»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

A New Error

Unvermutet auf Otmar Jenner gestoßen, der mittlerweile Science Fiction schreibt. Wir kennen uns aus seiner Kriegsreporterphase, Otmar behauptet sogar von noch viel früher her, aus einer Hamburger Diskothek. Er bittet mich, für seine Lesung zu bleiben, aber ich kann nicht, weil ich anderweitig verabredet bin. Zudem interessiert mich Science Fiction nicht. Und sein für mich denkwürdiger Auftritt in der Hamburger Aussegnungshalle, als er dem in einem Sarg unter einem Blumengesteck, das in Form des Logos der Zeitschrift GQ gehalten war, liegenden Marc Fischer versprach, dass es ein Leben nach dem Tode gibt, war mir damals schon hinreichend science-fiction-mäßig erschienen. Sad.

Draußen blinkt der Oranienplatz blitzend blau, links und rechts der Fahrrinne nähern sich die Polizeibeamten in Riot Gear. Die Frauen, die anläßlich des Frauentages demonstrieren, schwenken Fahnen mit dem Logo des Kurdischen Widerstands YPG, aber das scheint hier toleriert. Schade, so wird keine der Fahnenschwenkenden Dramaqueens verhaftet und das Drama fällt aus. Tja.

An der Bushaltestelle wird der knapp zuvor abgefahrene Doppeldecker als Hurensohn verflucht. Na ja.

Oskar Roehler schreibt mir seine vernichtende Kritik an Untitled in einer SMS: Er findet die weibliche Figur (Julia Speer) nervig. Er charakterisiert sie als großmütterlich und hätte sich an ihrer Stelle »eine raumgreifende Blondine gewünscht«. Na gut.

Von einem — ausgerechnet lilafarbenem — Transparent an einer der von Gentrifikation akut bedrohten Fassaden grüßt eine blaßblaue Handschrift ins Nichts: »Es lebe der Frauenwiderstand von Afrin—Mit queerfeministischen Grüßen aus Berlin«. En marche!

In der Früh ein Gespräch mit dem Fachmann der Gartenfirma, die auf dem Nachbargrundstück die schönen Kiefern abholzen mussten. Er findet es bitter. Die alten Bäume waren kerngesund. Bitter vor allem halt, weil die Bäume weg mussten, weil sie dem neuen Besitzer nicht gefielen. Neue Bäume, auch wieder alte, sozusagen trinkreife sind schon bestellt und werden aus Hamburg mit dem Schwerlasttransporter angeliefert. Zuerst wird aber noch das Haus abgerissen. Die Erben lassen eine Tiefgarage bauen.

ثالوث الظلام

Luc Besson hat mir erzählt, dass er auf die Idee der Liebe als fünftem Element, das den Säulen der Gesellschaft hinzugefügt werden muss zwecks Rettung der Welt, durch sein Studium der Dunklen Triade gebracht ward. Der ja, neuen Erkenntnissen zufolge, der Sadismus hinzugefügt werden muss, um aus der Dunklen Tetrade den ultimativen Erfolgstypen hervorzubringen.

Die New York Times hat heute eine lustige Reisereportage von einem Mann, der in einer dieser unbekannten chinesischen Städte ein paar Klösschen verspeist und kurz darauf wird ihm fürchterlich schlecht. In einer Apotheke verlangt er nach Medikamenten, die geben ihm ein nachgemachtes Opioid, weil er Amerikaner ist, aber er hält es für ein Antidiarrhoikum, weil er die Schrift auf der Schachtel nicht lesen kann, das Zeug folglich falsch dosiert und stirbt. Keine Ahnung, wer den Text zu Ende geschrieben hat.

Aus dem Heidelbeergebüsch bricht ein Fuchs und fängt an zu sprechen. Er ruft: »Chaos regiert!«.

Bergab mit meinem Besten

Hermann Lenz hätte es, nicht nur vermutlich, Mit den Augen eines Schweizers übertitelt. Aber, und genauso ist es halt: Im Radio hörte ich im Taxi zum Aeroport noch diese Sprachmeldung, dass ab sofort den freilaufenden Katzen in der Schweiz ein Kastrationsgebot verordnet wurde, um den streunenden Tieren das allgemein verbreitete Leiden durch die unkontrollierte Vermehrung zu ersparen. Und gleich danach die Meldung, dass der Chocolatier Lindt-Sprüngli seinen Gewinn auf 450 Millionen Schweizer Franken steigern konnte.

Dann, nach etlichen, vor allem für mein Land, Deutschland, peinlichen Pannen landet der sogenannte Flieger mit uns allen drin in Tegel. Und gleich beim Hinauskommen (war beinahe beleidigt, dass ich von der hübschen Zollbeamtin mit der Maschinenpistole umgehängt nicht herausgezogen ward‘ aus der Masse der dieser Hauptstadt Entgegenströmenden), schaute ich auf die Misere wie sonst beinahe bloß in Afrika in eines der (wenigen) Klosettbecken: die Berliner, alles Menschen. Den meisten von ihnen ist es allerdings nicht (mehr?) anzusehen.

Selbiges dann im Busverkehr. Wie lustlos, wie geradezu anarchistisch gesinnt hier die Leute ihren Dienst ableisten, der ihnen doch nota bene die Miete bezahlt. Fand mich beinahe glücklich, als ich von den Dealern am Kleinen Tierpark umschwärmt mich fand.

Abends dann ein Gespräch mit Oda Scheps in der Volkswagen-Erlebnis-Lounge Unter Den Linden. Sie, eine Chopin-Expertin, hat die schönsten Lieder von Scooter eingespielt und trägt sie wohl auch live vor.

Wohlan! Währenddessen setzt draußen ein ausgesprochen matschiger Schneeregen ein.

Betrachtungen eines Politischen

Mit mittelmäßiger Laune zum Abendbrot nach Zürich geflogen. Im Grunde war es Demut. Die Schweiz ist, hier gleich nach Frankreich, die Nation, in deren Land ich am häufigsten zu Gast war in meinem Leben. Und hier ist alles, das vergesse ich, wann immer ich wieder in Deutschland heimkomme, heil. 

Der Effekt ist ein anderer, als bei einem Heimkommen aus Frankreich. Das wird mit der zum Verwechseln ähnlichen Sprache zu tun haben, aber es ist halt auch der look and feel der Schweiz, das mir ein extrem schlechtes Gewissen macht; alles irgendwie ähnlich; alles in einer irgendwie geglückten Variante von Zuhaus.

Ich kann hier an der Straßenbahnhaltestelle eine tättowierte Bergbauerntochter nach der richtigen Endstation fragen, und bekomme von ihr eine Antwort. Vor dem Späti, weil gerade die Sonne scheint, bittet mich der Spätibetreiber um Verzeihung, weil ausgerechnet heute sein Kartenlesegerät defekt ist und er nur Bargeld annehmen kann für seine Bedienung (er hält die New York Times neben der Frankfurter Allgemeinen in seinem Sortiment). Publikum und deren Ausdrucksweise aber ganz genau so wie vor den Spätis von Stuttgart, Cagnes-sur-Mer oder Berlin.

Später dann, als ich mit Il Gordo im großen Saal der Kronenhalle saß, bestellte ich die Bratwurst, für 30 Euro, die mir vom Kellner im weißen Kellnerjackett ohne ironisches Zwinkern mit zweimaligem Service aufgetan wurde. Die Ehrenanstecker an seinen Revers behielt er dabei ebenfalls an. Mir ist schon klar, dass das meiste hier mit dem Zahngold der toten Juden aufgebaut wurde. Und aus der Portokasse der Diktatoren und Steuerhinterzieher aus aller Welt. Ich weiß auch, aber darüber sprechen wir nie, obzwar unsere Freundschaft heute ins 23. Jahr geht, dass die Freunde des Il Gordo, die freilich allesamt Schweizer sind, mich auf Italienisch, auf Französisch und einer auch auf Rätoromanisch, im Eidgenössischen als Sauschwaben bezeichnen. Aber mir ist halt auch klar, dass von denen keiner seine Bratwurst in der Kronenhalle mit Karte bezahlen würde, wenn er sich das nicht mehr leisten könnte. Was unter Schweizern schlicht heißt, dass auf dem Konto noch ausreichend Franken liegen, um nötigenfalls die eigene Beerdigung zahlen zu können.

Problem der Schweiz: kaum Künstler. Aber die Vögel machen dieselben Geräusche. Es wird Frühling, zweifelsohne.

The Winner Takes it All

Später, beim Verlassen des Waldes, fand ich auf den grell erleuchteten Gehwegplatten das erste Tagpfauenauge in diesem Jahr. Es saß dort und hielt seine Flügel mit der Schauseite offen, ventilierenderweise. Sind das Sonnenkollektoren? Mein Vater hätte ihn, beim Anblick des Insekts, einen Metterschling genannt. Von ihm habe ich vermutlich meine Lust an der Sprache. Von ihm und von Arno Schmidt. Ich habe zwei Väter. Ich bin zwei Öltanks.

Im Wald: Ein Vogel bahnte sich zwitschernd seinen Weg durch den Parcours aus bloßen Stangen. Schnirren eines weit entfernten Spechts. Meisenmachos behaupteten ihre Plätze durch leuchtturmhaftes Tsitsi-Bäh. Nur die Krähen sangen noch das Winterlied. Einen anderen Text können die sich nicht merken.

Es muss um diese Zeit im Jahr gewesen sein, dass Ernst Ludwig Kirchner und die Artverwandten ihre Bilder malten - zumindest ihre Inspirationen dazu empfangen haben, mit den bläulichen Baumschatten und dem glühenden Grund. Im Gasthaus Grüner Baum hängen einige davon. Auf einem ist ein abenteuerlich ausgefurchter Weg hin zur Kirche auf dem Montmartre zu sehen. Ein anderes zeigt einen ländlich gekleideten Mann, der, mit einer Pfeife zwischen den Lippen, auf einer Stehgeige streicht. Ich bin wie einer dieser Wirtshausmaler. Meine Bilder werden niemals im Louvre gezeigt. Was ich malte, ist zu flüchtig gewesen, zufällig. Vielleicht kenne ich auch einfach die falschen Leute.

Beim Verzehr meines Beutelsbacher Filettopfes mit Spätzle stellt sich Behaglichkeit ein. Draußen noch immer die Sonne, die Glocke am Kirchturm schlägt um 12 Uhr nicht Geh aus, mein Herz, sondern einfach bloß Läuten. Mir ist das recht, da wird mir die Schwere des Gerätes akkustisch fassbar gemacht; nichts lenkt mehr davon ab, wenn der Glockenkelch gegen den Schwengel stößt.

Indes füllt sich der Gastraum mit Greisen. Am Nebentisch unterhält sich ein Vater mit seinem Sohne, dem er, das stellt sich während des Weinflaschenverkostens, des Durcheinanderbringens der Menüreihenfolge und etlichen Extrawürsten heraus, die von ihm selbst begründete Immobilienberatungsfirma noch zu Lebzeiten überantwortet hat. Aber der Sohn schlägt sich wacker. Zumindest klingt es danach. Der Vater, ganz in Bronze gekleidet, hat die Kopfform von Nick Knatterton. Und einen Mund wie ein Bankomat. Gleich spuckt er Scheine aus.

En attendant les Barbares

Ist vermutlich eine Generationenfrage, aber ich verspüre ein schlechtes Gewissen, wenn ich am Vormittag den Fernsehstream anwähle. Es erscheint Kapitän Blaubär, den gab es zu meiner Zeit als legitimer Rezipient der Sendung mit der Maus noch nicht; damals war es der tschechoslowakische Maulwurf, der mit seinem terrazzohaften Maulwurfshaufen und vor allem auch mit seinen piepsenden Geräuschen meine Ästhetik maßgeblich geprägt haben wird. Wenn ich mir dagegen nun den Käpitän Blaubär anschaue: schaut aus wie ein mittelprächtiger Wärmflaschenüberzug. Ich mache drei Kreuze.

Die Sonderausgabe der Tagesschau zum Abstimmungsergebnis der Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zur Großen Koalition beginnt pünktlich um 8 Uhr 50 mit der Nachricht, dass es zu einer Verschiebung kommen wird hinsichtlich der Verkündigung des Abstimmungsergebnisses. Die Sendung ist auf 40 Minuten angesetzt. Moderiert von der seltenen Kirsten Gerhard, es berichtet Bettina Scharkus aus Brüssel; in Berlin steht Tina Hassel vor einer Statue von Willi Brandt. Gegen 10 nach 9 lässt sie in ihre Rede einfließen, dass die Gerüchte besagen, die Abstimmung sei zugunsten der Großen Koalition verlaufen. Das nimmt freilich die Spannung. Another 20 minutes to go. Tina Hassel ist als Reporterin der alten Schule freilich just a camera in front of a camera. Mit einem nervös gemeinten Augenzwinkern raunt sie, dass auch Kevin Kühnert noch eine Ansprache halten wird. Doch, so gibt sie zu bedenken: bereite der sich zur Stunde noch auf seinen Auftritt vor. Durch diesen rhetorischen Trick entsteht bei mir unweigerlich ein von Tina Hassel induziertes Bild des nackten und schwer muskulösen Monsters namens Kevin, das unterdecks bei Kapitän Blaubär von diesem nur mühevoll und vermittels schwerer, ölverschmierter Ketten im Zaume gehalten werden kann.

Den Rest erspare ich mir. Die totale Zeitgenossenschaft ist halt leider nichts für mich. Am Freitag hingegen, auf dem Geburtstag von Nina, setzte sich zu später Stunde Malakoff noch an den Flügel, der dort glücklicherweise zur Verfügung stand, und spielte Anin Goldkind, wie ich es schon viele Male von seinem Album gehört hatte. Nur war es jetzt live, die Melodie entstand vor meinen Augen und in meinen Ohren. Ich habe seine Hände gesehen.

Chabos wissen, wer die Baba ist

Unser in liebevoller Arbeit zusammengestelltes Märzenstagsgeschenk für die Mume kam nicht so gut an wie von uns erhofft, berichtet Friederike. Das heißt: Man weiß es nicht. Hier ganz genau so, wie im bulgarischen Volksglauben beschrieben, handelt es sich bei der Mume um eine launische Dame, die zu besänftigen ein Wagnis bleiben wird. Dabei hatten wir doch, zumindest meinten wir uns in dieser Hoffnung bestätigt, mit unserer Geschenkekaskade im vergangenen Jahr schon einen schönen Schritt auf sie zu getan (hinsichtlich einer freundlichen Verständigung). Doch war es wohl so gewesen, dass nicht einmal die Mume selbst oder halt ihre Tochter die Türe aufgetan, um unser Geschenk zu diesem für Bulgaren wichtigen Tag entgegenzunehmen. Nein, es war eine uns bis dato vollkommen fremde Person, die dann beinahe grußlos im Flur der mumischen Mietung gestanden hatte, um die mit einem Märzenbändsel umgarnte Chocolatière nebst beigefügter Grußkarte mit einem imposanten Storchenbilde als Motiv entgegenzunehmen gekommen war.

Da frage ich mich doch, warum. Wobei es in Indien zu solchen Gelegenheiten heißt: A gift well given is a gift received. Und so bleibt mir der Trost, dass ich mit meinem Kyrillischen Fortschritte mache. Was sich uns bei der anstehenden Expedition in die Rhodopen vermutlich als hilfreicher erweisen wird als irgendwelche Verwandten der Mume dort, die uns dann letztendlich doch nicht zu sich nach Hause einladen würden, oder wenn, dann zu einem utopischen Preis.

Eine Brotscheibe mit noch sehr kalter Butter bestreichen im Übrigen: very zen. Ich tue das und gleite beiläufig in eine nipponische Vorstellungswelt: An jedem Morgen muss der schwere Fang des Schlafes an Land gezogen werden. Zwei Eichhörnchen jagen sich aufwärts, rundherum um einen Stamm.

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