»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

22.9.

Was es bei Natalia Ginzburg über das Verhalten der Kinder angesichts ihres zeichnenden Vaters heißt: »Wenn mein Vater zeichnete, hielten wir Kinder den Atem an«, gilt in ähnlicher Weise ebenso für das Verhältnis der Insulaner von Hvar zum Sonnenuntergang. Wenn das Naturschauspiel beginnt, tritt der Barmann durch das helle Viereck vor seine Tür und fährt wie geistesabwesend damit fort, sein Glas zu polieren. Die Frau an ihrem Küchenfenster dreht das Radio leise. Alle schauen wie gebannt auf den fernen Ort hinter der kleinen Insel, die inmitten des Hafenbeckens liegt. Dahinter scheint die Sonne unterzugehen. Dort verläuft die gerade Linie des Wasserspiegels quer über den Horizont. Darüber färben sich die Wolken ein – so es welche gibt, vorgestern gab es gar keine, gestern nur wenige, kleine – von dorther kommt der inlandige Wind, der durch die Kiefern rauscht, und die unter den Aschenbecher geklemmten Kassenbelege auf dem Tisch vor der Bar zum Flattern bringt.

Gerade noch wurde geredet, es lief Musik, jetzt wird geschaut. Die Faszination des Sonnenuntergangs nutzt sich selbst bei den hier auf dieser Insel Geborenen nicht ab, wie es scheint; und das gilt auch für das herrliche Wasser des Meeres, das ihren Genuss nur noch zu steigern scheint, denn ich habe hier schon mehrmals Männer gesehen, die beim Hinausschwimmen in die vom Sonnenuntergang farbig beglänzten Wellen angefangen haben zu singen wie verzückt.

Ich frage mich, ob der Ursprung des Kinos hier zu finden sein könnte; also nicht dort, auf Hvar, sondern in der Betrachtung von Sonnenuntergängen als kollektivem Erlebnis. Auf großer Leinwand. Größer geht es nun einmal nicht.

20.9.

Exkursion nach Starigrad, der anderen Stadt auf der Insel. Hvar ist, von oben betrachtet, extrem dünn, dafür unverhältnismäßig lang. Ungefähr so, wie ein durch intensive Sonneneinwirkung warm und weich gewordener Autoaufkleber von Sylt, den zwei streitende Kinder an den Enden gefasst, weit und weiter auseinandergezogen haben. Im Gegensatz zu Sylt ist die kroatische Schwesterinsel aber nicht bloß länger, sie ist auch sehr bergig. Die Stadt mit dem Namen Stari — denn Grad bedeutet Stadt, was ältere Leser sich schon gedacht haben werden, denn auch die Stadt Stalin lautet unter anderen daraufhin an — liegt Hvar zwar auf der Karte direkt gegenüber, trotzdem dauert die Fahrt mehr als eine halbe Stunde, in denen der Bus sich einmal ganz in die kroatische Bergwelt hinauf und dann natürlich auch von den Gipfeln wieder auf die Höhe des Meeresspiegels hinunter schrauben muss.

Von solchen Busfahrten durch die karstige Bergwelt des ehemaligen Jugoslawien hat schon Peter Handke geschwärmt. Ich kann ihm nur zustimmen. Die Landschaft, die ausschließlich aus weißen und hellen Steinbrocken, Kiefern und unbekannten Sträuchern besteht, ist wunderbar. Ich kann mich nur an eine vergleichbar schöne Busfahrt erinnern, die führte von Oaxaca zurück in die Hauptstadt und vor meinem Fenster waren an den kargen Hängen der Sierra Madre del Sur ganze Wälder aus Kakteen zu sehen. Die Kakteen gedeihen auf Hvar nur in der Küstenregion. In den Bergen oben war es auch neblig, und an den steilen Hängen waren netzartige Muster zu erkennen: das waren Hunderte Trockensteinmauern, mit denen die Kroaten seit Jahrhunderten die Erosion ihrer karstigen Hänge einzudämmen versuchen. Man kann sich diese Arbeit der Bergbevölkerung nicht schwer genug vorstellen. Sie besteht hauptsächlich aus dem Schleppen und Aufschichten von Steinen.

Dementsprechend besteht das Mahnmal für die Opfer des deutschen Nationalsozialismus im Hafen von Starigrad auch aus einem hühnenhaften Mann mit Hammer. Die Stadt Stari feierte übrigens im vergangenen Jahr ihr zweitausendvierhundertjähriges Bestehen. Es gibt eine im Verhältnis zur Größe des Städtchens gewaltige Anzahl von Kirchen. Eine der ersten, sie steht direkt am mit dem herrlich klaren Salzwasser gefüllten Hafenbecken, ist derart übertrieben niedrig und klein, das daneben stehende Kloster dito, dass sich ein plastisches Bild ergibt von der Körpergröße der Menschen vor sechshundert Jahren: Sie waren winzig. Die Bronzestatue des Arbeiters ragt von der Kirche aus betrachtet geradezu Unheil verkündend empor.

Auch in Stari übrigens keinerlei Fisch. Auch auf dem Markt von Starigrad bleibt die Fischhalle während der Belagerung durch die durstigen Briten dauerhaft geschlossen. Kroatisches Sashimi, eine Platte mit dick aufgeschnittener Salami zum kräftigen Brot, wird serviert. Dazu gibt es Unmengen des inseltypischen Trinkjoghurts, der zäh reißend aus dem Flaschenhals in den Schlund fällt.

Schon vom Bus aus war uns am Ende eines Pinienwaldes ein angenehm brutalistisches Gebäude aufgefallen. Dabei handelete es sich, wie wir durch Erkundung dieses Waldes herausfanden, um die Hotelanlage Helios aus den sozialistischen Zeiten. Einer gewaltigen Stadt aus Bungalows und mehrstöckigen Riegelbauten, die sich um verrostete Tennisplätze, Fußballfelder und Minigolfanlagen gruppiert bis an die Küste erstreckte. Dort präsidierte, gewissermaßen als Krone dieser architektonischen Schöpfung, das schönste Hotelgebäude, das zumindest ich je schauen durfte. Es hieß auch so: Arkadia. Erbaut für circa ein- bis zweitausend ihrer Erholung bedürftiger Arbeiter hatte das Haus nichts von seinem ehrwürdigen Glanz verloren. Ganz im Gegenteil: Es wirkte gerade im heutigen Hvar luxuriös. Zurückhaltend, geradezu dezent waren die Speisesäle eingerichtet und kaum dekoriert, in denen gerne fünfhundert Personen gleichzeitig ihr Abendessen einnehmen konnten. Aus der Küche, die eiserne Tür stand einen Spalt weit offen, hörten wir fröhlichen Gesang. Offenbar ging die Arbeit gut von der Hand. Beinahe sämtliche Zimmer wiesen auf die Bucht hinaus. Der Krümmungswinkel des Gebäudes war so berechnet worden, dass von sämtlichen Fenstern aus lediglich die unbebauten Berge und das herrlich türkisblaue Meerwasser zu sehen blieb. So konnte sich jeder hier während seines Aufenthaltes dem Eindruck hingeben, wie es hier auf Hvar vor zweitausendvierhundert Jahren ausgesehen hatte. Vor der Erfindung von Nationalsozialismus, Pub Crawling, Jachten und elektrischem Stroms.

18.9.

Es gibt hier auf der Insel ein Fischproblem, wie wir heute beim Baden erfahren haben, man hat uns davon während des Herumschwimmens im Meer erzählt. Die Fischmarkthalle, die als ein Teil des kleinen überdachten Marktes im Ortskern noch einmal unter einem Extradach eingerichtet ist, war am Montagmorgen wider Erwarten noch immer mit Gittern verschlossen. Über den steinernen Zuschneidetischen drehten sich die Propeller des Deckenventilators, sonst war nichts weiter los. An der Wand hing ein Blechschild, auf dem das Piktogramm einer durchgestrichenen Katze aufgedruckt war. Die Gummihandschuhe der Zerleger lagen auf den Arbeitsflächen bereit. Wie um den Zwang zur Tatenlosigkeit zu demonstrieren.

Denn es ist wohl so auf Hvar, wie uns von Slavica erklärt wurde: Die Touristen verlangen mittlerweile nach derart großen Mengen von Fisch, dass für die Inselbewohner selbst nichts mehr übrig bleibt. Die Fischer verkaufen ihren gesamten Fang direkt ab Boot an die Restaurants auf der schauderhaften Hafenmeile, deren Wirte sie mit marktfernen Preisen locken können, weil sie die zubereiteten Fische zu exorbitanten Preisen an die Briten loswerden. Hierbei sprechen wir ja von Restaurants, auf deren Terrassen man unter weißen Sonnenschirmen sitzt, deren Stoffe von unten her mit an dem Gestänge befestigten Schwarzlichtröhren beleuchtet werden.

Das Meerwasser hat hier eine besondere Qualität, die meiner Vermutung nach damit zu tun hat, dass hier die Brandung beständig an Felsen leckt. Es ist unglaublich salzig. Von daher erfährt man als Schwimmender einen Auftrieb wie sonst nur im Toten Meer. Man braucht nur wenige Schwimmbewegungen, um voran zu kommen. Das Schweben im Wasser besorgt das Wasser von sich aus. Mühelos bewegt man sich stundenlang in den Fluten, ohne müde zu werden. Am Nachmittag fanden wir uns in der Bucht vor dem Restaurant des mystischen Signor Mustačo ganz plötzlich von einem Schwarm kleiner Fische umgeben. Das Wasser ist ja beinahe schon unwirklich glasklar, man braucht gar keine Taucherbrille, um bis in die Tiefe um einen herum sehen zu können. Diese Fische waren silbrig, mit großen, ausdrucksvoll starrenden Augenscheiben und einer feinen, wie mit Tusche auf Alufolie gezogenen Querlinie. Als Abteilung vor ihrem Schwalbenschwanz hatten sie einen senkrechten schwarzen Blockstreifen wie aufgedruckt. Sie verhielten sich zutraulich, umschwärmten unsere Körper. Über uns war keine Wolke am Himmel. Das blieb auch so, und dementsprechend mild gestaltete sich der Sonnenuntergang.

Hvar wird im Volksmund übrigens so ausgesprochen wie waahr. Aber das nur nebenbei.

17.9.

Europa ist beinahe endlos weit: Nach einer zwölfstündigen Reise, die mit einer Fahrt im Regionalzug begann, dann zweimal Flugzeug, und nach der Ankunft im Fährhafen von Split noch eine Fahrt über die adriatische See, kamen wir endlich auf der Insel Hvar an. Dort war es dunkel. Aber während unser aufhaltsamen Reise hatten wir bereits einige Eindrücke von kroatischer Konsumkultur bekommen und von daher fügten wir den schwarzen Bildern, die vor den Fenstern des Überlandbusses an uns vorbeizogen, die eindrücklichsten von ihnen hinzu. Beispielsweise die in kroatischen Städten und auf den kroatischen Flughäfen omnipräsente Werbung für die kroatische Limonade Pipi, deren kurioser Name uns als Nichtkroaten freilich immer wieder zum Schmunzeln bewegt hatte. Vor allem auch, weil diese überall auf großflächigen Plakaten beworbene, und den gemalten Plakatmotiven zufolge wohl orangefarbene Limonade verblüffenderweise so gar nicht leicht erhältlich war, wie es die überall und großflächig auf Werbetafeln ausgehängten Plakate suggeriert hatten. In Split beispielsweise, wo es in ungewöhnlich großen Tropfen warm geregnet hatte, waren wir an jeder der kleinen Imbissbuden dort am Saum der Hafenanlage abgewiesen worden, weil es an keiner der Buden eine Flasche der von uns verlangten Pipi gab.

Unser Haus erreichten wir um kurz nach 21 Uhr. Ein gewaltiges Rauschen fuhr die ganze Nacht lang durch die Pinien auf dem abschüssigen Grundstück, gemischt mit dem Wellenschlag der nur wenige Meter entfernten Steilküste. Wir sanken in einen tiefen Schlaf.

Die Zikaden hier sind beinahe handgroß, dementsprechend laut ertönt ihr feilender Grind noch vor dem Sonnenaufgang, aber man gewöhnt sich daran. Obwohl es sich bei den Kroaten um extrem orthodox lebende Christen handelt, haben die Supermärkte auf der Insel auch am Sonntag geöffnet. Gleich im ersten, der in einer Art Baracke zwischen zwei Felsen untergebracht war, wurden wir im Kühlregal fündig: Pipi schmeckt wie ein kräftiges, dabei extrem lösliches Brausepulver, das mit viel zu wenig Wasser versetzt wurde. Des Weiteren gibt es in Kroatien eine große Auswahl an Würsten im Mortadellaformat, die aber nicht nur appetitlich geformt sind, sondern dazu noch in fußballtrikothaft schimmernden Plastikhüllen abgefüllt angeboten werden. Raffiniertes Kekssortiment. Die Kroaten selbst sind eher wortkarg, fast ruppig. Ein Lifestyle, der vermutlich auch mit durch die Lebenswelt beeinflusst wird, denn die Insel besteht im Wesentlichen aus Kakteen, Pinien und Granatapfelbäumen. Und alle wurzeln sie auf weißen Felsen. Es gibt auch nur ganz wenig Strand, der ist größtenteils an die englischen Touristen verkauft. Eine Leidensgeschichte, von denen insbesondere die Griechen auf Kreta, aber auch die Südfranzosen von Antibes ein Lied singen können. Auf Hvar in Kroatien zeigen Verbotsschilder von dieser schmerzhaften Geschichte einer Unterwerfung der orthodoxen Insulaner unter das britische Joch. Diese Schilder sind wie Höhlenmalereien, sie zeugen von den Schandtaten, deren man mittlerweile zum Glück nicht mehr ansichtig werden muss. Beispielsweise ist dort ein Piktogramm eines schmerbäuchigen Schluckspechts abgebildet, der den Inhalt eines schäumenden Maßkruges in sein Pez-spenderhaftes Maul hineinschüttet, dabei aber auch noch torkelnd tanzt und singt. Strafe: 120 Euro – es scheint die einzige Sprache, die dieses Volk der Unholde versteht. Die Kroaten selbst sprechen ein schönes, wenn auch schlankes Englisch; sind wie gesagt vom Naturell her eher wortkarg wie ihre geliebten Berge, die weiß und nur von Kakteen, Granatäpfelbäumen und hier und da von Pinien bewachsen aus der Inselmitte in den Hintergrund ragen. Dazu viele Kirchen, deren Türme aus dem Inselfels vierkantig gebaut sind und an den Film Vertigo von Alfred Hitchcock erinnern. Ebenfalls verboten ist das Betreten der Kirchen oben ohne, sowie das Verzehren von dreieckig zugeschnittenen Pizzastücken, während man auf dem Boden sitzt, Maßkrüge in sich hineinleert, und dabei im Sitzen torkelt und singt.

Gottseidank war es aber bei unsererem umsichtig gewählten Ankunftstermin so gewesen, dass dort auf Hvar schon das Saisonende gefeiert wurde. Und Hvar ohne Engländer ist lieblich. Das Meerwasser klar, es fällt von der Steilküste gleich metertief ab und man schaut, im dunkelblau glitzernden Wasser herumschwimmend, auf seine eigenen Füße. Der Felsboden darunter ganz weiß. Es duftet nach Pinien. Seltsamerweise gibt es kaum Vögel. Die Kroaten servieren sehr guten Kaffee.

14.9.

In den vergangenen Tagen waren die beiden halben Stunden jeweils vor dem Aufgang und vor dem Untergang der Sonne mein Geschenk. Beschenkt wurde ich morgens von Stille, die um sechs Uhr noch beinahe absolut ist am See, bis auf vereinzeltes Knarren aus den Schnäbeln von Wasservögeln. Ein Rauschen geht durch das Laub an den Bäumen wie der Wellenschlag. Dazu der tröstliche Anblick des letzten Bildes von Heiner Geissler auf der Zeitung. Die Totenmaske des Bergsteigers im Alpenglühen. Kohls Gesicht: ein schmelzender Haufen von Deftigkeiten. Es gibt Menschen, die behaupten, in meinem Gesicht lesen zu können wie in einem Buch.

Von all meinen guten und schlechten Ideen war es die beste, aus dem Stadtkern hierher an den belebten Rand umzuziehen. Selbst nach einem verstörenden Traum reicht es aus, eine halbe Stunde lang auf das Wasser zu schauen, und ich finde mich wieder hergestellt. Das hält bis zum Abend, wenn es am Boden längst dunkel ist und sich am Himmel zwischen den schwarzen Wipfeln noch Reste von bunt gesäumten Wolken zeigen wie in den blauen Stoff gebrannt.

Vor dem kleinen Hotel gegenüber war gestern ein Trupp aufmarschiert, insgesamt keine zwanzig Menschen, vom Schüler bis zur stämmigen Greisin mit Kurzhaarfrisur, die demonstrierten gegen die allwöchentlich Versammlung der AfD-Ortsgruppe. Von den Polizisten waren sie angehalten, in einem Abstand von zwanzig Metern vor dem Hotelrestaurant zu verbleiben. Unter der großen Kastanie vor der Bäckerei entrollten sie ein Transparent, auf dem mit roter Farbe bespritzten Buchstaben geschrieben stand: »Euer Deutschland treiben wir ab«. Dazu wurden Fahnen der Linken Piraten, der Linken und der AntiFa geschwenkt. Ein junger Mann in einem Anzug aus fleischwurstfarbenem Plüsch, dessen Kapuze mit den Augen und dem Rüssel eines Schweinekopfes bestickt war, las eine Ansprache ab, die über Lautsprecher übertragen wurde. Zwei Männer dokumentierten den Aufmarsch mit den Kameras in ihren Telefonen. Einzelne Passagen der Rede wurden wiederholt, um aus anderen Perspektiven aufgenommen zu werden, dabei gruppierten sich auch die Protestanten mit den Fahnen um, sodass es auf den diversen Einstellungen stets so aussehen würde, als ob sich eine üppige Menge von Fahnenschwenkern spontan um den Redner im Plüschanzug geschart hätte. Für die komplette Studioproduktion vor Greenscreen fehlt der Widerstandsbewegung vermutlich das Geld.

11.9.

Ich stelle fest, dass ich leider sehr ungeduldig bin, wenn Autoren mir von ihren Schreibproblemen erzählen wollen. Ich lese das sehr gern, aber im Redaktionsalltag verfahre ich nach dem äthiopischen Sprichwort* Keine Ausreden, bloß Ergebnisse – der Satz sieht in den wie aus Zweigen gefügten Schriftzeichen der amharischen Sprache dazu noch hübsch aus; er hing in dem Hotel, in dem ich einige Zeit meines Lebens wohnte, über dem Eingang zum Küchentrakt. Das Schild freilich in sich schief und dann noch einmal schief an die Wand angebracht. Und außerdem hielt sich niemand dran.

Die schlechteren der Autoren liefern einen Text, der wie Dornröschens Garten wirken soll. Die angeblichen Gedankengänge schlingen sich umeinander wie Brombeerranken, kaum ein Anfang führt irgendwo hin. Alles scheint miteinander verbunden, so als hätte Adorno nicht eindringlich genug davor gewarnt, dass nur der Laie verbinden will. Da hilft bloß noch abholzen. Und hoffen, dass aus den Strünken dann noch irgendetwas keimt. Im Zweifel mache ich es dann halt selbst.

Die besseren der schlechteren Autoren, und das ist mein Update für Hinter den Spiegel erzählen ihr Thema in drei abgeschlossenen, miteinander beliebig komponierbaren Blöcken. Das macht es dem Redakteur einfacher. Und dem Autoren bringt es den Vorteil, dass er leicht überprüfen kann, ob sich in jedem seiner Blöcke überhaupt ein Gedanke befindet. Adorno und Kubrick kannten sich nicht.

Am Abend, die Bahn legte sich in die Kurve zwischen Zoologischem Garten und Savignyplatz, sah ich zwischen zwei Häusern den Sonnenball. Es gibt sie leider noch nicht, diese App, die mir zu jeder Tageszeit die fraglichen Cafés anzeigt, vor denen ich noch im Sonnenschein sitzen könnte. Aber ich kann auf Erfahrungswerte zurückgreifen. Ich ging rasch bis zum Cheesecake und bekam einen idealen Platz mit Aussicht in die lange Straße, an deren Ende die Sonne versank. Das Pflaster färbte sich orange im Widerschein, die Fassaden gaben es wieder. Um diese Jahreszeit dauert das Naturwunder nur noch zehn Minuten. In der Dämmerung blinkte ein Auto dort noch lange mit orangefarbenen Warnleuchten. Wie ein Sample des vergehenden Sonnenlichts.

*In Äthiopien wird heute das Neujahrsfest gefeiert. Die Regenzeit ist vorüber. Es blüht die kleine Mezkalblume und die bunten Mezkalfinken piepsen all überall aus den Avocadobäumen. Ich wünsche meinen braunen Freunden von Herzen ein Frohes Neues Jahr—Igziabeher Mezkal!

10.9.

Der Absturz des Redaktionssystems sorgte für einen unerwartet freien Samstag. In etwa wie Hitzefrei. Was macht man da? Im Kühlschrank hatte ich die Zutaten für den Pistazienkäsekuchen nach dem Rezept von Eyal Jagermann, von dem ich nur Gutes gehört hatte. Teilweise waren diese Zutaten schwer zu beschaffen gewesen. Andere, vor allem Mascarpone und die vielen Eier, lebten dort in meinem Kühlschrank in der ständigen Gefahr, noch vor der ihnen ursprünglich zugedachten Verwendung aufgegessen zu werden.

Bei Martina und Moritz ging es in dieser Folge um Schönes aus Hackfleisch. Beeindruckend fand ich eine Roulade aus ganzen Mangoldblättern, belegt mit Schinken und darauf noch eine Schicht Käse, in die das Hackfleisch eingerollt wurde. Die Roulade selbst wurde dadurch so lang und auch von ihrem Umfang her wie ein Frauenarm. Es gab dann in der ansonsten gut sortierten Teleküche der beiden nur eine einzige Reibe, in die der dunkelgrün glänzende Stumpf hineingepasst werden konnte (und das auch nur diagonal). Im Anschnitt zeigte sich dann ein appetitliches Schneckennudelmuster – bravo! Ich sehe es übrigens nicht ohne Besorgnis, dass der WDR seit einigen Wochen ein, wie es heißt, Ökosystem, um diese herrliche Sendung, ein Klassiker seit über dreißig Jahren immerhin, drumherumbaut. Vorher, was da zuvor immer lief, weiß ich gar nicht, kommen jetzt auf jeden Fall immer die Cocktailtipps eines Barkeepers. Seit neuestem werden die auch noch durchmischt oder aufgelockert mit zwei kochenden Frauen, die in Schürzen ohne viel drunter Rosenkohl kneten und alles lecker finden. Als Fan und Kenner von Martina und Moritz finde ich dieses Umfeld herabwürdigend. Wahrscheinlich will man sie aus dem samstäglichen Vorabendprogramm gentrifizieren.

Der Kuchen musste dann über Nacht eingefroren werden. Kam mir abstrus vor, hat aber funktioniert. Er ist außen extrem knusprig, im Anschnitt zeigt er sich von innen grün. Die Farbe bekommt er von dem erwähnterweise schwer zu beschaffenden Pistazienmark. Schmeckt tatsächlich so genial, wie von den Gästen des Barbary behauptet wurde. Musste allerdings sofort mit Leberwurstbroten gegensteuern.

Schade, dass die Amseln um diese Zeit im Jahr verstummen. Geräusche machen nun vor allem die Blaumeisen. Eine, ich kenne sie nun schon im zweiten Jahr – zumindest bilde ich es mir ein, dass es dieselbe ist, die im vergangenen Winter an mein Schlafzimmerfenster geklopft hatte, empört, weil ich keine Meisenknödel zur Verfügung gestellt hatte –, hüpft gerne ins zentrale Gelenk der Äste des Kirschbaumes, wo sie noch von den Blättern verborgen sitzen kann, um minutenlang vor sich hinzuschimpfen. Mit einer Stimme, die nicht etwa blau klingt, sondern silbern.

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