»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

10.6.

Takis Würger hatte bereits Platz genommen. Der Tisch stand, da wir vor dem Themroc saßen, auf dem Bürgersteig der Torstraße. Der Verkehr rauschte und die Aussicht ging auf einen hinter den vier Fahrspuren gelegenen Plattenbau, von dem ich erzählen konnte, dass es dieser brutale Anblick gewesen war, der die Gründer des Themroc auf diesen Namen für ihr ursprünglich illegal eröffnetes Lokal gebracht hatte. In jener Anfangszeit, natürlich im Winter, war ich dort regelmäßig zu Gast gewesen. Damals schrieb ich noch einen Foodblog, Der Spitze Löffel, der sich unglücklicherweise nicht hatte erhalten lassen. Die Way Back Machine findet nichts mehr davon, ich hatte die Texte direkt in WordPress geschrieben und nicht auf Festplatte gesichert. So wurde dann schließlich die Seite mitsamt ihren Einträgen im Internet verweht. Das gibt es also doch auch; das Internet vergisst.

Aus diesen Treibsandzeiten kannte ich Leon Kahane, der Takis Würger gegenüber saß, und der, wie es sich im Laufe des Gespräches herausstellte, ein Nachfahr von Victor Klemperer ist. Ich hatte ihn damals als Möbelpacker kennengelernt, der mir bei einem meiner vielen Umzüge geholfen hatte. Mittlerweile hat er sich als Künstler etabliert, an das Tragen meiner Habseligkeiten erinnert er sich heute nur noch ungern, weil es vor allem Kisten mit Schallplatten und Büchern gefüllt gewesen waren. Mittlerweile halte ich es mit Astrud Gilberto*: »I’m travelling light«.

Leon war auf Empfehlung Maxim Billers hin an den Tisch des Verlegers eingeladen worden. Maxim Biller selbst war leider verhindert, krankheitshalber. Ein Schnupfen. Später stieß dann noch Malakoff Kowalski dazu, der in diesen Tagen ein neues Image launcht: Er trägt nun nicht mehr die Kapellmeistermütze, sondern einen enganliegenden Hut mit schmaler Krempe (schwarz). Kaum da, klingelte schon sein iPhone. Ich spähte aus beiden Augenwinkeln auf dessen Display und entzifferte darauf »Maxim«, sowie ein mir unbekanntes Emoji. Um das Gespräch anzunehmen aber verließ Malakoff Kowalski das Restaurant – mittlerweile hatte es ja zu regnen angefangen – und als er nach einer Weile wieder zu uns sich setzte, richtete er allseitig Maxim Billers herzliche Grüße aus. Der Schnupfen hatte sich anscheinend verschlimmert.

Mittlerweile war unser Tischgespräch bei Arno Schmidt angelangt, es gibt ja doch sehr viele Menschen, die viel über Arno Schmidt wissen, aber noch nie etwas zu lesen angefangen haben von ihm. Die Dokumentation auf Arte neulich hat das Interesse an der Person Arno Schmidts von Neuem angefacht, die Interessensfackel wurde in die nächste Generation getragen, aber ob das der Verbreitung seiner Schriften helfen wird, wenn auch nur der schönen Bildbiografie, scheint mir ungewiss. Dabei ist doch die Literatur selbst auch eine Mediathek. Wenn auch mit heftigen Downloadzeiten.

Takis Würger lobte Das Große Heft und ich empfahl ihm Der Fang von Kenzaburo Oe. Er versprach mir, sich den Titel gut zu merken (inzwischen gab es Gin Tonics), aber wie immer, wenn jemand etwas festhalten wollte, hatte niemand etwas zu Schreiben dabei. Dann verließ uns der Verleger, dann die Lektorin, dann die Literarische Welt. Übermorgen beginnt die Buchmesse in Jerusalem.

Dieser Abend, das bekam ich als Wehmut zu spüren, hätte vor ein paar Jahren noch bis um zwei Uhr oder drei Uhr, oder auch noch länger dauern mögen. Einmal, da hatte ich mit Adriano Sack im Themroc getagt, crashte ich mit meinem extrem schnellen Elektrofahrrad in eine Baugrubenumzäunung, die, unbeleuchtet und dementsprechend fahrlässig, mitten auf der Torstraße aufgebaut worden war. Meiner damaligen Ansicht nach hinterrücks. Von den bad Heinzelmännchens. Während wir nichtsahnend im Themroc gesessen hatten.

Stattdessen dann gab es in der nächtlichen S-Bahn die leider üblichen Szenen von Verzweiflung und Wahn, an die ich mich seit so vielen Jahren schon nicht gewöhnen kann.

Was soll’s: Früher begann der Tag mit einer Schusswunde.

* September 17, 1969, Verve Records

9.6.

Seit meiner Rückkehr nach Berlin leide ich an dem Wetter. Zumindest glaube ich das, weil ich den Weissagungen Claudia Kleinerts vertraue. Es liegt wohl an dem ausgeprägten Tiefdruckgebiet, das einen fiebrigen Namen trägt. (Und tatsächlich hat es vorvorgestern und vorgestern auch heftigst geregnet. Beide Male befand ich mich zufällig an derselben Straßenkreuzung, als die ersten Tropfen fielen. Gerade so, als hätte ich mich dort mit dem Regen verabredet.) Nachts schlafe ich wie ausgegossen und beim Aufwachen fühlt es sich an, als ob ich einen kleinen Ballon im Kopf hätte. Tagsüber wird dieser Ballon manchmal noch aufgepumpt.

Da man es der Natur draußen nun wirklich nicht ansieht, dass sie unter einem ausgeprägten Tiefdruckgebiet liegt, fällt mein Verdacht mittlerweile auf das Wasser aus dem Wasserspender in der Redaktion. Es handelt sich um ein neuartiges Gerät, das aus dem Berliner Leitungswasser, das ich eigentlich gut vertrage, durch Filterung und anschließender Bestrahlung mit ultraviolettem Licht und dabei noch durch Zugabe von Kohlensäure (es wurde eine kleine Flasche von der Firma Linde angeliefert!), eine Art Mineralwasser ohne Mineralien macht. In der Mündung des Spenders, der in einem extrem maskulinen Design mit viel Schwarz und einem Paneel aus gebürstetem Aluminium gehalten ist, leuchtet es in einem geheimnisvoll kühlen Blau hinter dem Strahl. Kann man mit Licht desinfizieren? Und, ob ja oder nein: ist das gesundheitsschädlich?

Das Gerät steht dort seit guten zwei Wochen (könnte sich herausstellen, dass es schlechte waren), und es wird fleißig genutzt. So auch von mir. Und seitdem, zumindest kommt es mir so vor, gibt es allseits die Klagen über Müdigkeit und ein latentes Gefühl des Überfahrenwordenseins. Gestern berichtete ich einer Kollegin von meinem Gespräch mit Adwoa Aboah, sie kam aus dem Gähnen nicht heraus.

5.6

Klagend, durchdringend, spitz, aber trotz alledem unerhört meldet die Waschmaschine das Abgeschlossensein ihres Waschvorgangs (Baumwolle, 40°, 1800 Umdrehungen pro Minute im Schleudergang). So geht das über die Stunden. Offenbar ist kein Mensch dort drüben vorhanden, der sie erhört. Und abschaltet. Um denen den von Menschen den Menschen zugedachten Verrichtungen nachzugehen (ausräumen und aufhängen). Wer denkt sich so etwas aus? Ein Maschinensignal vom Prinzip her wie der angebliche Gesang eines Amselhahns. Unbeirrbar piept die Maschine vor sich hin.

Ein freudloser Tagesbeginn nach schlaflos verbrachter Nacht. Schawül, Roman. Einsamer Höhepunkt war ein lautstark ausgetragener Streit auf sogenannter offener Straße gegen halb drei Uhr. Es ging um die Überbleibsel von Sperrmüll. Zu heiß, um die Fenster zu schließen, das Lärmen auszusperren. Rhabarber Rhabarber, hört hört!

Die Handlung als Intimfeind der Schrift. Das an sich hässliche Wort Plot als eine die Schönheit der Schrift zersetzende Instanz. Wie Peter Handke über die Entstehungsgeschichte des Chinesen des Schmerzes, nach Carlo Emilio Gadda, verriet, hatte er damals noch ab und an eine crime-storyhafte Action in seine Erzählungen eingebaut. Warum, das erschien im selbst wie durch Schleier ergründlich; ob es die Zeit war, auf jeden Fall eine Mode, er sagte aber, dass er im Schreibvorgang dann die Luft angehalten habe, wie für einen Tauchgang, bei solch einer Stelle. Und mit angehaltener Luft schrieb er sich durch die Action hindurch.

Ich kann zwar lange, aber nicht so lange die Luft anhalten, um mich zur anderen Seite des Lebens hindurchzuleben, wenn mir eine Action widerfährt. Freudlos heute alles. Ein Flugzeug zieht waagerecht durch ballenweise Wolken dort auf seiner Bahn. Morgen ist Wäldchestag. Die Feierlichkeiten werden in meiner Abwesenheit abgehalten. Das nimmt mich mit. Ich nehme es hin mit chinesischem Lächeln. Eins ist so gut wie das andere heut.

4.6.

Es war ja freilich auch noch Ramadan, weswegen sich die Menschen zäh und langsam durch den warmen Regen vorwärts schoben. In einer Parallelgesellschaft bereitete man sich derweil auf den Wäldchestag vor, der am Dienstag gefeiert wird. Laut Regionalbeilage entstand der Feiertag aus dem kernigen Brauch, dass die Frankfurter Buben dann in die umliegenden Wälder auszuschwärmen hatten, um sich dort Stecken zu schneiden und ihren Lehrern zu überreichen, damit diese sie damit dann im nächsten Schuljahr züchtigen sollten. Die Gläubigen im Ramadan wussten von dieser Tradition vermutlich nichts. Manche kamen von der himmlischen Erfrischungsgabe herausgelockt aus den Call Shops und ihren Bäckereien, um zumindest auf dem feuchten Pflaster vor den Ladenpforten stehend, angetan in papierweißen Hosenanzügen mit den bis oben hin zugeknöpften Blusen ohne Kragenflügel, etwas von der Luftfeuchtigkeit zu inhalieren. Ein Sikh hatte einen Turban derart gelb, dass es auf mich so wirkte, als habe er sich eine ausgehöhlte Honigmelone aufgesetzt.

Wie es im Präludium zu Manhattan, dem Film von Woody Allen heißt: »He idolized it all out of proportion«. Was mir an Frankfurt so gut gefällt, ist, dass man hier auf ganz wenigen Straßen ganz viel unterschiedliche Menschen zu Gesicht bekommt. Frankfurt ist für mich so, wie Gottfried Benn das einmal in Bitterkeit von dem kühlen Bier geschrieben hat, an einem Sommertag, das man sich leider nicht leisten kann. Ja, es ist so, und das ist vermutlich kitschig, na und, dass ich den Eindruck habe, es fehlt dort nichts von der Vielfältigkeit der menschlichen Existenz. Sämtliche Arten: Frauen, Dicke, Alte, Junkies, Kinder natürlich, Gerechte und Ungerechte. Und der Regen fiel, weil er bekanntlich keine andere Wahl hat, auf alle dort, die hier westen und gingen und strebten, vielleicht ans Aufgeben dachten, mal wieder, zwischendurch, oder an diesem Samstagnachmittag zum allerersten Mal.

Auf dem Balkon, später, als es dunkel war und noch immer tröpfelte, kam rings aus dem Hinterhof das Knipsen der Feuerzeuge auf, gedämpfte Telefongespräche, was man halt so macht am Abend. Geschirr. Der Basilikum duftete, es war wie im Frieden, aber dann rief meine Mutter an, ein Grund zur Freude ja eigentlich, aber sie hatte mir eine schreckliche Nachricht zu überbringen. Unsere Verwandschaft, ohnehin nicht weitläufig, war wieder etwas kleiner geworden. Mein jüngster Cousin hatte sich entschieden früher zu gehen. Schon bei der Beerdigung meiner letzten Großmutter war er verhindert gewesen. Nun hatte er es sich erfüllt.

Mir fiel diese wiederkehrende Szene aus Kindertagen ein, wenn wir dort zu Besuch gewesen waren. Erst hatte man gefremdelt, sich dann gelangweilt, irgendwann, viel zu spät, mit dem gemeinsamen Spielen begonnen. Und wenn dann die Eltern die Köpfe ins Spielzimmer der Gastgeber gesteckt hatten, um die Heimfahrt anzukündigen, hatte man aufgeschaut, ganz verwirrt: »Oh man, jetzt schon!«

Ich lese den Teil der Sonntagszeitung über dem »Leben« steht heute zum ersten Mal traurig gestimmt. Weil alles, wovon darin berichtet wird, an guten Tagen freilich langweilig sein kann, oder save for later. Aber nun erscheint mir jeder Satz dort von Wichtigkeit, nichts davon sollte man verpassen wollen. Leben ist wunderschön. Es ist teuer. Und deshalb auch fürchterlich anstrengend oft. Das Schlimmste am Leben an diesem Morgen aber bleibt dies geheime Wissen: that it goes on.

3.6.

Man kann sich, mit einem bisschen Phantasie, den Hauptbahnhof in Frankfurt als eine künftige Moschee vorstellen: dass dort endlich die Türmchen links und rechts des gewölbten Hauptgebäudes sich eines vom Spargelwachstum abgeschauten Speed in eine unerhörte Höhe zu sprießen erfreuen werden oder sollen, die höher noch wird sein denn jener der Commerzbank (sic!), die momentan dahinter noch die architektonische Rolle eines Platzhirschens erfüllen kann.

Gut, ich saß dort in diesem Bahnhofsviertel, da, und las die Zeitung, in der es, saisonbedingt, vor allem um die Vorbereitungen zum Wäldchestag ging, da sprach mich ein wahrer Wundergreis an.

Und zwar mitten vor dem Plank! Er hatte einen Hut auf, dessen Krempe oder Schirm extrem weit auskragend gestaltet war. Und er stellte sich mir dann auch gleich als ein Stammgast vor, denn er reiste, obwohl schon beinahe Siebzig, noch immer und, wie er betonte, »extra« aus Niederrad an, um hier, also dort vor dem Plank, eine Rhabarbersaftschorle zu trinken.

Man saß dort, anfänglich wie in einem riesengroßen Magen, es grummelte, derweil der Himmel über Frankfurt sich zuzog mit Wolken feistester Abart. Dann, mittlerweile hatte es angefang’ zu regnen, aber wie wir beide dann leiderweis’ feststellen mussten: ohne jeglichen Effekt des Petrichor. Der Greis unter seiner Mütz’ gab sich als ein Angestellter einer Luftfahrtsgesellschaft zu erkennen. Und das war mir ja bereits vorgestern beim Wiedersehen mit Dr. Nickel aufgefallen: Wenn man in einer Lufthafenstadt wie in Frankfurt wohnt, dann sollte man auch tunlichts am Lufthafen arbeiten wollen, denn so ist es nu’ mal unter Leichtmatrosen und Schriftstellern: man habe gehörigst ein abenteuerlich’ Herz.

Es regnete dann bald so, dass die Tauben ins Schleudern gekommen waren. Eine rutschte vom schwarzen Dach eines Smarts ab.

Ich, persönlich, mache mir manchmal Gedanken – nicht eben noch – wohin das alles, mich insbesondere, noch führen wird. Ganz anders, geradezu ausgeruht aber der Greis unter dem Schirm seines schattenspendenden Schirmes gesprochen: Er sagte: »Machen Sie sich bitte keinerlei Sorgen. Allein, was ich selbst verpasst haben werde im Leben—von heute aus gesehen: war alles ein Witz!«

Und danach, es hörte auch auf mit dem Regnen, sprachen wir über die Eigentümerverhältnisse auf der Münchner Straße. Er wusste sie alle. Und nannte die Hausnummern den Familiennamen zugeordnet, also beispielsweise: »Dem Ata gehört doch auch die 12«.

2.6.

Vom Heroin erzählt man sich, dass es konserviere. Nun habe ich von dem Saft der Schlafmohnkapsel stets mich frei gehalten, steer clear sister morphine, aber: wann immer ich nach Frankfurt komm’, fällt mir dieser Satz halt ein. Und so auch gestern! Wir standen dort, in der Goethestraß’, und nippten vom Champagner. Ich dachte beilängs über die wunderbaren Images nach, die Frankfurt, die Stadt so voll mit Türmen, in der Innenstadt uns reich serviert’. Nadja Auermann war da, es waren überhaupt beinahe alle da, und wir standen dort auf der Goethestraß’, um uns zu amüsieren. Ich konnte es, anfänglich, kaum glauben, aber es war tatsächlich auch der Doktor (Eckhart Nickel) erschienen, und er hatte, das fand ich seltsam, aber seltsam gut, seine Lesebrille sich auf den Kopf gedreht und vor seinen Augen trug oder trüg er eine Sonnenbrille. Und dazu passte, dass Uschka Pittroff, einst noch in Hamburger Tagen eine Magnatin, bei selbigem Event überraschenderweise barfüßig erschienen war.

Wir standen dort im Zeichen der Schlange, die aus einem Drahtgeflecht gemacht worden war. Es gab Champagner in einem Free Flow, und Alfons Kaiser sagte, dass es dort, inmitten Frankfurts, noch nie so gut wie heute ausgesehen hatte. Gleich nebendran stand Nadja Auermann zur Verfügung und ich musste – ohne leider – zugeben, dass sie kein bisschen von ihrem Charme verloren hatte, bislang. Daraufhin fuhren wir heim.

Der sogenannten Reihe nach war es so, dass ich auf dem Hinweg nach Frankfurt neben einer Dame gesessen hatte, und sie las im Stern, präzise jene Geschichte, die Dirk van Versendaal über Veronika Heilbrunner verfasst oder abgefasst hatte. Und darüber schlief sie bald ein. Wohingegen ich im Ficko blätterte, einem Magazin »Für die guten Dinge, und gegen die schlechten«, aber das war ja für mich eine Lektüre, die aufbauend gemeint war; erbaulich, und als wir Hanau erreicht hatten, wachte die Lady auf.

Das mit dem Heroin und seiner konservatorischen Fähigkeit oder Gabe, fiel mir dann freilich erst dort in Frankfurt ein. Kurz danach ging am Wasserhäuschen dann das Gerücht um, dass ein noch nicht identifizierter Schütze einem Baggerfahrer dort im Gallus versucht hatte, in dessen Kopf zu schießen. Von wegen Verhinderung dort der Intensivierung der Flächenbebauung. Und die Bedienfrau dort im Wasserhäuschen sagte: »Des ist Mord«.

Umso größer dann gestern die Freude, nach 17 Jahren den Doktor Nickel wiederzusehen. Aka Eckhart. Und er hatte sich auch extra zurechtgemacht: er hatte die Brill’ auf der Stirne und die dunkle tief unten in seinem Gesicht. Aber was er dort, in Klagenfurt, lesen wollte, darüber gab es noch keine klare Auskunft von ihm. Dafür freute er sich aber schon sehr. (Und war, wie Alfons der Starke, der in Wahrheit ja Kaiser heißt, zu berichten wusste: Scharf auf die Damen.)

Unter anderen war Nadja Auermann da.

So ging es dahin. Ich hatte noch den Smalltalk der herrlichen Greise im Kopf, die, dort im ehemals Kölner Eck’ über die Veränderungen in der Gallusschen Kirche mir berichtet hatten. Da war von dem versuchten Kopfschuss in den Baggerpiloten noch nicht einmal zu denken gewes’. Aber der Wortführende, der überdies noch flaumiges Haar hatte, reichte seinem Freunde die Zeitschrift der Diözese über den Tisch und sagte: »Seit wir das schwule Pfarrpaar hier haben, weht in unsrere Gemeinde ein frischer Wind«. Da saßen wir unter den gebogenem Wasserröhren, über uns blühte die Geisblattwinde, das Bier kostete 1 Euro 80 den halben Liter und unsre Sorgen waren weggeflogen. Weit weg.

Sei’s drum. Getrommelt wie gepfiffen. Wenn ich mal sterben muss, dann würd’ ich dies gerne in Frankfurt tun. Weil dort halt das Leben noch so ist wie gedacht. Folglich wäre das die letzte Szene, die ich dann säh’. Und was die Leute bloß immer von der vierten Wand reden wollen: Ich kenne noch eine fünfte, sie schwebt quasi oberhalb der Bühne, sie gehört alleine mir.

1.6.

Die Skyline besteht aus lauter solchen Türmen wie dem Monument am Fischstein, auf einem steht HAUS DER LIEBE.

Bühnenbild von Adriana Varejão, der weltweit anerkannten Spezialistin für das Genre Bäder, Saunen und Verwandtes. Brasilianerin, Südamerika, super hot. Im Gespräch mit Hans-Ulrich Obrist freilich super langweilig, aber wer wäre das nicht? Ihr Gemälde Blue Sauna entdeckte ich in einem Katalog von Sotheby’s (£400.000 - 600.000). Versteigert wird im Auftrag von Mario Testino. Die Erlöse kommen seinem Museum in Lima zugute. In der Werkliste auf Adiana Varejãos Website fehlt dieses Bild. Aber es gibt eine Bleistiftzeichnung des Motivs (gekachelte Wände und ein buchstabenförmiger Schatten), die nicht ohne Reiz ist. Sie ist sechs Jahre nach dem an Testino verkauften Gemälde entstanden, 2009, und hat einen eigenen Titel bekommen, Madame F.

Danach kurzes Telefonat mit Casey Spooner. Ich frage ihn, was in den letzten 17 Jahren passiert war, seitdem wir uns im WMF gesehen hatten. Erzählt er mir, das dauert 42 Minuten. Ich habe eigentlich gar keine Zwischenfragen. Sage so alle zehn Minuten etwas wie »verstehe«, einfach bloß so vor mich hin, als Lebenszeichen, für mich selbst vor allem, da ich mich dann schon beinahe gänzlich als aufgelöst erlebe im Fluß seiner Erzählung; kurz auftauchen, Luft holen, mich umsehen im Raum, der ja doch leer ist in Wirklichkeit, dann wieder hinab ins Gespräch, ihm zu lauschen: Historia universal de la infamia.

Heute früh fiel mir auf, dass ich noch nie ein Bläßhuhn an Land gesehen habe. Obwohl deren Füße so groß sind, bestimmt doppelt so groß wie die von Enten. Noch nicht einmal im seichten Wasser stehend habe ich eines in flagranti erwischt.

APHEX TWIN: Vogel fliegt, Bläßhuhn schwimmt, Mensch fährt mit dem ICE.

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