreichen Konkurrenz hervorzuheben versucht. Das Sortiment kommt durch den guten alten Probeabotrick zusammen. Natürlich kauft in dieser Gegend auch kein Mensch Zeitschriften, und schon gar nicht im Spätkauf. Weswegen der Cousin seinem als Friseur tätigen Blutsverwandten die unverkauften Exemplare als Lektüre für den Wartebereichstisch abtritt. Ich las in einem Blatt namens Birdie einen Artikel über die heilsame Kraft (innerlich) von japanischen Worten. Beispielsweise Ichi-go, ichi-e (it’s like Yolo but on an interpersonal level). Das erschien mir zunächst nahrhaft, dann auch noch zutreffend für meine spontane Salonwechslungsaktion.
Der Haarschnitt selbst geschah eher zack-zack. Mein neuer Friseur griff sich die Sonderausgabe des Manager Magazins mit der Liste der 500 reichsten Deutschen und bat mich, mit dem Finger auf ein beliebiges Porträtfoto zu tippen. Die freilich klein und niedrig aufgelöst abgedruckt waren, weil die Liste derart umfangreich war. Beziehungsweise, weil es so viele reiche Deutsche gibt. Es wäre also auch das Modell Schickedanz möglich gewesen – oder Klatten. Der Friseur hing mir währenddessen atmend über der Schulter und als er in den Kontaktanzeigen ein Bild des Österreichers Martin Sellner entdeckte, zischte er »Hurensohn« und fing laut an zu lachen. Er verfügte dann, weil längst viele weitere Männer im Wartebereich Platz genommen hatten, dass er mir das Modell Entrepreneur verpassen wird. Wodurch es sich vom Modell Hurensohn im Detail unterscheidet, werde ich hoffentlich nie herausfinden. Es geht, time is money, rasend schnell. Kostenpunkt: 12 Euro. Beim Bezahlen – da Schweine an sich nicht halal sind, stehen für die Trinkgelder goldene Sparkälber auf dem Tresen aufgereiht – kam es auch dort, unter den Angestellten des Salons James Blond, zu klandestinen Schmunzelblicken, aber ich denke doch, ich werde noch einmal hingehen, denn auf zauberhafte Weise nimmt man mich in diesem Laden auf eine andere Weise nicht ernst.
Gespannt bin ich, was Alexander und Herbert, meinen Wasserhäuschenbekanntschaften in Frankfurt, zu meiner Frisur einfallen wird. Wir haben uns ja Ewigkeiten schon nicht mehr gesehen. Gibt sicher ein sogenanntes Großes Hallo. Ich reise dem Frühjahr entgegen als Sonnenscheins einz’ger Sohn.
29.3.
Noch immer warte ich auf Post von Nikola Duric. Die Beschreibung eines slowenischen Mineralwassers mit ballongroßen Blasen will mir nicht aus dem Sinn. Immerhin kam durch eine Postkarte von Friederike mit einem Portrait Anselm Feuerbachs und der Frage, welche Rolle die Zigarette zwischen Feuerbachs Fingern spielt hinsichtlich der Wirkung dieses Gemäldes auf seine Betrachter. Auf Feuerbach selbst natürlich (darüber gibt es keine Aufzeichnungen), aber auch auf uns heutige. Peter Handke hat geschrieben, er strebe danach, in jeder Situation so edel erscheinen zu wollen wie ein Adeliger des 15. Jahrhunderts, der sich die Fingernägel schneidet. So raucht Feuerbach: mit edler Geste. Im Theater letzte Woche ließ Ersan Mondtag seinen Ödipus im vorvorletzten Schlussbild an einer schwarz gekachelten Bushaltestelle an einer E-Zigarette saugen. Der Text war für diese Figur da schon längst gestrichen, sie hatte lediglich noch dazusitzen, ihre sitzende Position beizubehalten und den Dampf auszustoßen, der mich, auch bei den Freunden der E-Zigarette vor alltäglicher Kulisse, an den Trockeneisnebel in einer Diskothek erinnert (wo es ihn wahrscheinlich gar nicht mehr gibt; ich weiß es nicht, war schon ewig nicht mehr in einer Disko). Und dann, während es wieder intensiv nach heiß gemachter Kirschmarmelade duftete, fuhr diese Bushaltestelle mit dem dampfenden Ödipus um die entscheidenden vier Meter auf den Bühnenrand zu, das Publikum sah jetzt zwangsläufig genauer hin, man erkannte die Details der Masken, die den Schauspielern schichtweise aufgeschminkt worden waren. Auch das Innere der Bushaltestelle, und der Türe, die aus der Kabine ins imaginäre Reich der Toten, das sich direkt dort dahinter befand, ließ sich en detail studieren. Die E-Zigarette in Ödipus‘ Hand, auf einer Straße in der Wirklichkeit käme sie mir bloß hässlich vor, wurde zu einem wichtigen Element dieses Bildes geadelt.
Bei dem Frühstück in der Bibliothek des Café Einstein neulich, als ich nach den Austern am Vorabend sehr viele Minisachertorten und kleine Clubsandwiches aß, erzählte Anna Viebrock, dass sie darauf achtet, dass auch die Bauten, die ganz hinten in einem Bühnenbild bleiben, von allen Seiten, also auch an den vom Publikum abgewandten, noch sorgfältig angefertigt und also zum Beispiel auch dort noch lackiert werden, wo man es aus dem Zuschauerraum heraus gar nicht mehr erkennen kann (nicht nur soweit das Auge reicht). Weil sie das für die Schauspieler wichtig findet. Weil die den Bühnenraum im Ganzen bevölkern und ihn als abgeschlossen wahrnehmen müssen. Selbst wenn es keine Drehbühne geben sollte, wird also ein Wasserhäuschen, von dem nur die Fassade mit der Verkaufsluke sichtbar bleibt, auch auf seiner Rückseite, an den Flanken, und in seinem Inneren ausgestattet und bemalt.
28.3.
Zunehmenden Gefallen finde ich an der Idee einer Dringlichkeit. Zwar könnte ich weiterhin Einträge verfassen, in denen manchertags stünde »Nichts ist passiert«, andererseits früge ich mich dann selbst, wozu. Freiheit entfaltet sich in mir, im Gegensatz zur Architektur verhält sich das mit der Ruinenperspektive in der Literatur ja genau umgekehrt: von weither, nach all den Jahren betrachtet, sind stolze Stätten entstanden (damals war’s noch zerschossen und lückenhaft).
Vorbild bleibt Peter Handke, der Meister. Es ist eine lebensverlängernde Maßnahme, denn wenn ich es nicht mache, wächst kein Peter Handke mehr nach. Im wunschlosen Unglück schreibt er in den ersten Sätzen, dass – seine Mutter hatte sich gerade umgebracht – er auch genauso gut auf der Schreibmaschine den immergleichen Buchstaben auf das Papier hauen könnte. Seitdem ich das zum ersten Mal gelesen habe, ist das mein Ideal.
Nach zwei Tagen von n’importe quoi schlief ich sehr lang. Das hatte auch mit einer riesigen Menge von Austern zu tun, die ich in der Paris Bar zur Blutwurst gegessen hatte. Es stimmt wohl: Eine Proteinzufuhr im Übermaß kurz vor dem Zubettgehen sorgt für tiefen Schlaf (vom molekularen, molusken und intermuskulären Geschehen abgesehen, wohl auch aus psychischen Gründen, weil es nämlich köstlich schmeckt).
Schön dann die Sonne. Lino rief mir von Weitem einen Gruß zu über das Feld. Wir hatten uns, das nahm er persönlich, aber zum Glück nicht allzu sehr, schon seit vielen Wochen nicht mehr gesehen. Mir waren nachts die Pilze aus Plastik aufgefallen, die in der Erdoberfläche des Vorgartens steckten. Sie gaben surrende Geräusche von sich, wenn ich im Dunklen an ihnen vorüberging. Nun sah ich sie bei Tageslicht. Die Sonnenwärme entfaltete sich am Himmel über uns beiden. In den Pilzkappen war unter dem Dunst des Morgentaus jeweils der Streifen eines Sonnenkollektors zu sehen. Ab und an kam von ihnen ein Surren.
Lino, listig: »In Deutschland sind die verboten. Ich habe sie von einem Polen gekauft.«
Es handelte sich um maulwurfsvergällende Geräte. Der oder die Maulwürf/e hatte/n ja in den vergangenen Wochen das gesamte Fußbaldfeld im Vorgarten unserer Künstlerkolonie in ein vulkanisches Gebiet verwandelt. Unvergessen war sein übergriffiger Bau direkt vor meiner Wohnungstür, als er dort, unmittelbar vor meinen Schuhspitzen, eines Morgens den Kies auf dem Weg zum Übersprudeln gebracht hatte.
Diese Pilze sandten nun in unregelmäßigen Abständen Terrorgeräusche in die unterirdischen Gänge, die der oder die Maulwurf unter dem Fußballfeld grub/en.
Lino, ganz richtig: »Der Maulwurf steht unter Naturschutz, ich nicht.«
Wir sprachen dann noch über die Lungentransplantation seiner Frau. Der Anruf kam an jenem Abend, als der Orkan gewütet hatte (22. Februar), weshalb der Hubschrauber nicht abheben konnte vom Dach der Charité, und Linos Frau dann letztendlich mit einem Blaulichtttransport in die entfernt gelegene Klinik zum dort eingetroffenen Spenderorgan gefahren werden musste. Mittlerweile geht es ihr gut. Wie Lino zum Abschied anmerkte, wurde die erste Transplantation einer menschlichen Leber von einem Portugiesen durchgeführt, der wohl noch immer am Leben ist. Und da war ihm ein aufs Nationale bezogener Stolz anzumerken wie sonst nur beim Fußballspiel. Lino wies darauf hin, dass eine Herzverpflanzung vergleichsweise easy ist, wohingegen Lunge oder Leber!
Abends ging die Sonne dann erwartungsgemäß spektakulär unter. Ich nahm mir alle Zeit und ging dem großen Bluten auf der Kantstraße entgegen. Als es kühler wurde, wechselte ich die Straßenseite, ich überquerte den breiten Strom und dachte an Julian Casablancas (River of Brakelights).
Schon seltsam, wie ich auflebe, wenn endlich wieder normales Wetter ist. Wie so eine Topfpflanze. Ich liebe die Sonne, ich liebe die Wärme, ich liebe das Licht.
25.3.
Ich saß in der Sonne.
Dann lange nichts.
Wie zum Lohn für all die Wochen, gewirkt aus Dunkelheit und Kälte, gab es gestern den ersten Sonnenuntergang. Er hatte sich am Vorabend schon ankündigen lassen wie eine Diva, »All right, Mr. DeMille, I’m ready for my close-up«, mit diesem gewissen laternenblauen Himmel hinter den Gaslampen, die ja demnächst vollends abgeschafft werden sollen. Bis dahin aber: Großflächig das Sterben der Farben, an einem Zinnteller gespiegelt, davor, in zunehmendem Schwarz, das Brandenburger Tor mit den vier kleinen Pferden. Ich wünschte mir blau leuchtende Displays, es war niemand zu sehen. Der Sonnenuntergang zwischen den Häusern und ich wir waren allein. Im Foyer des Gorki Theaters trifft sich eine eigene Szene. Ich kannte niemanden. Es gibt noch so viele Theater in Berlin. Im Saal des Gorki Theaters roch es nach warm gemachter Kirschmarmelade. Auf der angestrahlten Bühne war, in verbeultem Schwarz, der eiserne Vorhang zu sehen.
Ersan Mondtag, sein Mashup aus Ödipus und Antigone: Ödipus erscheint in der Gestalt von Genesis P-Orridge mit silbriger Pagenkopfperücke in einem magentafarbenen Kleid. Er lässt den Saal über die Dauer der Vorstellung hindurch mit einer Kirschnote beduften, was bei allen im Publikum für milde Gestimmtheit sorgt. Wobei es kurz vor dem langen Schluss dann doch zur Eskalation kommt, als ein Mann aus der dritten Reihe zu lachen anfängt – und nicht rechtzeitig aufhört damit. Jedenfalls nach dem Gefühl eines anderen Mannes, von hinten sehen sich die beiden auch noch ähnlich mit ihren Haarschnitten à la Foucault. Der linke weist den rechts ein paar Sitze weiter Sitzenden zurecht.
Ich habe mich schon länger gefragt, wann es zu einer MDMA-Kultur kommen wird. Donnie Darko ist einfach nur weird, wenn man noch kein Ritalin ausprobiert hat. Man versteht die Zeitdehnung sonst nicht, aber dann. Bei Apokalypse Redux wird das Britzeln des LSD spürbar. Ersan Mondtag: MDMA. Eventuell Ketamin, das ich nicht ausprobiert habe, aber von dem ich von den Usern berichtet bekommen habe: man schaut durch die Schichten der Zeit hindurch wie in ein aufgeschnittenes Croissant. So ist diese Inszenierung von Ersan Mondtag. (Und es duftet nach warmer Kirschmarmelade, ich wollte sie von der Herdplatte ziehen!)
Später dann auf dem Bahnsteig ein Mann von der Aufsicht, der um kurz vor zwei Uhr am Morgen noch die einzelnen Passanten ermahnte, bloß nicht unter freiem Himmel zu rauchen. In der S-Bahn lag auf jedem einzelnen Sitzplatz eine Werbepostkarte von Martin Schulz.
24.3.
Heute früh bei der Zeitungslektüre kurz geglaubt, es gäbe dort die Kolumnenserie »Auf ein Straußenei mit Jakob Strobel y Serra«. War aber zum Glück noch nicht einmal ein Traum.
23.3.
Die Neugierde lässt sich nicht entsichern wie eine Waffe. Ich treffe oft Menschen, die in sich keine Frage spüren. Sie sind fertig mit der Welt. Ich kann mich für alles Mögliche interessieren, begeistern oft auch. Ich lerne gern. Es hört nie auf, hoffentlich.
Mit einem Stift schrieb ich ein paar Gedanken nieder. Es war nicht irgendein Stift, es war der Stift. Ich hatte ihn vom Schreibtisch der Schweizer genommen. Zeitweilig ausgeliehen. Es ist der Stift, mit dem sie ihre Gedanken auf die Ausdrucke von Fotos schreiben, die sie von über den Fußboden im Flur ausgebreiteten Ausdrucken von Fotos gemacht haben. Dieser Vorgang nennt sich Layout.
Ich war früh im Bikinihaus eingetroffen, um mit einer Origamikünstlerin zu sprechen. Ihre Installation hing dort von der Decke des Kaufhauses, das sich laut Eigenwerbung als Concept Mall versteht. Kuratiert selbstredenderweise. Das geht, also das kuratorielle Selbstverständnis der Mieter jeder Verkaufsfläche dort (#ShopInShop), bin ins Detail. Keiner der in den Schaufenstern ausgestellten Gegenstände (Tee, Schal, Lautsprecher, Kaktus) wirkt für den alltäglichen Gebrauch bestimmt. Eine Ansammlung von Museumsshops, ohne ein zugehöriges Museum. Die Ansammlung der Museumsshops ist das Museum.
Hinter dem breiten Fenster im Erdgeschoss ist ein Ausschnitt des direkt angrenzenden Zoos zu sehen. Auf der Fensterbank sind bunte Kissen ausgelegt, hier sitzen schon einige Menschen und betrachten die Tiere, die im Nieselregen auf einem Felsen umherklettern. Ich hatte vergessen, wie abstoßend hässlich Paviane sind.
Plötzlich schrie jemand laut, eine Männerstimme, dann gab es einen Knall. Auf der Galerie war jemand im Laufschritt zu sehen, der in ein Funkgerät sprach. Dann noch jemand. Sie eilten hin und her. Unter den Pavianbeobachtern ging jetzt die Frage um, was dort oben passiert sein könnte. Keiner bewegte sich. Ich fragte mich, ob sich die Scheibe zum Zoo hin einschlagen ließe, um aus dem Gebäude zu fliehen, falls da nun gleich jemand den Gang entlang käme, um alle hier zu erschießen. Von der Fensterbank aus durch den breiten Gang alleine zum Ausgang zu laufen, erschien mir zu gefahrvoll. Die Scheibe einschmeißen – mit was? Mit einem Stuhl aus der Kaffeebar? Mit meinem iPad? Die Glasscheibe selbst wurde undurchdringlich massiv.
Die Männer vom Wachpersonal mit ihren Funkgeräten erschienen dann auch bald im Erdgeschoss, um Entwarnung zu geben: nur ein Obdachloser. Glasscheibe jetzt wieder klar und freundlich wie zuvor. Auf der Fensterbank nickte man sich zu, »das macht Sinn.«
Nach Mittag schaute ich mir im Store des Soho House die neue Kaktusrange an, einige Exemplare sehr schön, aber alle auch sehr groß. Der Trend geht zum Monolithen. Ich traf Niki Pauls, die mir auf ihrem iPhone eine Aufnahme ihres eigenen Kaktus zeigte, den sie sich zuhause hält, und der aber seit kurzem erkrankt wirkt. Von dem, was ich auf dem kristallklaren Bild erkennen konnte, handelt es sich um einen gehirnförmig aus einem Tontopf wuchernden Sukkulenten in einem schönen, dunklen Grün, der regelmäßig abgestaubt wurde und wird. Ich riet ihr, den schwärzlich verfaulenden Ausläufer abzuschneiden, bevor der infizierte Teil ihr noch den gesamten Organismus zerstört. Den Rest der Zeit bis zum Nachmittag verbrachte ich dann mit dem tschechischen Fotomodell Karolína Kurkovà, die zum Spaghettiessen eingeladen hatte. Sie kochte, die Schreibenden durften ihr dabei Fragen stellen. Als ich sie um eine Unterschrift bat, weil die Schweizer die für das Layout benötigten, drehte sie den Stift aller Stifte hin und her in ihrer Hand. Sie zog den Deckel ab, betrachtete die seltsam geformte Filzspitze wieder und wieder, wog ihn dann mit dieser Spitze über dem Zeichenkarton in der Schwebe gehalten in ihrer Hand. Obwohl sie schon seit Ewigkeiten in New York lebt, war an ihrer Fingerstellung noch immer die europäische Herkunft abzulesen. Amerikaner packen ihre Stifte im Pfötchengriff.
»Ich liebe diesen Stift«, sagte Frau Kurkovà. Und betrachtete ihr eigenes Schriftbild. Ich schenkte ihn ihr. Auch weil ich wusste, dass die Schweizer sich diese Stifte in rauen Massen mitbringen für ihren Eigenbedarf. Das sagte ich ihr freilich nicht. Sie wirkte sehr glücklich und reichte den Stift weiter an ihren Assistenten.
Als ich in die Redaktion zurückkam, waren die Schweizer unter anderem damit beschäftigt, einen gigantischen Barren Toblerone mit einem Messer zu zerstückeln. Die Schokolade wiegt viereinhalb Kilo und wird in einem über einen Meter langen Pappkarton verkauft, der sogar einen Tragegriff hat an der Oberseite, aber ansonsten so golden und, ebenfalls tobleronetypisch, dreikantig geformt ist. Sie lachten. Sie freuten sich über dieses groteske Souvenir aus der Schweiz, das sie am Flughafen Kloten in Zürich vor ihrer Abreise nach Deutschland entdeckt hatten. Ich dachte an den Stift. Ob sie wohl jemals wirklich damit schreiben wird?
Heute früh dann zum ersten Mal wieder das Eichhörnchen gesehen.
22.3.
Neulich las ich in einem Gespräch mit Pamela Rosenkranz, dass Menschen die Farbe Blau deshalb so schön finden, schöner als andere Farben, weil sie evolutionsbiologisch auf eine angenehme Wahrnehmung dieser Lichtwellen programmiert sind. Das leuchtete mir sozusagen ein, wenngleich ich mich frage, weshalb es dann im Altgriechischen kein Wort für Blau gibt. Gerade da, im alten Griechenland, war doch von Natur aus extrem viel blau. Möglicherweise, aber unwahrscheinlich bleibt es, war für diese Generationen die Allgegenwart von Himmel und Meer selbstverständlich, beziehungsweise war das Wetter beinahe immer gleichbleibend gut, sodass sie nur bei Gewitter und Nacht die Farbveränderung beschreiben mussten oder wollten. Kleider in dieser Farbe gab es dann halt einfach nicht, oder sie waren himmlisch oder meerhaft gefärbt (so wie im Deutschen von etwas behauptet wird, es sei orange.)
Draußen, unter blauem Himmel, saß ich auf dem Walter-Benjamin-Platz und aß eine Matjesmuschel. Das hatte ich mir jetzt schon wochenlang vorgenommen, seit ich im Schaufenster der Lehrbäckerei dort die Schiefertafel auf einer winzigen Staffelei entdeckt hatte. Darauf stand, in einer den Kreidestrich nachahmenden weißen Tinte: „Neu! Matjesmuschel“, sowie der Preis. Es gibt viel zu selten Innovationen auf dem Sektor belegter Brötchen. Vor zwei Jahren führte die Bäckereienkette Steinecke den Brögel ein, einen Hybrid aus Brötchen und Bagel, der mit Amaranth bestreut serviert wurde. Aber belegt wurde der dann wenig innovativ, aber immerhin war es ein Brötchen mit Loch und das gab es zuvor halt noch nicht. Die Matjesmuschel wiederum ist ein vergleichsweise von Grund auf neu gedachtes belegtes Brötchen. Schon das im Namen angekündigte Brötchen gibt es solo nicht. Es ist tatsächlich geformt wie eine Muschel, wie man sie vom Markenzeichen der Tankstellenkette Shell erinnert (oder, wenn man älter ist, aus dem Eiscafé, als dort in den Eiscafés noch geraucht werden durfte und auf den Marmortischplatten waren die Schalen von Jakobsmuscheln aufgestellt, als Aschenbecher, weil das Aschen in die Schalen von Jakobsmuscheln als etwas typisch Italienisches galt). Diese gebackene Muschel aus Teig wird quer aufgeschnitten, sodass ein typisch muschelhaftes Aufklappen der beiden Hälften möglich ist. Dieses Muschelmaul, aus der Sesamstraße erinnert man das Klappern des niedlichen Muschelchorgesangs, wird dann, eventuell vom Erfinder der Matjesmuschel selbst, mit zwei Filets vom Matjeshering gestopft. Darauf liegen, sorgsam zum Symbol der Olympischen Spiele arrangiert, in feine Ringe geschnittene Zwiebeln. Keine Butter. Was ich begrüße. Dafür aber leider Salat. Eine Unsitte, was soll das? Es ist reine Augenwischerei, dass aus jedem, wirklich jedem, sogar aus Wurstbrötchen oder solchen mit einer Scheibe Käse, wo es nun wirklich kein Salatblatt mehr braucht, um den Wohlgeschmack noch zu heben, trotzdem noch eines heraushängt (oder, noch schlimmer: kräuselt, denn mittlerweile scheint der sogenannte Lollo Bionda den Eisbergsalat und auch Rucola aus der Poleposition im Salatpflanzengame und so weiter und so fort). Ich zupfte das Grün aus der Muschel und warf es in einen Aschenbecher aus Kruppstahl, den Hans Kollhoff, wie alles auf und an und um den Walter-Benjamin-Platz herum für die Ewigkeit entworfen hatte. Aber leider, das würde ich ihm selbst natürlich niemals sagen, altert sein Walter-Benjamin-Platz wirklich schlecht. Mittlerweile wirkt sein innerstädtisches Gepräge auf mich wie die Stalinallee, früher. Bloß halt noch dazu viel zu niedrig, eng und kurz. Mit einem Wort: missraten. Aber gut, das Grundstück war halt auch von seinem Schnitt her viel zu schmal und kurz für Hans Kollhoffs Visionen von einem innerstädtischen Quartier. Von daher trifft den Architekten nur eine geringe Schuld. Die Leute nehmen den Platz auch noch immer nicht gut an. Ich war dort der einzige, der auf der neorational gestalteten Piazza in der Sonne saß. Mit meiner Matjesmuschel. Dann kamen die weißen Wolken zurück.
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