»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

19.4.

Gestern Mittag, wir saßen im Restaurant des Main Tower und schauten dort aus den Fenstern, wurden wir plötzlich von Schneeflocken umweht. Wir konnten, man sitzt dort auf beinahe 200 Metern Höhe zwar hinter Glas, aber doch wie im Freien, weit ins Land bis hinter den Stadtrand Frankfurts schauen. Dort, wo es aus den Meilern des Kernkraftwerkes dampfte, schien schon wieder die Sonne aufs Grün. Und die dunkle Wolke, die wohl noch über uns hing, aber man sah ganz deutlich den Saum ihres Schattens, der über Sachsenhausen hinweg gezogen wurde: Sie hatte den Schnee mit sich gebracht – jedenfalls war der hier oben in den höheren und kälteren Schichten als Schnee noch in Flockenform angekommen, ob es weiter unten, die Stadt erschien noch von den Osterfeiertagen wie leergepustet, dann geschneit oder doch eher geregnet hatte – um das noch erkennen zu können, dafür wiederum saßen wir zu weit von der Erdoberfläche enthoben.

Nachts dann geträumt, bunt und wild, nicht gerade von allem, aber beinahe von allem. Müsste ich aufzählen, was noch gefehlt hatte, würde das aber vermutlich doch lange Zeit in Anspruch nehmen. Eben gerade so geträumt, wie ich immer nur dann träume, wenn; und tatsächlich war es dann heute früh kurz nach halb acht auch soweit. Zunächst kam ein Windstoß. Den hörte ich nicht, aber ich konnte es trotzdem fühlen. Durch die geschlossenen Fenster hindurch. Als minimale Verstörung des molekularen Gefüges. Und noch lange Zeit später schwebten dicke weiße Flocken unter scheckigem Himmel herum. Wie ich noch einmal hinsah, war schon alles wie neblig, das Licht so grau und trübe: Es schneit.

16.4.

Im Übrigen hatte Martin Mosebach hierzu alles Wesentliche in seiner Häresie der Formlosigkeit ausgeführt, doch waren uns am Samstagabend schon entlang der Bahnstrecke die teils nur qualmenden, teils auch lodernden Stapel aus den Abschnitten alter Bäume und Gebüsche aufgefallen. Der traditionelle Tag für das Anfachen des Osterfeuers war aber einfach der Sonntag. Den Nachmittag über beobachteten wir aus einem dem Hügel zugewandten Fenster eine gewisse Konzentration von Einheimischen, die in regenfester Kleidung sich um die beiden Stapel scharten.

In der Nacht hatte das Schaf ein Lamm zur Welt gebracht. Mit schwarzem Fell, was keine Ausnahme darstellte, da sämtliche Lämmer in dieser Herde, bis auf eines, schwarz waren. Dies eine war grau meliert. Am Zaun hatte ich in die Hände geklatscht und die Schafe waren samt ihren Jungen auf uns zugestürmt unter lautem Blöken. Dann Übersprungshandlungen, sie standen und kauten auf irgendetwas herum, manche wohl auch lediglich vorgeblich, als sie erkannt hatten, dass wir ihnen nichts anderes anzubieten gedachten als unsere Aufmerksamkeit. Hinter dem Apfelbaum, der blühte, stand die abgesonderte Mutter mit ihrem frischen Lamm, dessen Beine noch arg lang wirkten. Ein Rest der abdörrenden Nabelschnur war noch zu sehen. Das Neugeborene stöberte unter dem Fell der duldsamen Mutter, das in Würsten wie Dreadlocks herabhing.

Entlang der Weißdornhecken, die voller Blüten steckten, ging es an der künftigen Lungenheilanstalt links vorbei bergan. Ein schönes Schild in Schwarz auf Gelb wies uns darauf hin, dass dieser Park ein Park war und kein Hundeklo. Wir nahmen das hin, obzwar wir hundelos gingen. Am Himmel, dessen Erscheinungsbild uns von Cupertino her als regnerisch prophezeit worden war, kreiste ein Lämmergeier.

Als wir den Hügel erreicht hatten, brannten die Stapel dort auf der Anhöhe. Ging man ganz nah heran, wurde einem bald ziemlich warm. Es waren weit weniger Menschen gekommen als gedacht. Aber insbesondere den jungen Einheimischen war es deutlich anzumerken, dass dieses am Osterfeuer stehen und sich vom Osterfeuer wärmen lassen und die ausgetrunkenen Plastikbecher ins Osterfeuer werfen und den dort im Osterfeuer schmelzenden Plastikbechern beim Schmelzen zusehen für die rings um dies Osterfeuer Versammelten etwas Identitäres bedeutete oder ganz einfach war. Ja, ich konnte mir sogar auf einmal sozusagen plastisch vorstellen, wie einer wie der Österreicher Martin Sellner vor einem solchen oder ganz ähnlich aufgeschichteten und plazierten Osterfeuerholzstapel stehend seine Berufung zur Identitären Bewegung erfahren hatte. Nämlich ganz wirklich als Ruf. Nicht von anderswo her, sondern aus ihm tief innen heraus, erweckt vom Anblick der Flammen und der beständig ineinanderzusammenkrachenden Glut, die Wärme dazu, freilich, aber auch die einfachen Gesichter der Einheimischen herum, denen man in der behaglichen Wärme des Osterfeuers stehend in die Gesichter schaut, man braucht dabei gar nicht viel zu reden, um Einverständnis zu fühlen. Es ist halt, wie es ist. Es ist identitär.

Im Mittelgrund waren nun Wolken erschienen, die ganz tief über dem weißen Steinbruch hingen, der dort am Horizont zu erkennen war. Weshalb er weiß war? Nun, weil dort Gips angebaut wurde. Und zwar – man denkt dann Gips ist Gips, wird aber vom Volk eines Besseren belehrt (und zwar auf eine schöne, weil stolze, weil aufrechte Weise): der beste im ganzen Land. Jetzt aber soll die Renaturalisierung kommen. Indem man ausgerechnet den Abhub von Stuttgart21 dort ablagert. In Thüringen! Fremde Muttererde aus Württemberg – was soll das? Desweiteren ging es um die Ecstasy-Preise in der Kneipe, weil die Zeiten, als MDMA noch als Königin der Substanzen bezeichnet werden durfte (unter anderem von mir), die sind jetzt vorbei, auch Ecstasy ist jetzt Volksdroge. Es ist identitär.

Nach Einbruch der Dunkelheit saßen wir lange noch am Fenster und schauten zum Hügel hinüber. Die Flammen sprangen empor in die Nacht. Man konnte sich, und das taten wir freilich, ganz schön ausmalen, es wären dies verfeindete Dörfer. Gehöfte, die wir niedergebrannt hatten. Den roten Hahn auf den First gesetzt. Es regnete beinahe die ganze Nacht hindurch bis zum Morgengrauen. Als die Sonne aufgegangen war, schwelten die Reste ja immer noch.

15.4.

In einer Sondersendung von Kochen mit Martina und Moritz, die am Samstag kurz vor Mittag gezeigt wurde und in der es monothematisch um eine mögliche Zusammenstellung von Köstlichkeiten für einen Brunch am Ostersonntag ging, kam es, vor allem für mich, als so langjährigen wie regelmäßigen Zuschauer, zu einem überraschenden Moment der taoistischen Erotik. Allerdings nicht zwischen Martina und Moritz selbst, denn es war Moritz solo, der ganz plötzlich in einer ungewöhnlichen Einstellung, wie auf einer Nebenbühne gefilmt, sein Rezept vorstellte, das er dem Zuschauer als morgendliche Erquickung für die Frau empfehlen wollte. Es ging um einen arabischen Kaffee. Der wurde wieselflink in einem speziell geformten Gefäß zubereitet, enthielt neben dem Kaffeemehl noch viel Zucker sowie arabische Gewürze. Aber als Zuschauer faszinierte mich, wie gesagt, der Einblick in die Liebeskultur dieses mir seit langem vertraut gemachten Paares, das ich zwar nur von ihrem aquarienhaften Leben in meinem Bildschirm her kannte, dabei aber stets kochend, sich dabei unablässig unterbrechend, unerbittlich zurechtweisend, einander zum gegenseitigen Probieren nötigend: so war über viele Folgen dieser mir lieben Sendung ein Gefühl von Intimität entstanden. Ich und die asexuell lebenden, dafür umso heftiger kochenden und auftischenden Martina und Moritz kannten uns gut.

Ein Trugschluss, wie ich am Samstag feststellen durfte, denn zum Müssen gehört für mich eine Empfindung des Widerstrebens, und die hatte ich eben gerade nicht. Denn außer diesem winzigen Signal des Taos hatte es ja an den vertrauten und mein Vertrauen hervorlockenden Elementen nicht weiter gemangelt. So hatte sich beispielsweise Moritz gleich zu Beginn dieser Sendung beim Ausblasen von sehr vielen Eiern falsch angestellt, beziehungsweise hatte er die zum Ausblasen der Eier nötigen Löchlein, von Martina als zu umfangreich empfunden, in die Schalen gebohrt, und war dafür zurechtgewiesen worden. So musste das sein.

Dann wiederum – und auf diese Momente wartet man, warte zumindest ich, ihretwegen schalte ich unter anderem ein – musste das von Moritz aus den geschätzten zwei Dutzend Eiern herausgeblasene Innenleben irgendwie weiterverarbeitet werden. Und halt nicht irgendwie, sondern so sinnvoll wie köstlon. Es geht dann, in der vom one shot diktierten Dramaturgie der Sendung, immer derart Schlag auf Schlag, dass ich selbst noch mit dem Nachdenken beschäftigt war, was ich selbst mit 24 Dottern und Eiweiß anfangen könnte, als Moritz wiederum diese bereits in einem Standmixer zu einer orangefarbenen Masse verquirlt hatte, um diese dann – das überraschte mich dann doch, und wenn ich gekifft gehabt hätte, wäre mir vermutlich ein verblüffter Kommentar entfahren (»abgespaced«) – in eine mit Backpapier ausgelegte Fettpfanne zu gießen, die er »hernach«* bei 140 Grad (Ober- und Unterhitze) im Backofen »eher stocken als backen« ließ.

Da fragte ich mich auch unbekifft doch frei nach Edward Bulwer-Lytton: Was wird er damit machen?

Während er mir das erläutern wollte, schob sich vom rechten unteren Rand des Bildschirms her Martina ins Bild, die mit einem Handrührgerät (die Marke konnte ich nicht entziffern, da die Vibrationen des zeitgleich auch stark in der Schüssel herumfuhrwerkenden Rührhakengespannes den Anblick des Handrührers in Martinas Hand verwackelte) ihre eigene Stimme dazu anspornte, schrill und durchdringend gegen des Handrührgerätes Scheppern eisern anzugehen.

Währenddessen Moritz still eine Farce aus Hackfleisch mit Zwiebeln herstellt, die er dann einwickelt in den Eierfladen, den er zum Stocken in den Ofen geschoben hatte. Es entsteht so eine Art Biskuitrolle der pikanten Art, die er mit einem vorzüglichen Messer in zimtschneckenhafte Stücke zerschneidet, die dann mit einem frischen Salat garniert und auf dem Gabentisch des Osterbrunchbuffets präsentiert werden. Martinas Gugelhüpfe, mit kunterbunter Zuckerglasur und bunten Zuckereiern dekoriert, sind auch schon fertig. Dann zeigen die beiden kurz noch, wie man Eiersalat anfertigt, der in Nestern, gemacht aus Kresse, angerichtet wird (der Trick besteht darin, die hartgekochten Eier dreimal durch die Eierharfe zu quälen: dann werden die Eierwürfelchen besonders fein).

Kurz entsteht eine Pause, die beiden beschauen sich ihr Werk. Da steht es, alles sieht, wie beinahe immer, fantastisch aus, zum Anbeißen. Man will hineinbeißen, zumindest zum Probieren eingeladen sein (wie schafft man das, wie kommt man an die beiden ran?), da zaubert – er schafft das wirklich, Moritz the Man, dass dieser Eindruck entsteht, dass er zaubern kann, wie die von Wolfgang Niedecken besungene Mutter aller Kartenlegerinnen – hält also Moritz seiner Martina diese Tasse hin. Und sie erkennt schon gleich am Duft, der ihr in die ihm, Moritz – ihrem Kontrahenten wie Kompagnon am Herd so wie im Leben – kampfeslustig hingereckte Nasenspitze steigt, dass es sich bei dieser heißen Flüssigkeit in dieser Tasse, um den von ihr so geliebten arabischen Kaffee handelt. Die vierte Wand wird durchbrochen, wir, die Zuschauer, reisen für einen taoistischen Moment in ein bis dato über viele, viele Folgen dieser Sendung ausgespartes Zwischenreich. Nein, es geht hinauf zum Hauptschauplatz dieser Erzählung, denn auch im Privatleben von Martina und Moritz spielt das Genießen eine Hauptrolle, um die sich alles dreht, ist Kulinarik der King.

Martina probiert, beinahe gierig, sie pustet nicht. Moritz schaut. Sie macht »Mhm«, und sagt: »Ist der heiß!«

*Simon Strauss in seiner eher vernichtenden Rezension der Neuverfilmung des Doppelten Lottchens auf der Fernsehseite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 14. April 2017

14.4.

Vier Mädchen, Schülerinnen vielleicht noch? Jugendliche, Teengirls – wie nennt man sie eigentlich, wie spricht man sie an, wenn sie dazu, also zudem sie noch mädchenhaft wirken, auch noch in Ganzkörperanzügen aus rosafarbenem Plüsch gekleidet durch die Gänge des ICE schlendern? Das eine hat mit dem anderen freilich nichts zu tun, verwirrend wirkte es trotzdem auf mich, zumal die Anzüge auch Kappen hatten, ebenfalls rosa, aus demselben Material, an deren Oberseiten jeweils zwei puschlige Ohren mittlerer Länge angesetzt waren. Jedoch trugen die Mädchen, die vielleicht ja doch keine Schülerinnen mehr waren, also eventuell sogar ohne Unterwäsche in diesen Plüschoveralls über mich drüberstiegen, der ich in dem überbuchten Zug leider keinen Sitzplatz mehr hatte ergattern können, diese Kapuzen, die ihrem Auftritt etwas nur noch hasenhaftes, etwas obszön Österliches hätten aufgesetzt wie ein Kreuz auf einen Gipfel, ganz im Stile ihres laisser faire nach hinten über die Schulterlinie geklappt. Zwischen Bordbistro und Sitzplatz, wo sie aus mitgebrachten Plastikschüsseln stark riechende Salate aßen mit Gabeln aus Privatbesitz, ging es häufig hin und her. Woran man halt bei fortgeschrittenem Alter in dahinjagendem Zuge so denkt: Bäume aus der Froschperspektive bei 250 km/h.

In Frankfurt dann nächtlicher Fliederduft. Alles scheint hier schon weiter, selbst der Rasen wirkt samtiger, geschlossener als oben bei uns in Berlin, wo ein kalter Wind von allen Seiten heranwehte und zwischendurch auch immer wieder mit seinen Regenschauern ankam, wie etwas Übriggebliebenes, das er endlich loswerden will, das niemand braucht oder will.

Vor dem Haus traf ich auf die Mume. Keuchend stand sie dort im Dunkeln. In mindestens sieben Röcken wie einst von Günter Grass beschrieben. Sie kann wirklich kein einziges Wort Deutsch, kann also nicht einmal grüßen. Fliederfarbene Kopftücher, auch mindestens drei oder vier Stück. Sie öffnete einen weitgehend zahnlosen Mund. Aus der Sprechanlage kommen Geräusche, la mystère des voix bulgares, der Türsummer geht, sie wandelt in ein dunkles Treppenhaus hinein.

In der Bar im Nachbarhaus, die Müllstall heißt, legten zwei ohne Traktor mit zwei Plattenspielern auf, aber es klang so, als hätten sie Traktor und sie bedienten die kleinen Drehknöpfe an ihrem Mischpult mit der international etablierten Fingerstellung silent duck. Es sah alles aus wie im Bilderbuch vom Auflegen, auch dass der Müllstall so klein war, die Straße draußen so friedlich. Und Berlin sehr weit weg. Die Diskokugel ist golden verspiegelt.

Am nächsten Morgen dann für deren Verhältnisse früh am Café Laumer, wo eine Kellnerin an der Frühstückskarte herumwischte, die dort vor dem Haus auf dem Trottoir aufgestellt zu stehen hat. Die drei Frühstücksvarianten sind mit den Nachnamen der Philosophen Adorno, Horkheimer und Habermas gekennzeichnet wie andernorts mit Städtenamen (Paris=Croissant). Mich hatte schon bei unserem letzten Besuch dort gewundert, dass unter den Namen von Adorno und Horkheimer in Klammern die Zusammensetzung des jeweiligen Frühstücks angeschrieben stand, unter dem Frühstück namens »Habermas« aber stand nichts. Jetzt hatte dort wohl einer mit fragwürdigem Humor in Klammern HASENSCHARTE drunterkommentiert, wo bei Adorno (Lachs, Rührei) und bei Horkheimer (Bauernfrühstück mit Gurke) seit eh und je stand.

Müsste man freilich diskutieren, schlugen wir vor. Beziehungsweise: könnte man das, ob es dem Stile Max Horkheimers tatsächlich gerecht wird, ihn mit dem Bauernfrühstück symbolisch quasi gleichzusetzen, wohingegen dann der feine, weltläufige Herr Adorno durch die erwiesenermaßen kanonisierte Exquisitkombi Ei mit Lachs ins Gedächtnis der Cafébesucher eingehen darf.

Die Kellnerin wägte ab, blieb aber dabei, dass die Hasenschartenschmiererei nicht ginge und von der Frühstückskarte getilgt werden muss. Da stimmten wir ganz selbstredend zu. Im Übrigen, dies nur als Hinweis beziehungsweise Anreiz für die Betreiber, sich das mit Horkheimers Bauernfrühstück doch noch einmal im Guten zu überlegen: der, also Max Horkheimer war ja bereits von Eckhard Henscheid mit einem Anwurf bedacht worden. Bezeichnenderweise in den »Vollidioten«, wo er (Henscheid) ihn (Horkheimer) als greisen Münzspielautomatenjunkie in der Kneipe des Herrn Mentz auftreten lässt: »Herr Mentz behauptete nachdrücklich, dass der Alte nur deshalb immer so viel gewinne, weil er – ›und jetzt habe ich es selbst gesehen‹ – immer von oben durch einen Schlitz Bier in den Automaten schütte und so den Apparat vollkommen beherrsche – ›und ich, die Wirtschaft, muss jetzt einen Automaten kaufen!‹. ›Wer ist denn dieser Alte eigentlich?‹, fauchte der junge Herr Mentz nach einer kleinen Pause, während der er hektisch mit einem Lappen den Thekentisch rieb, als wollte er das unsittliche Verhalten des Alten gleichsam aus seinem Lokal fegen, – niemand kenne diesen Mann, niemand wisse seinen Namen, mit niemanden rede er an der Theke, immer nur spiele er am Automaten…

›Aber das sei doch‹, raunte Herr Domingo nun fast beschwörend, ›das sei doch der alte Max Horkheimer‹.

›Wer? Was? Hockenheim?‹, fragte der junge Herr Mentz scharf und ungnädig zurück.«

»Tja«, sagte die Kellnerin und hielt, den Blick auf ihre gesäuberte Tafel gerichtet, die Hände in die Hüften gestützt. Übrigens, das fiel mir ein: eine Körperhaltung, für die es im Englischen den wunderschönen und zugleich mysteriösen Ausdruck arms akimbo gibt. Möglicherweise bedingten sich wundersame Schönheit und Mysterium auch gegenseitig. Ziemlich wahrscheinlich war dem sogar wirklich so.

13.4.

Österliche Gefühle vom Suchen und Finden. Es gibt derzeit viel nächtlichen Aufruhr in den Schlafgebieten der Wassertiere, die bei Sonnenaufgang in Kleinarbeit zu Brutstätten umgebaut werden. Ich erinnerte mich an das vergangene Frühjahr, als bis in den Sommer hinein das in den Schatten unter dem Steg plazierte Nest der Blässhühner dreimal zerstört und dreimal an derselben Stelle auf ein Neues errichtet wurde. Von denselben Hühnern. Jedenfalls nahm ich das an. Sie sahen für mich ja allesamt identisch aus. Dummheit oder unermüdlicher Glaube an die Richtigkeit ihrer ursprünglichen Entscheidung, dass dort der ideale Ort wäre, um ihre Brut aufzuziehen. Am Ende wurde daraus dann gar nichts, und sie fuhren sinnlos geworden, Nahrung aufnehmend und sich selbst erhaltend, dem herbstlichen Dasein entgegen (im für ihre Art typischen Zickzack). Ihr Leben »erst recht« genießend, sorglos wahrscheinlich schon; dafür einfach fett werdend, fetter als die anderen Hühner und Hähne, die mit ihren Nistplätzen ein besseres Gespür bewiesen hatten, oder einfach bloß Glück gehabt, das ist einem Blässhuhnpaar double income no kids nicht möglich.

Beim Schneiden eines Petersilienbüschels, mit nobler Geste, wie schon ein Adliger im 14. Jahrhundert seine Petersilienbüschel schnitt (allerdings gab es da noch keine Spaghetti in diesen Breiten), schnitt ich mir recht bäurisch, aber irgendwie auch passend als Zutat zu einem herzhaften Mahl, in den ländlichen Daumen, ganz vorne an der Kuppe, woraufhin dort von meinem Daumennagel fortan ein halbmondförmiges Stück fehlte. Aber darunter blutete es kaum. Das nahm ich als Zeichen für die beginnende Nacht zum Gründonnerstag, die für mich ja auch eine Nacht des Anfangens, des Heilens und die einer Zusammenführung ist. Außerdem wurde ich abgelenkt, weil im Anschluß an die Dauerwerbesendung für die Tagesschau-App ein Brennpunkt, wie es noch immer heißt: ausgestrahlt wurde, in dem ein Terrorexperte des Ersten Programms das Bombenattentat auf den Fußballbus analysierte. Der Sportchef des WDR erläuterte, dass im Fußballsport der letzte (oder einzige) Kitt bestanden habe, der die deutsche Gesellschaft zusammenhält. Ungefähr da passierte mir das Malheur mit dem Petersilienbüschel und mir fiel eine Szene für einen Krimi ein, in dem der Hauptdarsteller sich versehentlich sämtliche Fingerkuppen abtrennt. Er will Hilfe anrufen, aber es geht nicht, weil er mit den Fingerstümpfen hilflos auf dem Glas seines Smartphones herumglitscht. Eventuell bittet er Siri um Sprachassistenz, aber sie versteht ihn immer falsch.

Spannend! Es müsste halt noch geklärt werden, wie genau er seine Fingerkuppen alle auf einmal verliert. Eventuell auch kurz nacheinander. In einer Kaskade unglücklicher Zufälle (Tarantino). Oder durch einen Psychopathen (wie in dem Traum vom irren Kutscher bei Proust, der ihm die Fingerspitzen erst abzubeißen versucht und sie schließlich einfach absägt).

Am Morgen dann Sonnenschein, der in grellgrünen Streifen schräg auf dem Rasen lag. Aus tiefem Heilschlaf erwacht, die Wundoberfläche hatte sich wie von allein verschlossen. Das Nachwachsen des Daumennagels, das ein Wahrheit ja ein Absterben bedeutet, wird aber deutlich langsamer vor sich gehen.

12.4.

Zwei Tage energisches Wehen und sämtliche Kirschblütenblätter liegen abgerissen, vom kalten Regen durchweicht und unansehnlich geworden im Gras. Was soll das? Bei Magnolien ist es dasselbe: Wenn die schönen Blüten sich erst entfaltet haben, darf es nie regnen, sonst ist der Zauber nach wenigen Tagen vorüber. Bei den Magnolien sind sogar die großen Knospen schon empfindlich. Sie bekommen von im falschen Winkel auf die Dolde knallenden Regentropfen und auch schon vom zu hart Angewehtwerden in Windeseile Druckstellen, die sich zu hämatomartiger Fäulnis verbreitern. In Köpenick neulich, die junge Magnolie dort, die ich in einem Vorgarten sah, an der ist jetzt alles hin.

Der Kirschbaum hält hier nun wenigstens büschelweise junge Blätter bereit, die, gerade entrollt auf ihrer Oberfläche, schillern zwischen rötlich und grün. Und es gibt noch einen Trost: Die Sonnenuntergänge sind derzeit besonders schön. Gestern beispielsweise, das Tageslicht schien einzig noch durch einen langen Schlitz, der quer über dem Waldsaum sich spannte wie eine goldene Kette, wie ein Faden aus flüssigem Glas, der immer dünner wird und doch niemals reißt; am Himmel zerliefen die in Tusche notierten Wolken.

Und freilich die Vögel. Nun singen sie nicht mehr nur, sie tirillieren. Auch dass es schlimm weht und kaltes Wasser regnet, kann ihnen keinen Einhalt gebieten. Es sind simpel konstruierte Apparaturen, die hüpfen, äugeln und tirillieren. Es geht vor Sonnenvorgang, vier Uhr fünfzig los, wenn in die winzigen Äuglein die ersten Wellen des blauen Spektrums eindringen. Dann sind sie eingeschaltet. Das Vogelfrühlingsprogramm spult sich ab und am Abend, wenn die blauen Wellen wieder überhandnehmen, legt der Amselhahn den lyrischen Gang ein und bringt das lange Lied. Stand ja am Sonntag in der Zeitung im Text von Cordt Riechelmann, dass die Amselmännchen das im Frühling regelrecht üben müssen (nicht im Keller, aber unter Bäumen oder hinterm Busch), bevor sie ihre Arie in gewohnter Qualität zur Aufführung bringen können. Abendliedsänger: für den apparathaft hüpfenden, äugelnden, pickenden Vogel, für Nestbaumaterialspediteure und Nestbaumaterialflechter ein Zweitberuf.

8.4.

Die Wanderung zum babylonischen Bier war sehr lang, sie führte ja bis an den Fluss namens Dahme im Südosten der Stadt. Bis dahin war ich stundenlang unterwegs und dieser Weg führte vor allem an Wohnhäusern entlang. Das ist, selbst nach Einbruch der Dunkelheit, kein besonders abwechslungsreicher Wanderweg. Hier und da sah ich zusammengedrängt ein Pärchen sitzen, die Laptops leuchtend im Schoß jeweils, auf den Stufen vor einem Backshop, der geschlossen hatte (das WLAN bleibt nach Ladenschluss an). Ansonsten nur wenige Menschen, wenn, dann in Autos. Die Stimmung war Industriegebiet.

Im New Yorker hat Bianca Bosker einen Text geschrieben über die geruchliche Verwüstung ihrer Stadt, sie erzählt von einem Teil, den sie zufällig entdeckt hatte, der schon nach gar nichts mehr riecht. Sie zählt die Summen auf, die von der Stadt New York in neue Müllkippen investiert wurden, es sind Hunderte Millionen. Ich weiß gar nicht, wo in Berlin die Müllkippen sind. Die müssen ja auch ganz schön groß sein. Die Müllabfuhr hier funktioniert tadellos. Es liegt nie irgendwo etwas herum. Das war einmal anders. In New York allerdings auch.

Die Dahme ist unspektakulär. Im Dunkeln vor allem nicht von der Spree zu unterscheiden, mit der sie, so wird die Lage Köpenicks auch definiert: hier zusammenfließt. Auch das Gebäude, in dem das babylonische Bier ausgeschenkt werden sollte, sah jetzt nicht einmal so ähnlich aus, wie ich es mir vorgestellt hatte (wie einen Sandberg oder wie einen Tempel). In anderen Städten wäre es eine Bushaltestelle. Erstaunlich aber dann doch, dass darin nicht nur die Gäste Platz fanden, sondern das Bier auch gebraut wurde. Der Braumeister selbst war allerdings nicht da. Aber die Legende, wonach er im diplomatischen Dienst der DDR tätig gewesen sein soll, und im Zuge dessen, während er in Österreich stationiert war, das Handwerk des Bierbrauens erlernt haben soll, diese Geschichte wurde mir auch hier erzählt. Wobei meiner Recherche zufolge es sich um einen Anlagenbauer handelte, der in den siebziger Jahren in einer Patentschrift als Mitinhaber eingetragen wurde (da ging es um Reaktorbau). Und diese Version erschien mir angesichts der vertikal in den engen Gastraum eingebauten Brauapparatur auch sozusagen nahestehender.

Das babylonische Bier hingegen: ganz interessant. Mich erinnerte es an das Weltenburger Barock. Auch ein altes Bier, gewiss, aber gegen das babylonische chancenlos, weil dessen Rezept aus der Keilschrift übersetzt wurde und mindestens 1500 Jahre alt war. Ich fragte mich schon, weshalb ausgerechnet hier, wo Dahme und Spree zusammenfließen, etwa drei Stunden Wanderung von der Innenstadt entfernt in einer ehemaligen Bushaltestelle, ein Bier nach einem aus der Keilschrift übersetzten Rezept ausgeschenkt wurde. Ich war ja auch der einzige, der eigens deswegen angereist war. Die übrigen Gäste waren aus der Nachbarschaft gekommen. Für die war das ganz normal.

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