»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

6.4.

Aufwachen und vor dem Fenster sind Kirschblüten. »Ich schäme mich nicht.« Es ist Zeit vergangen, seit Bertolt Brecht das gesagt hat und entweder ist die Welt schon ein bisschen besser geworden, oder ich nur ein bisschen egoistischer, aber beides gefiele mir nicht schlecht.

Die Kinder sind auch früh auf, sie hüpfen auf dem Trampolin wie im vergangenen Jahr. Es ist jetzt, als ob es den Winter nie gegeben hätte, eine Apokatastasis der schönen Zeit, auf dem Trampolin ist sie wohl nahe der unbeschwerten. Sie rufen: »Endlich ist der Blumenbaum wieder da!«

Die dicken Hummeln kriechen in die Kirschblüten hinein. Der Landevorgang ist schwierig, diesen im Kontrast zur Kirschblüte schweren, schwarzen Wesen fällt es nicht leicht, an den zarten Kelchen anzudocken. Ich empfinde größten Respekt vor den Leistungen der Natur.

Das Boot liegt noch immer umgedreht unter der Weide, die pudrige Knospen bekommen hat wie Sommersprossen. Noch ist es zu kalt, aber vor etwa einem Jahr habe ich hier in dieses Internet gemeißelt, dass für mich das nächste Jahr erst am Ostersonntag beginnt. Und so wird es sein.

Casa Dentalis (als Name für die Praxis eines Zahnarzts – kleiner haben die es hier nicht. Was kommt als nächstes? Palazzo Vaginae für den Frauenarzt?). Ich kam an dem Gebäude rein zufällig vorbei. Am Ende einer Wanderung, zu der mich die Wirtin des Cafés aufgefordert hatte, das einstmals noch Creamcheese hieß. Ich saß dort drin unter einem der Reliefs von Schinkel und versuchte, auf Empfehlung von Moritz von Uslar, den Text Maxim Billers zu lesen, in dem er einen neuen Level von Excitement erreicht: Es sind jetzt allesamt Antisemiten, die seine Bücher nicht kaufen, oder am Nichtkauf seiner Bücher direkt oder indirekt mitbeteiligt sind. Mir ward gleich die Schuldhaftigkeit meiner Existenz siedendheiß eingefahren, denn auch ich leide als Unbeschnittener noch immer ziemlich nachhaltig an meinem Trauma, das mir Maxim Biller, der Jude, einst in Tutzing beigebracht hat, als er mich vor versammelter Mannschaft als »Sklaven der Industrie«™ bloßgestellt hat wie eine unbeschnittene Eichel am Strand von Haifa zur Mittagszeit.

Ob ich mich ins Fenster setzen könnte, um diesen sinistren Text zu beenden, fragte ich die Wirtin, die ihre Krawatte an diesem Abend in Pralinéetönen ausgesucht hatte.

Sie schaute mich an: »Na gut, Du siehst wenigstens nicht so aus wie die anderen alten Männer in Deinem Alter.«

»Wie sehen die aus?«

»Na, anders. Bedürftig. Die schauen stundenlang aus dem Fenster, ob sie eine Frau anspricht.«

»Lass ich sein, ich versprechs«, woraufhin sie mir empfahl, doch nach Köpenick zu gehen, um mir dort diese Mikrobrauerei zu gönnen, wo es, das behauptete sie tatsächlich, ein Bier gäbe, das nach einem zweitausend Jahre alten Rezept gebraut wird. Es hieße »Babylonisches Bier«. Der Braumeister, ein ehemaliger Diplomat der DDR, hätte sich das aus der Keilschrift übersetzen lassen und verfahre danach.

Ließ sich nicht ignorieren. Ich dachte von da an andauernd nur noch an dies Bier. Und freilich auch an den Braumeister. Fürchtete mich allerdings etwas vor der Wanderung. Denn die Bahnhöfe meide ich in Berlin, so viel und so gut es nur geht. Bei dem Sicherheitspersonal, das die BVG einstellt, brauche ich Sicherheitspersonal, das mich vor dem Sicherheitspersonal in Sicherheit nimmt.

Kurz vor dem Sonnenuntergang ging ich dann aber los.

5.4.

Die ungute Leere, die mancher verspürt und derentwegen er sich auch schämt, weil es ja Frühling wird, soll, glaube ich Felicitas Mogler, in einer seelischen Widerspiegelung der Konstellation am Sternenhimmel im April begründet sein. Sie schreibt, auch wenn ich es ungern zugebe, noch schöner über den Sternenhimmel als Herr Marx in der Frankfurter Allgemeinen. Im April dominiert ein Schwarzes Loch ihren Text: »Zentrales Objekt des Virgohaufens ist eine elliptische Riesengalaxie mit der Bezeichnung Messier 87. Sie lässt sich mit einem guten Feldstecher auffinden, wirkt aber darin recht unscheinbar.« Sie führt dann extrem lehrreich aus, wie und unter welchen Umständen diese unscheinbare Riesengalaxie vor zweihundert Jahren entdeckt wurde, wie über die zweihundert Jahre die Astrologen an der Erforschung des »Nebelfleckchens«, als die ihr Entdecker, ein Franzose, sie bezeichnet hatte, drangeblieben sind, dass sie niemals aufgegeben haben, sie zu beobachten und immer weiter in sie zu gehen, währenddessen die Feldstecher nur langsam immer besser und besser wurden (aber noch lange nicht sind sie schon gut genug). Und so bleibt es bei der Vermutung, auch heute noch, dass im Zentrum dieser Galaxie Messier 87 ein Schwarzes Loch mit einer Masse von 6,6 Milliarden Sonnenmassen rumort. »Im Vergleich dazu besitzt das Schwarze Loch im Zentrum der Milchstrasse nur 4,3 Milliarden Sonnenmassen. Doch während sich das Schwerkraftmonster in unserer Galaxie ruhig verhält, fungiert jenes in M87 als Motor und treibt einen Materiejet an, der mindestens 5000 Lichtjahre in den Raum reicht.«

Ich las das und hatte kurz zuvor noch Besuch von einer Handlungsreisenden in Sachen kosmetischer Fachtexte, die mir von einer neuartigen Hautpflegeserie aus Südkorea berichten musste, deren Wirkstoff in Schneckenschleim besteht. Doch doch, ganz wirklich, sie führte das aus, dass die Südkoreaner mittlerweile auf dem Kosmetikweltmarkt als Innovationstreiber beliebt sind. Das Schönheitsideal der koreanischen Frau ist es angeblich, nicht bloß jugendlich zu erscheinen, sondern kindlich. Also ganz, ganz zarte Haut. Von daher der Schneckenschleim, der den Schnecken auf riesigen Farmen abgewonnen wird, um dann in die Creme – die im Grunde aber nur als Ersatzdroge zu verstehen ist, denn im Land selbst, in Südkorea, setzen die Frauen sich die Schnecken live ins Gesicht. Angeblich soll der Schneckenschleim gut für die Hautzellen sein. Er hält sie zart.

Ich konnte freilich nur schlecht zugeben, dass ich ganz andere Erfahrungen gemacht habe mit dem Schleim meiner Schnecken. Gedacht habe ich an die zersetzende Wirkung des Schleims meiner beiden Lieblinge aber schon. Gut, es war halt Salat. Aber sind die Salatzelle denn wirklich derart krass empfindlicher noch als die Zellen meiner Haut?

Und schon fiel mir der scheußliche Arcimboldo ein. Und über uns allen rumort der Materiejet mit seiner Masse von Milliarden von Sonnen. Tag und Nacht.

4.4.

Stundenlang fuhr der Zug durch die lieblichen Landschaften Hessens. Auf den Wellen des Sees hinter der Kinzigtalsperre glitzerte das Sonnenlicht. Einmal hatte ein Bauer ein sehr großes Stück Erdboden bereits umgepflügt und geeggt, eben und rötlich lag die Fläche da, umgeben von unterschiedlichen Grüntönen. Wenn das jetzt zwei auf sich genommen hätten, zwei ganz in Weiß, mit weißen Hemden zu weißen Shorts, mit weißen Kniestrümpfen in weißen Schuhen, sich mit zwei Schlägern einen Tennisball über dieses ewig breite Feld gegenseitig zuzuspielen, ohne Netz, und ich hätte, daran vorbeifahrend, zufällig aus dem Fenster geguckt. Wie der winzige Ball aufschlägt und wie es dabei staubt.

Über Fulda standen die Wölkchen in Konstellationen. Die Sonne schien, es leuchtete wie eh und je der rot lackierte Netzwerksrettungszug der Deutschen Bahn. Ich sehe ihn oft an, auch gerne, und weiß noch immer nicht, wozu er da sein könnte. Stattdessen las ich in der Zeitung den Aufsatz des Albert von Treuenfels über die Scheidenschnäbel, eine fluffige Art mit papierweißem Gefieder, die, empörenderweise, entweder Scheißvögel genannt werden oder halt Friedenstauben. Dazwischen fanden und finden die Antarktisfahrer wohl keinerlei Maß. Na ja, Seefahrt stelle ich mir sowieso als ziemlichen Albtraum vor. Oder: als nicht enden wollenden Horrortrip. Nichts für mich, auf jeden Fall. Man ist ja immer nass, also ist einem auch immer kalt. Wundgescheuert vermutlich auch deswegen. Oder Hornhäute – auch kein Trost.

In Braunschweig wurde es finster und grau, so ließ Berlin sich ankündigen, das hat Tradition und tatsächlich: Es war dort auch ganze zehn Grad kälter, sogar in der U-Bahn hatten die Leute noch Mützen auf. Oder schon wieder. Hatte ich tatsächlich noch viereinhalb Stunden zuvor noch am Bahnsteig in der Sonne gesessen? Ja, hatte ich. Und nicht bloß vor viereinhalb Stunden, nicht bloß am Bahnhof, sondern überall dort und das tagelang.

Im Dunkeln nach Hause gekommen, ganz unzufrieden mit dem Duft des neuen Waschmittels (Fehlkauf), aber als ich erwachte, war vor dem Fenster alles rosa. Weil jetzt der Kirschbaum blüht.

3.4.

Bei Sonnenaufgang waren am Horizont zwei Blüttenblätter eines riesigen Veilchens stehen geblieben. Die dünnen Ränder vergoldet, wie man das von den Mustern auf Sammeltassen kennt. Der Halbmond war am Himmel erschienen. In der Schneise zwischen den Mietskasernen sprangen die Leuchtbuchstaben eines Schriftzuges an und als es noch dunkler wurde, wurden die Begrenzungsleuchten an den Baukränen hoch droben zu rotem Gestirn.

Vor dem Wasserhäuschen ging es am Rande auch noch einmal um die Lämmergeier, eine Diskussion, die uns einst zusammengeführt hatte, aber gestern dann auch darüber hinaus um die historische Entwicklung in Frankfurt bis hin zu Techno, Väth, dem Ruhm wie Donnerhall und heute eben so gut wie nichts mehr davon übrig – es begann alles, so erzählte Andreas, mit und vor allem in der Music Hall. Erzählt wurde von einer einbetonierten Anlage, mit Lautsprecherboxen, die, wir sprechen von den frühen achtziger Jahren, es fertig bringen konnten, einem den Verstand wegzublasen. Alles, was nach danach kam, alles nach der von ihm als mythisch beschriebenen Music Hall – Mackie Messer, Dorian Gray, Vogue, Omen – war lediglich Thronfolge.

Es sind ja nicht nur Rave-Adelige, die sich dort am Wasserhäuschen einfinden. Sie sind ja auch teilweise mehrfach gescheiterte Gründer. Andreas beispielsweise, der bei unserem Kennenlernen von dem Apfelwein aus dem Geblümten in die Knie gezwungen ward, betreibt bei sich daheim einen 3D-Drucker. Auf meine Frage, was er denn damit druckte, antwortete er mir gern: »Halterungen beispielsweise. Du fragst dich doch oft, weshalb es keine Halterung gibt für das Mauskabel auf dem Schreibtisch – ich entwerfe mir das mittlerweile alles selbst und drucke es aus.«
»Für Zahnbürsten auch?«
»Ja, aber das ist erst der Anfang!«
»Bald werden sie auch ihre Kinder ausdrucken.«
»Das Genom ist schon entschlüsselt. Da kommt noch ganz viel.«

Alexander, der Kleinverleger, von dem ich beim ersten Mal gar nicht mitbekommen hatte, dass er Christoph Amend so ähnlich sieht, stellt mir Karl vor, im ungebügelten T-Shirt, Fleischtunnel durch beide Ohrläppchen, aber dezente, der uns über seine kleine Box, die über Bluetooth mit dem iPhone in seiner Hosentasche verbunden ist, mit dem Gesamtwerk von Edgar Wasser vertraut macht. Es läuft Der Undenker. Alle nicken. Es läuft Deutschsein. Alle nicken: »Beim Döner hat’s funktioniert, beim Döner hört’s auf«.

Matthias, der gerne erzählt, dass er dem Immobilienbüro, das gegenüber einen Container aufgestellt hat, um für die Mietskaserne, die hier im Zuge der sogenannten Flächenintensivierung des Gallusviertels errichtet werden soll, bald schon – die historischen Kleingaragen wurden bereits abgerissen – in die Klimaanlage pinkelt (»von oben hinein, Methode zwei Finger«), bemerkt den Ambulanzwagen als erster. Der Notarzt bremst mehrfach ab, startet dann wieder durch. Der Wagen bewegt sich in Rucken vorwärts, die Straße entlang.

»Navi kaputt.«

Dann wird es still in der Runde. Offenbar ist der, bei dem der Noteinsatz stattfindet, allseits bekannt.

Karl, der Jüngste: »Wir waren zusammen aufgewachsen.«
Alexander: »Hoffentlich kommt er durch.«
Karl gibt Entwarnung: »Ich arbeite als Sani. Wenn die die Blaulichter anlassen nach drei Minuten, lebt er noch. Ansonsten machst du die aus. Wozu noch die Eile?«

2.4.

Wir saßen auf dem Balkon und fragten uns gegenseitig die Hessischvokabeln ab. Der Nachbar telefonierte nicht, weil etwas braute sich auf dem Garagenhof zusammen. Dort unten stand er, deutlich sichtbar, weil er aus Gründen, die auf die Feier des Tages hindeuteten, in einem schwarzen Anzug mit dunklem Hemd aus seidig glänzendem Stoff seine Familie repräsentierte im Kreise einiger anderer Herren. Sie hatten sich um eine Biertischgarnitur herum aufgestellt, deren im charakteristischen Ton lackierte Oberfläche mit den abgezupften Blütenblättern von Geranien bestreut war. An den Garagentüren selbst klebten einige Bündel Luftballons. Der Nachbar telefonierte. Das Ganze machte einen verkrampften Eindruck.

Bis sich die Frauen ihnen hinzugesellten. Sie brachten Bonbonieren und trägerweise Fanta und Cola in Familienflaschen zu anderthalb Litern auf den Tisch. Sie waren allesamt üppig vom Körperbau her. Die Kleider aus Samt und Glitzerstoffen, die wie Kostüme aus einer tschechischen Verfilmung von Schneewittchen anmuten sollten, trugen freilich noch zusätzlich auf. Von den Frisuren her tendierte die Opulenz dann wiederum ins Ostafrikanische, was uns aber einleuchtete, da in unserem Viertel hier nun einmal sämtliche Salons von Äthiopiern betrieben wurden. Das war einfach Fakt.

Dem vielversprechenden Auftakt zum Trotz vergingen dann beinahe zwei Stunden auf eine Weise, die unsere Schaulust auf die Probe stellte. Weder kamen neue Gäste hinzu noch wurde des Buffet nennenswert aufgefüllt. Durch mein Fernrohr hatten wir längst auch sämtliche Einzelheiten studiert, wir kannten jeden Keks, der dort lag. Bloß halt was gesprochen wurde blieb rätselhaft, da hätte uns auch ein Höhrrohr nichts gebracht. Als die Mume aus dem dritten Stock herbeigetragen wurde, wussten wir aber, dass es nun zur Sache gehen würde. Von Beschneidung über Wittwenverbrennung bis Erntedank war alles drin.

Der Autokorso stellte alles in den Schatten, was wir an Autokorso in Erinnerung behalten hatten. Die nicht gerade breite, auch nicht lange Straße war im Nu mit schwarzen Autos gefüllt. Ein bisschen erinnerte uns das an den Vorgang des Wurstens, bloß halt dass die Würste nicht hupen, während man sie füllt. Die Braut entstieg ihrem schwarz glänzenden Gefährt in einem roten Kleid aus Tüll in so vielen Schichten, dass der Umfang ihrer Rocksäume circa fünf Meter maß. Einem Lieferwagen mit Offenbacher Kennzeichen war das auf der Seite in Elektrikerschrift angekündigte Trio entsprungen, allerdings war es dieses Mal nur zu zweit: Umhängetrommel und Klarinette. Ungewohnt eigentümliche Musik von einer fremdartigen Schönheit. Alle tanzten auf der Straße. Bonbons wurden herumgereicht.

Um uns etwas abzuregen und auch, weil das wichtig ist, den Tag auch noch von innen her in den Griff zu bekommen, brachen wir zu einem Spaziergang ins schöne Westend auf. Dort natürlich ins Café Laumer. Eine Oase, mehr gibt es zu diesem vielfach völlig zu recht in den grünen Klee gelobten Traumcafé nicht zu sagen. Wo Adorno wohl immer gesessen hat? Wir trauten uns nicht zu fragen. Auf dem Heimweg kamen wir an einem Grünstreifen zwischen zwei eben erst errichteten Mietskasernen am Rande der Europaallee vorbei, auf dem saßen zwei Hasen. Wir störten sie nicht.

1.4.

Frühling in Frankfurt. Kaum zu glauben, dass es dann im Sommer nur noch schöner hier werden wird. Und Nina Hagen weiß, wer ich bin: »Die Menschen singen, tralala, die neuesten Liebeslieder«.

Der Nachbar nutzt die wärmenden Strahlen der Sonne im Hoch über der Stadt und verlegt sein Homeoffice auf den Balkon. Im Stehen – dabei seitlich vom Stativ der Satellitenantenne gestützt, von vorn bietet ihm die Brüstung des Balkongitters Widerstand – ruft er in sein Telefon hinein in einer Sprache, die Bulgarisch sein könnte. Die den Hinterhof umgebenden Rücken der Häuser verstärken sein Rufen, es schallt in jeden der Winkel und seine Stimme klingt nach den von weither herangewehten Parolen des Anführers einer Demonstration.

Früh hatte ich auf dem Markt an der Konstablerwache alles für diesen Sonnentag Nötige besorgen können. Es findet dort ein veritabler Markt statt, bei dem aus teilweise entlegenen Gebieten des hessischen Umlandes angereiste Bauern ihre kindsfaustgroßen Radieschen tatsächlich feilbieten. Eine Frau, in der Ästhetik des Marktgeschehens kam sie mir natürlich als ein Weiblein vor, lud mich ein, ihren Apfelwein zu probieren, den sie in der edlen Variante eines Rosé verkaufte. In ausgespülten Mineralwasserflaschen, die sie in einer zierlichen Handschrift, wie sie heute kaum noch jemand beherrscht, mit schwarzer Filzstifttinte (Edding 2000?) beschriftet hatte. Der würde, das schien mir nach dem dritten Gerippten von ihrem Stoff auf magische Weise klar, sehr gut zu den Vogelsberger Bratwürsten passen, deren grobes Brät in Rot und Weiß wie schachbrettkariert durch die opaken Därme schimmerte.

Vor dem Café Plank legte ich eine Pause ein, um die Zeitung zu lesen, in deren Lokalteil neben einem albernen Aprilscherz ein Spezialteil enthalten war, der die Vorzüge eines Lebens in Frankfurt am Main referierte. Ich saß auf dem sonnengelben Stuhl, dessen blecherne Sitzschale dekorativ durchlöchert war wie bei allen anderen dort auf dem Bürgersteig auch, aber es war halt der einzige, der sonnengelb lackiert war, und diese Farbe stand in einem appetitanregenden Kontrast zu dem schattigen Umfeld dort vor der hohen Scheibe, die den Innnenraum dieses friedvollen Ortes vom öffentlichen Geschehen draußen scheidet und schied. Gerade hatte ich das Blatt entfaltet, da sprach mich eine Frau an. Ihr Anblick war bedauerlich. Sie litt unter Entzugserscheinungen. Ich gab ihr nichts. Der Kellner, jedenfalls kannte ich ihn in dieser Funktion, hatte eine Skibrille auf und entschuldigte sich von vorneherein für seine Unzuverlässigkeit. Er gab an, die Nacht durchgemacht zu haben, und sei rein zufällig hier an seiner Arbeitsstelle anwesend. Ein Kollege, nüchtern, räumte ihn aus dem Bild und brachte mir Kaffee, sowie etwas erwärmte Milch in einem polierten Kännchen. Ich zündete mir eine Filterzigarette an.

Die Frau war mittlerweile zurückgekehrt und hatte es sich zu meinen Füßen auf der Bordsteinkante bequem gemacht. Zwei dort abgestellte Autos boten ihr Sicht-, vor allem aber auch Windschutz. Nach der üblichen Kramerei entnahm sie ihrem Fanny Pack ein stählernes Pfeifchen, zog sich die Kapuze ihres übergroßen Sweatshirts über den Kopf und nach einigem Geklicke und Geratsche am Feuerzeug stiegen, zu beiden Seiten unter dem Zwergenhut, die Wolken eines dichten Dampfes auf, dessen ungewohnter Duft nach Kokosraspeln in erwärmtem Benzin auf vermutlich Crack hindeutete, vielleicht auch Crystal Meth, vielleicht war es auch einfach Heroin. Jedenfalls schritt sie hernach gefestigten Schrittes auf der Moselstraße einher.

Dem Kellner außer Dienst hatte das Reparaturbier ähnlich gut getan. An der Seite eines neu gefundenen Gefährten betrat er die Szene, sie fühlten sich bereit für weitere Taten. Ein dritter blieb an der Einmündung zur Münchner Straße zurück. Er wirkte unentschlossen, ob er sich den wild Entschlossenen anschließen sollte. Eine Bahnsteigszene. Der Lokomotivführer stieß in die Trillerpfeife, es ging in Richtung Front.

Der mit der Skibrille rief über die Köpfe der Kaffeetrinkenden hinweg freundlich gemeinte Schimpfworte, um dem Hasenfuß Beine zu machen. Der hatte sein Telefon gezückt, um seinen Anblick der davonschwankenden Gestalten für die Nachwelt festzuhalten.

Der mit der Skibrille, ihn fixierend: »Wenn du jetzt einen Snapchat von uns machst, ficke ich dein ganzes Leben!«

31.3.

Okamase, so heißt ein anderes der wohltuenden Worte aus dem Japanischen. Die Bedeutung ist: vertraue dem Anderen. Dahinter steckt ein gastronomisches Konzept, man darf nicht selbst auswählen, sondern isst, was auf den Tisch kommt. Habe ich ausprobiert in einem Lokal, dem Shiori in der Max-Beer-Straße. Da hing an der Decke ein Lampenschirm, der zusammengebunden war aus sämtlichen Blumen, die innerhalb eines Jahres in diesem Restaurant als Tresenschmuck aufgestellt waren. Nun hingen sie da, größtenteils ins Bräunliche und in artverwandt strohhafte Farben verblichen, geschrumpft auch die Kelche. Aber poetisch im Ganzen, auf diese überraschend rustikale Weise, die einem als Langnase einfach nie einfallen will, wenn ich die Augen schließe, um an Japan zu denken (im Vorraum der Toilette lag das Waschbecken voller Steine, Kirschblütenzweige und Moos – das Handwaschwasser sollte darüber rinnen als Bach en miniature.)

Im Speisewagen des ICE nach Frankfurt saß ich dann einer Frau gegenüber, die in einem Buch las, das Kräuter Kompakt hieß. Die Frau selbst sah genau so aus, wie ich mir einen Menschen vorstelle, der sich ein Buch kauft, das Kräuter Kompakt heißt. Also mit ihrem in Indigo gefärbten Blusenkittel und einer Carolin-Emcke-Frisur. Ihr Mann oder Lebensgefährte (im weißen Hemd) hatte sich die Schweinebäckchen mit Kartoffeltalern bestellt, die in der Speisekarte mit der Spitzmarke »raffiniert anders« gekennzeichnet waren. Als der Köbes ihm den Teller vorsetzte, rümpfte seine Begleiterin ihre Nase: jawohl, sie rümpfte. Ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich zuletzt eines Rümpfens teilhaftig geworden war jenseits eines vermittelten Geschehens in der Literatur, wo freilich noch andauernd und heftig und viel gerümpft wird. Und inständig entstand seine Unterwürfigkeit im Angesicht ihrer Missbilligung seiner Bestellung, eigentlich also hinsichtlich seiner undisziplinierten Ess-Lust, die ihn ja erst in diese in ihren Augen missliche Lage gebracht hatte. Denn im Speisewagen, so die Kräuterforscherin, das war auf der Innenseite ihres Rümpfens zu entziffern für mich: isst man, isst unsereins doch nicht. Ihr »doch« blinkte. Er aß dann doch. Und spielte ihr einen, leider schlecht gemachten, Lachflash vor, meinend: schmeckt ulkig!, bloß um wieder an Ansehen zurückzugewinnen in ihren Augen, die ihn zuvor mit milder Verachtung angezählt hatte.

Na ja. Ich finde den Speisewagen, ich finde sämtliche Speisewagen genial. Eine zutiefst kulturvolle Erfindung (und falls ich jemals etwas anderslautendes verfasst haben sollte, dann tut es mir leid). Wer den Speisewagen an sich, wer die darin servierten Speisen nicht zu würdigen versteht und sie ernsthaft zu kritisieren braucht, der hat, hier nun ein stimmiges Bild: nicht mehr alle Tassen im Schrank. Für einen Kritiker ist das wie Milchkühe schießen. Ich kann mich nämlich noch erinnern an die Zeit vor der Erfindung des Dampfgarautomaten und auch an die Zeit vor der Mikrowelle und sogar noch an die Zeit vor dem ICE. Da gab es Mozarttoast und es flogen in der Kurve auch schon mal die Tassen und Teller aus den Regalen. Im Übrigen waren damals noch die Kellner andauernd besoffen. Und die Köche machten Fehler (es kam zu Verbrennungen, manchmal brannte auch nur der Kittel). Darüber kann man einen Film drehen, wenn man wie Wes Anderson drauf ist. Ist man mehrere Spielfilmlängen lang durch Deutschland unterwegs, oder durch Japan, gibt es keine behaglichere Art des Reisens als den Speisewagen. Egal, was man dabei trinkt oder isst.

Die Landschaft zeigt sich endlich wieder lieblich geschwungen. Die Felder strotzen, es grünt wie in einem einzigen, nur manchmal durch Waldsäume disruptiv unterteilten Kressekästchen. Erste Bienen, sie sind noch rundlich und ihr seidiger Pelz macht sie zu fliegenden Weidekätzchen. Ganz tapsig müssen sie pausieren und sich aufpumpen, dann geht es fleißig weiter. Ich liebe Bienen, meine Hasen der Lüfte. Und die Frage, ob es unser Verhältnis zur zivilen Luftfahrt verändern würde, wenn die Flugzeuge nicht schnurgerade am Himmel vorüberzögen, sondern auf und abschaukelnd, sich in Thermik hineinstürzend, daraus emporjagend wie Vögel. Wenn das ihre Art der Fortbewegung wäre. Also unsere.

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