»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

10. April

Die Knospen am Kirschbaum haben sich über Nacht geöffnet. Das habe ich gespürt, noch vom Bett aus, ohne hinzuschauen. Im Schlaf war mir so gewesen, als ob ich selbst aufblühte. In meinem Traum hat mir eine Maus das Frühstück serviert. Sie brachte einen Haselnußkern für uns beide, den sie, das Messer sah ich dabei nicht, in dünne Scheiben schnitt wie von einem Laib. Mir schmeckte das ganz ausgezeichnet und ich fragte die Maus, woraus denn diese dünnen Beläge gemacht waren, mit denen sie die Scheiben belegt hatte.

»Von der Schnecke«, sagte die Maus.

Seasons In the Sun

Aus dem Waldsaum ragen die Arme von Kränen wie Siegerfäuste: Jetzt werden die Segelboote aufs Wasser gesetzt. Der Fährmann von nebenan hat Humor. Vor seiner ersten Fahrt am Morgen spielt er Engelbert Humperdinck über die Bordlautsprecher Pleeeeease release me, let me go! Um 7 Uhr 30. Hat er dann losgemacht, läßt er Udo Jürgens laufen, Griechischer Wein, was wirklich zum Bild passt, wenn sein strahlend weißes Schiff auf dunkelblauem Grund den Kurs auf Kladow nimmt.

Über dem Pflaster im Hof dreht sich raschelnd Laub im Kreis. Ab und an ist in den Ritzen ein winziger Krater aus Sand zu entdecken. Durch dessen Mündung geht es hinunter ins Reich der Ameisen. Und Lino hat die Maulwurfsvertreibungsanlage aus dem Keller geholt.

Der Easy Rider ruft. Wie einst der Monopteros. Am Wegesrand blüht schon der Blaustern. Mahonien stehen kurz davor. Überall Knospen.

»Hallo Andi, wie geht‘s; wie war der Winter?« Kurz durchzählen: wer von den Greisen aus unserer Runde hat anscheinend nicht überlebt?

Andi erzählt wieder mal die Geschichte vom Brand und der Wiederaufrichtung seines Traditionssaisonimbiß anno 1963 wie es seit neuestem mit dem Lötkolben eingebrannt auf der Kante des neuen Vordaches steht. Gibt jetzt auch Süßkartoffel frites. Ich denke an den geklauten Buddha, an die liegengebliebene Querflöte und natürlich auch an den Brand. Gemeinsam gehen wir ins nun schon dritte Jahr hier draußen.

Bei einem anständigen Menschen lebt am Ende nur noch der Kopf, schreibt Arno Schmidt.

The Chocolate Room, 1970

Meine Haut trinkt das Licht der Sonne. Es mundet ihr wie Kakao anscheinend, was sie mir durch ihre Färbung signalisiert.

Durch den Spalt fiel eine Wespe auf das Fensterbrett. Sie sah schon ausgewachsen aus, bewegte sich aber kaum und nur wie mühselig. Vermutlich war es für sie noch zu kalt. Ich weiß nicht: schlüpfen die in dieser Größe? Überwintern sie; wo? Auf dem Chitin zwischen den Flügeln wuchs oder lag eine Substanz in Form heller Fasern, so als schimmelte sie dort. Da ich nichts anderes zur Hand hatte legte ich ihr ein Lesebändchen hin aus einem Buch, auf das sie krabbelte. Daran zog ich das Insekt, das sich nun, da es aufwärts ging in die Höhe, festklammerte dergestalt, dass ich es auch durch glöcknerhaftes hin- und herschwingen mit dem Lesebändchen aus dem Band kaum abschütteln konnte. Dann aber stürzte die Wespe ab und wurde von der Erdanziehungskraft erfasst. Träge wie sie war, brachte sie es nicht mehr fertig, ihren Rotor anzuwerfen, um vor dem Aufprall noch durchstarten zu können. Wir werden uns wahrscheinlich wiedersehen.

Für eine Ausstellung in Venedig denkt Ed Rusha sich den Chocolate Room aus: Die Wände im Inneren des Pavillons werden schindelhaft mit Papieren verkleidet, deren Oberfläche mit einer Schicht Schokoladenmasse bedruckt worden sind. Man konnte den Duft schon von weitem wahrnehmen. Ameisen machten sich auf, um dort einzudringen. Was ihnen, aufgrund ihrer Winzigkeit durch allfällige Lücken und Spalte in der Konstruktion des Bauwerkes natürlich gelingen sollte.

Ich bin seit dem Ostersonntag von neuem sensibilisiert für das Thema. Wir waren zu Gast in einem Bienenhaus im Licht und Luftbad, wo uns eine herzhafte Imkerin einen sehr guten, weil auch von seinem Stile her leicht bizarren Vortrag hielt. Sie fing an mit dem Satz »Bienen gibt es in dieser Form unverändert seit 120 Millionen Jahren.« Da schwirrt einem der Kopf. »Sie dürfen sich Bienen nicht als Individuen vorstellen. Das ganze Volk ist das Individuum.«

Nach der unvermeidlichen Kostprobe des dort erbeuteten Honigs ging es über eine Weise hinüber zu dem Bienenhaus, in dem die Organe so einiger Individuen ihrer Arbeit nachgingen. Man durfte dafür einen sogenannten Schleier aufsetzen. Am Straßenrand vor dem Bienenhaus blühten schon Sträucher und die Bienen pendelten zwischen den duftenden Ballen und den briefkastenhaften Einflugsschlitzen ihrer Behausung. Eine Arbeiterbiene lebt maximal drei Monate, weil das Einbringen der Nektarernte mit all den Flugmeilen derart ermüdend sich auswirkt auf den Organismus dieses Organs des Individuums Bienenvolk.

120 Millionen Jahre an der Spitze einer Evolution.

Osterspaziergänge

Mein Mantel riecht noch immer nach dem Osterfeuer, das wir in Riedberg beschaut hatten; von dort aus gab es einen tollen Blick auf die Skyline. Ein Retortenviertel. Ich finde die Idee eines Retortenviertels eigentlich net so schlecht. Von dort aus, von Riedberg aus, geht der Blick weit über den nächtlichen Fluss, er zeigt die Skyline.

Die Bauten dort, ich nehme mal an, es gab dort zuvor kaum Häuser, sahen insgesamt aus, als sei dies gesamte Viertel aus einem 3D-Drucker geboren. Da war ein Greis, er behauptete, Banker gewesen zu sein. Und ich fragte: »Bad Banks gesehen?

Er, freilich: »Ja.«

Und ich: »Stimmt das so?«

Er: »Alles genau so.«

Angeblich ist dieser Mann, der angeblich Jahrzehnte gearbeitet hat für diese Bank, deren leuchtendenden Umriss wir anschauen können, währenddessen wir uns mit ihm unterhalten im Lichterschein des Osterfeuers, dort, in Frankfurt-Riedberg, ein Banker. Beiläufig räumt er unsere Bierflaschen ab und verspricht, neue zu holen. Die Flammen des Feuers nehmen uns in Beschlag. Kurz drängt er sich noch herein: Ich hab ganz plötzlich einen Termin in Fulda!

Die Pfandflaschen sind fort. Er auch. Es ist alles Betrug.

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