»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

Frühlingsanfang

Über Nacht ist der See zugefroren. Auf das Eis fällt Schnee, vielleicht ist es auch Graupel, den man ja bloß aus dem Autoradio kennt.

Die meisten Menschen, denen ich je begegnet bin, denen ich je begegnen wollte, sind nun tot. Kein schönes Gefühl.

»Tod in Berlin«—Wie dünn Der Spiegel geworden ist! Bei uns zuhause gehörte der Spiegel zum Guten Ton. Ich erinnere mich an ein telefonbuchdickes Produkt, mit dem ich mich im Klo einschloß, um mir in aller Ruhe die Holocaustgeschichten anschauen zu können. Wenige Fotos damals noch. Schwarzweisse Judenleichen. Ja, damals legte man noch Wert darauf, dass Bad und Klo in getrennten Räumen untergebracht sind.

Spatzen, eigentlich Sperlinge, kommen anscheinend erst dann angeflogen, wenn es sich lohnt. Seitdem ich meinen Balkon zum All You Can Eat ausgebaut habe, fliegen sie andauernd an wie Easy Jet. Aber, auch hier wie die »Orangenfarben gefiederte Flotte«: können sie weder auf der Sitzstange der Futtersäule platznehmen, noch aus dem Meisenknödelgefängnisturm etwas picken. Spatzen sind unverwöhnte Abfallfresser. Sie nehmen‘s vom Boden. Hauptsache reichlich. Das wird auch im Naturkundemuseum in der Invalidenstraße (sic!), mithilfe eines noch aus DDR-Zeiten stammenden Schaukastens plastisch gemacht. Dort heißt die Überschrift Vögel in der Stadt.

Nach einem so kurzen wie strengen (dafür liebe ich sie) Telefonat mit Friederike habe ich verstanden, dass man die Meisenknödel von ihren sie umgebenden Netzen befreien muss, indes die Vögel sie verspeisen können. Jetzt läuft‘s. Der Kleiber sogar überkopf. Am Abend war in dem Knödel eine Grube. Sah aus wie der Todesstern.

Supermarktologie

Wunderbar, wie sich rein durch die Lektüre eines Buches meine Wahrnehmung verändert. So japanisch hier. Im Rewe war alles voller Hasen. Eigentlich war ich zum Kauf antibakteriell beschichteter Schwämme gekommen, doch was sahen meine vom Katerfrühstück mit Christian Boros noch ganz glasigen Augen: die Zahnfee von Playmobil.

Die Zahnfee hatte ich mir immer ganz anders vorgestellt. Das heißt im Grunde gar nicht, denn als ich noch Haide war, gab es keine Zahnfee. Meinen ersten ausgefallenen Milchzahn hat mir mein Vater auf ein Stückchen Watte in einer Schachtel Welthölzer gebettet. Und dorthinein kamen dann auch alle anderen.

Die Zahnfee als Modell einer Idee wird von Playmobil hergestellt in Form einer leicht untersetzten, blondhaarigen Frauengestalt mit grünlich irisierenden Libellenflügeln. Die scantily clad nubile hat B-Körbchen, ums Dekolleté (V) hängt ein Amulett in Form eines Backenzahns. Rock ist mini in weiß, ziemlich thothaft, eher ein Gürtel, sie trägt nichts drunter — natürlich, unter Elfen braucht es keiner Unterwäsche. Bißchen viel Make-up vielleicht. Keulenförmige Oberarme, arms in the style of her aera* — macht freilich Yoga. Beigegeben sind ein Zauberstab, mit dessen von einem Stern gekrönter Spitze sie den Verlustschmerz ausgefallener Milchzähne lindert. Sowie ein aufklappbarer Schrein, ebenfalls in Backenzahnform, der an seiner Vorderseite mit dem selben Emblem verziert wurde wie auch der zahnweiße Minirock der Fee. Es handelt sich dabei wie selbstverständlich um einen Stern.

Mülltüten vergessen. Aber was funkelte dort beim Betreten der S-Bahn auf einem vom Sonnenlicht beschienenen Sitzplatz? Eine Münze (fünf Zloty). Zahnfeeglaube hat prompt gewirkt.

* Douglas Coupland

Im Reich der Sinne

Ein prachtvoller Tag, von seinem Anblick her. Die Sonne strahlt, der Himmel auch, und der Spiegel des Sees gibt das in einem tiefdunklen Blau wieder. Hinaus konnte ich allerdings nicht, denn es ging ein eiskalter Wind. Vom nächsten Baum aus leuchtete die geschwellte Brust des Gimpelhahnes pfirsichrot. Der wollte freilich zurück an die Futtersäule und zieh mich, so als hätte ich mich zu verziehen, wann immer ich mich davor stehend am Fenster der Balkontür zeigte.

Ich ließ mir ein Bad ein. Und las, bis das Tageslicht versiegte, in A Tokyo Romance, einem Buch von Ian Buruma, in dem er sich an seinen jahrelangen Aufenthalt im Japan der Siebzigerjahre erinnert. Da geht es gleich zu Anfang um die Farbenwelt der fremden Stadt. Unter dem azurfarbenen Septemberhimmel stellt der Fremdling fest, dass die ihm bekannten Holzschnittgrafiken der Japaner wohl nicht, wie von ihm angenommen, aus künstlerischen Gründen in poppigen Tönen gedruckt worden waren. Jetzt sieht er, dass die Lichtverhältnisse dort in Tokio tatsächlich so sind.

Ich stellte mir vor: ganz ähnlich wie hier, wie heute nur, an diesem Tag.

Er beschreibt ein Café, das hieß Versailles und befand sich in einem Souterrain in einer hektischen Gegend. Die Einrichtung der fensterlosen Räume bestand aus vergoldetem Louis XIV-Mobiliar, Kronleuchter klimperten, die Wände bestanden anscheinend aus Marmor und halb erblindeten Spiegeln. Aber in Wahrheit war dort drunten alles aus Sperrholz und Plastik gemacht. Wie er erzählt, saßen die Japaner stundenlang im Versailles und dazu spielte vom Tonband Richard Claydermann.

»Schau«, sagt zu ihm ein Freund, ein Amerikaner, der schon ein paar Jahre vor ihm nach Tokio gezogen war »Um in Japan leben zu können, mußt Du Romantiker sein. Jemand, der sich selbst zu kennen glaubt, wer sich nicht in Frage stellt, oder über seine Bestimmung rätselt, wird es hier nicht aushalten. Die radikale Andersartigkeit der Kultur wird bald unerträglich. Für den Romantiker aber, der sich den Variationen des Möglichen aufgeschlossen zeigt, steckt Japan voller Wunderbarem. Du wirst zwar niemals ein Teil davon werden. Aber genau das wird dir zur Freiheit verhelfen. Und Freiheit ist wichtiger als Nationalität. Hier kannst du nämlich zu dem werden, der du sein willst.«

Das Versailles gibt es längst nicht mehr. Ian Buruma vermutet, dort sei mittlerweile eine Filiale von Starbucks eingezogen. Oder aber das gesamte Gebäude exisitiert schon nicht mehr. Alles ist möglich. Denn hier, so der Autor, ähnelt Tokio auch Los Angeles. Er zitiert Christopher Isherwood, der einst, aus Berlin kommend, die Hinfälligkeit der Architektur von Los Angeles mit Befreiung empfunden hatte. Die Häuser sind nicht für die Ewigkeit entworfen, sie sind nicht für die Ewigkeit gemacht, weil auch die Menschen nicht ewig da sind, um in dieser verfallsgeweihten Architektur zu leben.

Badend fragte ich mich, ob diese eine Ähnlichkeit vielleicht daher kommt, dass Tokio und Los Angeles am gleichen Wasser gebaut sind. Am Pazifik, der wie ein blaues Lebewesen alles in sich hineinzieht, was in seine Nähe kommt. Vor meinem Fenster, der See wie ein Segeldrache, der flach am Boden liegt und niemals hochkommt. Auch wenn ihn, wie heute, der Eiswind zum flattern bringt. Die Abendsonne glitzernd darin. Amaterasu.

Call me by your username

Weiß auf den Flächen. Mit eineinhalb Kilogramm Körnermischung im Rucksack durch die Stadt nach Hause. Ich kaufe ja sogar mein Vogelfutter in Frankfurt, weil es so etwas Schönes wie die Samenhandlung Andreas in ganz Berlin nicht gibt. Eigentlich lebe ich dort. Zumindest im Geiste. There is no place like home.

Wenn man die Kunst wirklich liebt, so sehr liebt, wie ich, sagte mir einst Gerhard Merz, dann bleibt man bei jedem Pflastermaler stehen. Ich habe es ihm damals schon nicht geglaubt. Aber in dem Moment, da er es mir sagte, war es lustig und irgendwie auch schön. Also behielt ich es bei mir. Bis dann, wenige Monate darauf mir Malcolm McLaren auf dem Punkerkongress in Kassel noch seine letzte Weisheit anvertraute: »Gallery openings are the nightclubs of the 21st century«.

Am Mittwochabend dachte ich an beide, McLaren und Merz, als ich im ehemaligen Postamt in der Goethestraße (Berlin) bei Max Hetzler war. Gezeigt wurde eine Ausstellung der neuen Gemälde von Julian Schnabel und Albert Oehlen. Schnabel beherrscht, das fand ich dort heraus, die Kunst, sich einen schwer auszusprechenden Vornamen über den Abend hinweg merken zu können. Als wir uns sehr viel später in der Paris Bar verabschiedeten, sagte er »Goodbye, Joachim« zu mir. Zu Michael Michalsky, dem Modeschöpfer, der ebenfalls anwesend war, sagte Julian Schnabel »I’m glad that you’re gay«.

Aus der New York Times vom 13. März 2018

CORRECTIONS

An article on Friday about how tax cuts are affecting working-class voters in Ohio misstated the number of times Matt Kazee voted for Barack Obama. He voted once for him, in 2008.

An article on March 6 about the actress Olivia de Havilland’s lawsuit against the television network FX and Ryan Murphy Productions over her portrayal in a docudrama rendered incorrectly the name of a video game. It is Band Hero, not Hero Band.

An article in the march 3-4 edition about europe being colder than the North Pole misstated an effect of climate change. Melting sea ice in the Arctic is causing more snow to fall in Siberia, scientists say; there is not a »lack of snow« in the region. Also, a picture caption in the article, relying on incorrect information from the photo agency, gave the wrong location for a Jeff Koons sculpture. It is in Bilbao, Spain, not San Sebastián.

An essay on Feb. 23 about Iceman, a gay Marvel superhero, misidentified the author of a scene depicting a conversation between Iceman and another character, Kyle. The author is Christos Gage, not Marjorie Liu.

A review in the Feb. 10-11 edition about the book »Hippie Food«, by Jonathan Kauffman, misidentified the owner of Stonyfield Farm. It is now a subsidiary of Lactalis, the French diary company; it is no longer owned by Danone.

An article in the Feb. 3-4 edition about the actress Nina Hoss referred incorrectly to the role Ms. Hoss has in the play »Returning to Reims.« Her character is called Katy; she is not unnamed.

11.3.

Erster Zitronenfalter im Garten. Alle Fenster geöffnet. Brise wie am Sommerabend. Bloß nicht übermütig werden! Morgen hat mein Vater Geburtstag (75).

La femme de Djin

Bei Indern und Japanern schaut ergrautes Haupthaar schlicht am besten aus. Bei indischen Frauen wirkt es dann manchmal wie Marmor.

Und obwohl es in der Nacht zuvor noch Nebel gehabt hatte wie einst in den Verfilmungen von Edgar Wallace (Die Toten Augen von London), erwachten wir bei erwartungsvoll geöffneten Fenstern zum Konzert der Vögel grande.

Dann den sonnigen Tag im Bett verbringen zu dürfen: Luxus. Eis aus der Schale, gekühlte Getränke — der Winter ist ausgetrieben und kehrt nimmermehr zurück. Später dann zusammen Call me by Your Name anschauen, und währenddessen eine maximale Anzahl weicher Eier an den genau richtigen Stellen verspeisen zu können — geht es noch besser?

Na klar. Es geht ja immer noch immer noch besser. Beispielsweise dann Einigkeit zu erlangen, dass es der greisenhafte Darsteller des Greises ist, der uns als wahrer Star erscheint. Wie er den atmenden Fisch überbringt. Auch weil wir uns dann die Vorgeschichte seines Castings ausmalen können. Wie er das Fahrrad als repariert melden darf (und dabei werden drei Dosen aus Aluminium von Illy ins Bild gerückt, die es meiner Ansicht nach in jener Form in den achtziger Jahren auch in Italien noch nicht gegeben hatte, woraufhin sich ein Diskurs entspinnen kann, wie wir beide sind); später, er tritt dreimal auf, klassischerweise, zeigt man ihn ausruhenderweise im Grase. Und es geht über das eigene Ableben, den Tod.

Ansonsten ein sehr guter Film (Die Pfirsichszene!!!)

Dann heute aufgewacht bei dröhnendem Regen. Aber dieser eine Tag bei Sonnenschein und Wärme war ein Geschenk. Ausflug ins Araberviertel entlang der Huttenstraße. Die Greise diskutieren den Tatort: »Im Koma kriegst Du kein Wunschmenü.«

Wenig bis kaum beachtet: passiv rauchen müssende Hunde.

Wenn ich von Friederike besucht werde, halte ich es in Berlin ganz gut aus.

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