»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

20.10.

Freunde in anderen Städten zu haben, ist wunderbar. Aber diese Freundschaften wollen gepflegt werden. Und so strebte ich nach einem frühen Mittagessen im Bistrot de Paris über die Brücke zum rechten Ufer der Seine und dort zum Opernplatz, wo, exakt wie vor zwei Wochen, der kleine Hase Pinocchio mit seinem Herrn auf dem Trottoir saß. Beziehungsweise lag, das Häslein schlief, wie mir sein einbeiniger Herr mit der traditionellen Geste seines vertikal über beide Lippen angelegten Zeigefinger bedeutete. Ich breitete meine Gaben aus. Und kaum hatte Pinocchio den Petersilienstrauß gewittert, richtete er sich auf und, als ob er mich wiedererkennen könnte, knabberte am Wildleder meines Schuhs. Eine vertrauliche Geste, da bin ich mir sicher. Die goldenen Figuren auf dem Opernhaus.

Das Wetter in Paris war gestern außerordentlich schön: sonnig, warm und dazu ging den ganzen Tag ein kräftiger Wind. Im Bistrot, wo Zeit seines Lebens Serge Gainsbourg zu Mittag aß, der sich bei Cartier einen Judenstern aus Titan hatte anfertigen lassen, den er als kleinen feinen Orden für seine überstandenen Jugendjahre im von den Nazis besetzten Paris ans Revers geheftet trug, aß ich ein Pfeffersteak, dazu den erfrischenden Endiviensalat und eine kleine Flasche Château Palmer. Von dem Salat ließ ich mir einpacken. Für meinen französischen Freund.

Beim Sonnenuntergang zeigte sich die in der Presse versprochenen Farben, die tatsächlich außergewöhnlich waren, denn der kräftige Wind bringt dieser Tage sowohl Flugasche von den Waldbränden in Portugal, als auch Wüstenstaub aus der Sahara in die Atmosphäre über der Zentralregion. Beiden Stäuben ist angeblich zu eigen, dass sie das Blauspektrum des Sonnenlichtes durch Einsprengselung verzerren, wodurch die rötlichen Töne hervorgehoben erscheinen.

Der Pilot flog eine genüssliche Schleife über die Stadt, die da schon im Dunkeln lag, so dass es für mich so aussah, als sei die schwarze Kruste des Planeten geplatzt und hätte dort ein Craquelé von Rissen bekommen, durch die ich auf ein unterirdisches, geheimes Meer aus goldenem Licht schauen durfte. Einsam stand dort der Eiffelturm. Und was ich nicht wusste: Der Scheinwerfer an seiner Spitze, er dreht sich und wirft einen Strahl ringsum nach Art eines Leuchtturmes. Warnend wie wachsam zugleich.

17.10.

Peter Marino schickt Honig. Wir hatten in Paris auch über seine Bienenvölker gesprochen. Er hält sie auf seinem Landsitz in Long Island, die Stöcke sind dort unter den Bäumen der Pfirsichplantage aufgestellt. Im August konnte er sieben Liter Honig ernten. Das Glas hat ein von ihm gestaltetes Etikett, das Logo zeigt ein Piktogramm seines Gesichtes in voller Montur (er läuft ja in schwarzer Motorradkleidung herum, mit verspiegelter Sonnenbrille und lederner Kapitänsmütze.) Der Deckel ist, wie bei den teureren Marmeladensorten und denen von meiner Mutter, von einem gefälteten Papierhäubchen bedeckt. Ich nehme eine Kostprobe zum Kaffee, während beim Nachbarn schon der Laubsauger saugt; eventuell handelt es sich auch um einen Laubbläser, der bläst: fein und süß – und mir noch zu flüssig. Aber passend freilich zum penibel gemalten Anblick des gegenüberliegenden Seeufers. Hinter dem Fries der Masten zeigen sich goldene Fassaden unter spitzen Giebeln. Quakend fliegt eine V-Formation durch das Bild.

16.10.

Ich sah den Sommer vergehen in einer einzelnen Wespe, die gerade noch Halt gefunden hatte auf der schmalen Leiste des Geländers. Es war Sonntag, Nachmittag, der Himmel war blau. Wie atemlos, erschöpft lag die Spindel tief auf ihren zuckenden Beinen. Die Flügel eingefaltet. 

In dieser Form erstarrt, liegend im Sitzen, waren von ihrem Dasein die Farben geblieben. Gelb wie das Herbstlaub ringsum, weiter unten an den Bäumen, auf der Rasenfläche leuchtend im Hof, einem Abgrund, in den die Wespe von ihrem letzten Landeplatz auf dem Balkongeländer geweht werden würde vom abendlichen Hauch.

14.10.

Auf dem alljährlichen Empfang der Redaktion der Zeitschrift Titanic, der in dem direkt an das Ufer des Mains gebauten Vereinsheim eines Ruderklubs stattfand, kam es im weiteren Verlauf des Abends zu einer überraschenden Begegnung mit zwei Männern, die mir seit Jahresbeginn auf seltsame Weise vertraut geworden waren, dies aber nur anscheinend, denn, wie es heißt, in persona waren wir uns bis dahin noch nie begegnet, auch war es mir bis gestern hin und wieder fraglich erschienen, ob es sich bei diesen mir durch ihre Texte vertraut gemachten Autoren überhaupt um Personen handelte, oder vielleicht auch nur um zwei Pseudonyme ein und derselben schreibenden Person.

Das Heim des Ruderklubs war als Gebäude selbst wie ein Schiff gestaltet, mit einem langen Fensterband, durch das die hinter dem schwarzen Wasser aufragenden Türme schön zu betrachten waren. Das gute Wetter des Samstags ließ sich schon mit warmen Nachtwinden ankündigen, als ich auf die als Achterdeck konstruierte Terrasse trat. Dort sprach mich ein Mann mit meinem Namen an. Und stellte sich mir vor mit »Ich bin Dax Werner.« Ein anderer behauptete »Und ich bin Startup Claus.« Ich zögerte, schließlich befanden wir uns auf der Feier eines Satiremagazins. Schon am Buffet war ich ja auf einen Scherz hereingefallen, denn was ich für eine Kaltschale aus geachtelten Erdbeeren hielt, hatte sich in meinem Mund als löffelweise Knoblauchzehen entlarvt, die in einen rosenfarbigen Sud eingelegt worden waren.

Auch die angeblichen Twitterstars Startup Claus und Dax Werner sahen komplett anders aus, als ich sie mir manchmal vorgestellt hatte. Ihre Accounts und ihre Texte hatte ich im Februar zufällig entdeckt, im weiteren Verlauf des Jahres hatte sich aus dem einst obskuren Phänomen dann rasch ein die deutschsprachige Szene des sogenannten Kurznachrichtendienstes dominierende Kultur entwickelt, das sogenannte Gründertwitter. Der Avatar von Dax Werner zeigte von Anfang an das rötlich gegerbte Gesicht eines Mannes von jenem Schlage, wie man sie in Berlin noch rudelweise im Bistro Floh oder vor der Fischerhütte am Schlachtensee in bunten Hosen antreffen kann. Altgediente Unternehmer im ewigen Vorruhestand, die einer durch Michael Cretu bekannt gemachten Vorliebe für extravagante Brillengestelle fröhnen. Startup Claus hingegen zeigte seinen Postings zugeordnet stets das Bild eines schon leicht magenkranken Vertrieblers, der, wo Dax Werner ein keckes Hütchen mit dem Markenzeichen von Gatorade trägt, sein Haupt mit einem Indianerschmuck umkränzt.

So etwas prägt sich, ob man nun will oder nicht, ein. Phänomene der Neuroplastizität hatten dafür gesorgt, dass ich aus diesen Gesichtsbildern und den angeblich dazugehörigen Äußerungen dieser künstlichen Persönlichkeiten eben dies konstruiert hatte: Identität. Wie sich jetzt gestern herausgestellt hat, gibt es immerhin zwei Personen, die sich eindeutig zu jeweils einem dieser Namen zuordnen lassen. Aber natürlich sehen sie nicht nur nicht so aus, wie ich es mir vorgestellt hatte, sie denken auch ganz andere Gedanken, sprechen mit anderen Stimmen als gedacht. Arno Schmidt hat ja, auf sich bezogen, davon abgeraten, den Autor kennenlernen zu wollen. Er bezeichnete sich im Vergleich zu seinem Werk als »den defekten Rest«. Bei Werner und Claus verhält es sich erfreulicherweise genau umgekehrt.

13.10.

Herrlicher Abend im etwas abgelegenen Schloß von Renate von Metzler. Am Mittwoch, zu Beginn jener Nacht, in deren weiterem Verlauf in Frankfurt der Goetheturm abbrennen sollte, was ich als Nichtfrankfurter übrigens nicht ganz so schade fand wie die Frankfurter, denn der Goetheturm war doch im Grunde ein nur wenig schönes Holzgerüst.

In den das Schloß umgebenden Straßen war es bereits dunkel, so dunkel, wie es halt auf dem Land abends wird. In der Ferne blinkten zwei rote Lichter am Nachthimmel: Dort flogen wohl Flugzeuge über den Türmen der Stadt. Im Schloß selbst waren die Wände in diesen altertümlichen Pastellfarben verziert, mit aufgemalten Blumensträußen und Schäferszenen und all dem. Die Gastgeberin stellt in ihrer Begrüßungsansprache die in diesem Jahr neu hinzugekommenen Gäste vor, es sind vergleichsweise wenige, hier trifft sich die Gelehrtenrepublik. In Berlin wäre eine solche Einladung undenkbar. Ich wüsste auch gar nicht, wer in Berlin über ein Schloß verfügt. Vor allem müsste man die meisten dieser Gäste eigens einfliegen. Hier in Frankfurt reisen sie aus ihren Wohnungen an. Bis auf Robert Menasse, der gerade mit dem Buchpreis ausgezeichnet worden war, und dementsprechend in Feierlaune, die sich zu späterer Stunde vor allem auch in einer detaillierten Kritik des zeitgenössischen Regietheaters äußern sollte – ein Klassiker, man kennt die Argumente zwar zur Genüge, aber wenn ein Österreicher sie vorträgt, werden sie halt sozusagen von sich aus noch einmal ganz anders interessant. Unter anderem weil Österreicher ja so wunderbar imitieren können, das ist vermutlich genetisch bei denen, oder es wird zur Matura gelehrt. Jedenfalls imitierte Robert Menasse dann lange und intensiv einen mir unbekannten Schauspieler der sogenannten Burg, der angeblich Oskar Werner hieß und wahrscheinlich schon seit Jahrzehnten tot ist, aber der, wie Menasse vormachte, seine rechte Augenbraue ganz wunderbar anheben konnte, um damit bis in die dritte Logenreihe hinauf für Entzückung zu sorgen.

Gut, aber wann versammelt man sich auch sonst unter einer Esse, um Schokoladencreme zu löffeln? Zuvor gab es Wiener Schnitzel mit Kartoffelsalat, die an den diversen, es müssen dreißig gewesen sein, mindestens fünfundzwanzig, auf sämtliche Räume verteilten Tischen serviert worden waren. Andy Warhol hat in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts festgestellt, dass sich Menschen mit viel Geld von denen ohne viel Geld vor allem dadurch unterscheiden lassen, dass es bei den Menschen mit viel Geld, bei denen Andy Warhol viel und das auch gern zu Gast war, immer ganz kleine Lebensmittel zu essen gibt. Also nur die zierlichsten Böhnchen, Mini-Hamburger und Möhrchen so fein und kurz wie Säuglingsfinger. Die Schnitzel waren auch appetitlich fein und dünn und dabei so zierlich, dass sie kaum größer wirkten als die münzgroßen Kartoffelscheiben des fruchtig marinierten Salats. Mit Vittorio E. Klostermann, der mir gegenüber saß, sprach ich aber weder über die Schnitzelchen, die inhalierten wir nonstop nur so weg, und auch nicht über Martin Heidegger, dessen Herausgeber er in der Nachfolge seines Vaters Vittorio Klostermann ohne E. ist. Es ging, leider wie ich sagen muss, um das Thema Urheberrechte. Da hatte auch Marion Tiedtke, die auch mit am Tisch saß, kaum etwas dagegenzuhalten, denn das Thema Urheberrechte drückt den Verlegern aufs Gemüt; es ist schon beinahe zum Schreien. Allerdings traf ich dann später, da hatte ich den Platz unter der Esse noch nicht entdeckt, im Rauchzimmer einen berstend gut gelaunten Verleger, der dort der glamourösen Antje Kunstmann einen Vortrag hielt. Es handelte sich offenbar um den Verleger des sogenannten Deutschen Fachverlages, der branchenspezifische Zeitschriften verlegt wie zum Beispiel für die Deutsche Fleischerinnung das Magazin afz, aber auch die gute alte Textilwirtschaft. Und die Geschäfte dieses hochspezialisierten Fachverlages gehen wohl glänzend. Der Mann war kaum mehr zu bremsen in seinem Enthusiasmus. Frau Kunstmann, die einen funkelnden Ring trug, floh bald schon ins Freie. Das war an der Stelle, als der Fachverleger die Größe seines Verlagsgebäudes mit groben Strichen skizzierte. »Unser Haus ist so hoch«, rief er der Entfleuchenden durch die geöffneten Terrassentüren in die Dunkelheit des Schloßhofes hinterdrein »Viel höher als das der FAZ — Wir schauen auf die FAZ herunter!«

Auch undenkbar in Berlin: dass alle Gäste sich schon um Mitternacht verabschiedeten. Am Ausgang stand derweil noch immer Robert Menasse und ahmte vor ständig wechselndem Publikum, dabei umringt von den Getreuen, einen anderen Burgschauspieler nach.

11.10.

Die herrliche Berglandschaft gleich hinter Kassel: damit fängt die Vorfreude auf die Buchmesse in Frankfurt an. Unter milchiger Himmelsfarbe hängt schlapp und insgesamt schon ins Bräunliche changierend das durchnässte Laub an den Bäumen. Bunt – irgendwie ja, aber nicht aufheiternd, sondern halt irgendwie, unentschieden, beinahe schnöde. Und von daher auch egal.

Heute früh, zu geisteskrank früher Stunde (es war noch dunkel vor den Fensterscheiben), war ich beim Warten auf den Kaffee kurz in eine Art von Extase geraten, als ich, um mich, während es in der Kanne zu röcheln begann, zu beschäftigen, mit einem am Vorabend neu gekauften Schwamm auf der sogenannten Arbeitsfläche zu scheuern begann: »Schwämme«, so durchfuhr es mich »welch geniale Erfindung!« um gleich daraufhin mich selbst zu unterbrechen, weil mir da längst schon eingefallen war, dass der ursprüngliche Schwamm doch ein Lebewesen ist, vielmehr zunehmend war. Und von daher: dieser Schwamm bloß eine Nachbildung (auf der Umverpackung aus Pappkarton wird er als besonders Handfreundlich angepriesen).

Wie Menschen wohl früher? Hände gab es schon immer.

Sehr zu empfehlen: der Eintrag in der Wikipedia zum Thema Badeschwamm. Der sich, ich kenne mich nun damit aus, von Natur aus vom uns so genannten Küchenschwamm, dem Auslöser und Anlass meines Lob des Schwammes an sich, unterscheidet. Die Evolution des Naturschwammes bis hin zum Küchenschwamm war eine lange, eine vor allem abenteuerliche Geschichte. Die einstigen Jagdgründe der Schwammtaucher, unter anderem halt auch in den Wassern vor Hvar, sind mittlerweile als solche in Vergessenheit geraten. Noch als die Sonne längst aufgegangen war, dachte ich über den Schwammhandel, über die Harpune zur Schwammernte, die mit den vier Zinken, nach.

Und natürlich auch über das lustige Lied, das zu Anfang jeder Episode von Spongebob Schwammkopf gesungen wird; wie auch grundsätzlich über diese Idee, einen Schwamm in kurzen Hosen als einen McJobber zum Protagonisten einer Zeichentrickserie zu machen. Und über Zeichentrick an sich. Dass der, ein Schwamm, in einer Ananas wohnen soll. 

Ich bin kein Seil, noch nicht mal eine Faser, sondern Fluse; gespannt zwischen extremer Aufgeklärtheit und beständigem Metaphyseln.

10.10.

Wirklich leider ein ganz anderes Grau hier um diese Zeit. Pariser Grau: opak, licht, Beauty light. Berliner Grau: trüb. Zementhaft. Das Leuchten des Rasens kommt kaum dagegen an. Es fehlen darin die bläulichen Einmischungen. Das Pariser Grau hat einen Lavendelton (vermutlich ist deshalb unter Berliner Altbaubesitzern die Wandfarbe Elephant’s Breath von Farrow & Ball so beliebt, dass man sie eigentlich schon nicht mehr sehen will, weil dieses teure Grau nämlich genau diese Nuance von Lavendel in die sogenannten eigenen vier Wände bringt.)

Gestern den ganzen Tag das Band abgehört, auf dem mir Peter Marino ausführlich von den verschiedenen Kalksteinsorten erzählt, aus denen die alten Gebäude in Paris gemauert wurden. Er als New Yorker schwärmt von der unendlichen Einheitlichkeit der Fassaden, sagt, er sähe in anderen Städten auf der Welt nur das Chaos, weil dort keine zwei Häuser aus dem selben Material gebaut wurden. Hatte ich ganz vergessen, dass wir derart ausführlich über Steinsorten gesprochen hatten, so wie ich ja immer so einiges vergesse, weil der Rekorder läuft und ich sozusagen auf Stand-by geschaltet sein darf, wenn ich mich professionell mit jemandem unterhalte. Aber wenn ich es dann abhöre, war ich anscheinend ganz aufmerksam Zuhörender, war nicht nur vor Ort, sondern anwesend.

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