»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

Ein Springender Brunnen

»Die Japaner nehmen die Oberfläche ernst«, schreibt Ian Buruma in seinem A Tokyo Romance »Sie drängen gar nicht erst nach einem Inneren. Vermutlich aus Respekt vor dem Individuum.«

Sprach mich extrem an. Ich habe auch keinen Mut, nachzufragen. Vermutlich bin ich der schlechteste Journalist. Mehr und mehr Analogien des Japanischen fallen mir ein bei der Lektüre seines Buches zum Schweizerischen, an dem ich noch immer hart zu beißen habe. Beispielsweise gab es einmal dort diese Szene, als ich Beda um seine Unterschrift bitten mußte für ein Facsimile, das vom Layout gebraucht wurde. Und er warf es hin auf ein Blatt Papier, in seiner von mir längst gewohnten Schrift, aber dann stand dort: Achermann Beda. Meinen Einwand, dass dies nicht zulässig sei, beziehungsweise, dass ich den Schriftzug zerschneiden lassen würde, um die für deutsche Leser gewohnte Folge aus Vorname und Nachname herzustellen, ließ er nicht gelten. Stattdessen erzählte er mir von einem Turnier des Schwingens, der Schweizer Abart des Ringens, bei dem die Gegner ja auch auf diese Weise aufgerufen würden. Also steht im Heft jetzt »Achermann Beda.« Mir hat das imponiert.

Ich denke, es war Christian Kracht, der im Vorspann eines seiner Bücher einen kalifornischen Maler zitierte mit »Surface is an illusion/But so is depth.«

Bei Ian Buruma geht es freilich noch weiter mit seinen Schilderungen aus dem Tokio der siebziger Jahre. Wie einfach das alles noch war — auch ich kann mich noch an die achtziger Jahre erinnern, als man permanent jemandem vorgestellt wurde, auf Partys landete, dort wiederum von anderen angesprochen wurde und so fort. Das alles, das Miteinander, ist kompliziert geworden. Er schildert eine Szene, in der Kurosawa Araki eine Reklame für Whiskey aufnehmen muß, um Geld zu verdienen. Und in dem er, Ian Buruma, als Statist angeheuert war. Und wie er den im Hintergrund erstarrten Lavasaum des Fujijama beschreibt: das ist schon schade, das so etwas heute nicht mehr geht.

Im Orakelhain, fragend

Wann kommt der Emoji mit Bejkeles? Wann einer mit Kippa? Der Launch des längst angekündigten Seifen-Emojis (ein rosafarbenes Stück, das Schaumblasen trägt) wurde auf die zweite Jahreshälfte verschoben. Da frage ich mich doch, wie einst Walter Kempowski angesichts eines ihm zum Nachtisch des Mittagessens servierten Kirschpuddings ohne die von ihm vermisste Vanillesauce: Warum?

Jetzt setzt man sich schon wieder gern in den Schatten. Wo die Brise durch Millionen kleiner Birkenblätter streicht. Bei einem frühmorgendlichen Spaziergang entlang des Bundestagsufers waren die Dolden an den Kastanienbäumen dort malvenfarben aufgeblüht. A rare sight. In Zürich stand der Baum auf dem Vorplatz des Studios noch kurz vor der Vollendung. Als ich zwei Jahre zuvor schon einmal auf Montage gewesen war, hatte ich Yves, den getreuen Yves, nach dieser mir selten und kostbar erscheinenden Blütenfarbe gefragt — ob dies eine spezielle Kastanienart sei? 

»Der blüht so, in dieser Farbe, weil Beda das will.«

Es gibt so einen Baum, allerdings ist er noch jung und seine Äste reichen kaum aus, um wirksam Schatten zu spenden, auch bei mir draußen an der Uferpromenade. Von wo aus die Fährschiffe über den sogenannten See abgehen. Dort kann man, an den Wochenenden, eine unterhaltsame Mischung aus Gästen aller Art studieren. 

Ein Waschhaus gibt es auch. Zumindest was die Abteilung für Herren anbetrifft, sollte man sich beim Betreten des für deutsche Verhältnisse gut in Schuß gehaltenen Innenraums aber auf eine Sonderbarkeit gefasst machen. Dort tagen, gleich hinter der Bezahlsperre und hier direkt in dem von außen nicht einsehbaren Bereich um das Pissoir einige Männer rings um einen Monobloc-Gartentisch aus weißlichem Plastik und spielen Schach. Tritt man als Neuzukömmling herein, wird man freundlich, aber latent offensiv abgeschätzt. Es stellt sich heraus, dass es sich um Angehörige einer Generation von Hubert-Fichte-Lesern handelt. Insbesondere die Palette scheint ihnen wegweisend. Und so fragen sie, wer das Buch kennt, wird sich an Jäckis Erlebnisse dort in dem Hamburger Nachtlokal erinnert fühlen, ob man »Die Uhr aufgezogen wolle«.

Der humorige Kapitän des Ausflugsdampfers draußen, von dem ich neulich schon schrieb, akzentuiert die Frage, ob nun bewußt oder unbewußt, aber auf jeden Fall passenderweise mit einem dreifachen Tuut.

Die Krakauer mit Senf ist ganz okay. Alle jammern über den Lindenstaub.

 

Dominus providebit

Im Äther weben die Düfte von Kiefernharz und Boden. Der Flieder blüht in seinen Farben. Zu zweit rollen die Nachbarn eine raschelnde Topfpalme auf die Terrasse. Damit die auch mal die Sonne sieht.

Sände. Ins Strandbad ziehen sie ein, wie bewaffnet mit Wurfzelten und Schirmen. Unaufhörlich lappen die seichten Wellen des Wannsees am Land. Gestern noch, auch das ist Berlin, saß ich mit Eugenio Alphandery im Schatten eines Gingkobaumes. Der herrliche Greis zeigte mir eine seiner toskanischen Zigarren, deren Tabaksblätter, wie er betonte, seit jeher von toskanischen Mägden auf deren bloßen Schenkeln gerollt werden. 

»Und ich hoffe, dass die zuvor ein Peeling gemacht haben.«

»Oder womöglich ist das ihr Peeling«, sagte ich.

Herzliches Gelächter. Ja ja, der Sommer. Was der erst aus uns macht.

Und wenn die ganze Welt aus Kirschen wäre—wohin bloß mit den Steinen?

Disco Devil

Unter sich bezeichnen die Schweizer unser Land als den Grossen Kanton. Noch niemals zuvor in meinem Erwachsenenleben war ich so lange in der Schweiz gewesen. Vor allem hatte ich noch nie zuvor so viele Tage als Gastarbeiter für sie arbeiten dürfen. Das mit dem Kanton war nur ein Teil vom Geheimwissen, ich hatte über die zwei Wochen noch einiges mehr davon ansammeln können. Denn mit einem Mal, ich kann den Moment der Öffnung präzise benennen mit dem Abend, da ich zu dem Buffet eingeladen worden war, hatten sich selbst diejenigen von ihnen, die ich, beispielsweise Beda, schon länger nun als zwanzig Jahre kannte, sich mir als zutraulich gezeigt. Und das, wie es mir Jan einst über die Funktion des Geschlechtsverkehrs für Beziehungen beigebracht hatte: veränderte alles.

So weiß ich nun, analysiert anhand eines zwar kleinen, jedoch für mich repräsentativen Samples von Schweizern aus Zürich, dass deren abhaltende Haltung aus dem Hineingeborensein in ein Volk von Tourismusbetreibern sich verstehen läßt: »Lass ja niemanden, der bei dir zu Gast ist, in dein Herz, denn du wirst ihn verabschieden müssen; und wahrscheinlich nie mehr wiedersehen dürfen.«

Nach alldem, was wir danach noch miteinander erlebt hatten, ging mir dieser Spruch nicht mehr weg. Ich sah sie, meine schweizer Freunde, von da an in einem neuen Licht. Verbunden damit, sie nie an meinem Verlustigwerden leiden lassen zu wollen.

In der Bahn dann, wir hatten soeben die Grenze auf badisches Gebiet überquert, schaute ich durch die Fenster auf die Spargelplantagen. Auf grünende Bäume. Und allzu bald änderte sich auch in dem ununterbrochen dahinfahrenden Zuge der Ton, so dass ich mich nun endlich zuhause angekommen fühlen musste. Doch fühlte ich einen inneren Abstossungsprozess. Ich hatte, ganz klar, im Paradies gelebt für zwei Wochen. Was mich jetzt erwartete war die Heimat, war Deutschland, es war der Grosse Kanton, aber: warum bloß konnte ich diese Heimkehr nicht als eine solche empfinden? Warum war mir, innerlich, eher zumute nach einem einzigen, heillosen Saubannerzug?

Bei der Einfahrt nach Esseda spürte ich die Frühlingsluft. Und Friederike eröffnete mir, dass die Mume gestorben war — vermutlich, denn sie hatte am Morgen eines der uns wohlbekannten Kopftücher im Container für Plastikabfälle gefunden (und zum Beweis fotographiert.)

Immerhin also sachgerecht entsorgt. Wir fragten uns natürlich, ob es jetzt spektakuläre Trauerrituale dort in der unter uns gelegenen Wohnung geben würde, die ich mitschreiben könnte. Ihre uns vertrauten Plüschpantoffeln standen allerdings wie eh und je vor der mumischen Wohnungstür.

Es schlossen sich daran an die herrlichsten Tage. Ich stand ja noch immer sehr stark unter dem Eindruck meines Hausbesuches bei Lee Scratch Perry in der Wallfahrtsgemeinde Einsiedeln. So saßen wir tagelang auf dem Balkon, tranken Campari und lauschten den alten Aufnahmen, die er noch in seinem Black-Ark-Studio auf Jamaika produziert hatte.

Lucifer, son of the mourning/I‘m gonna chase you out of earth!

Die Schweiz steht auf der Tabelle des Humanity Development Index auf dem zweiten Platz. Übertroffen hier bloß noch von Norwegen. Die Bundesrepublik Deutschland folgt auf Platz 3. und zwischen der Schweiz und dann Deutschland kommt, wie es scheint, sehr lange nichts. Von daher will ich mir gar nicht vorstellen, wie es in den Vereinigten Staaten zugeht, denn die werden auf elfter Stelle geführt. Ich hatte diese Liste erst nach meiner Abreise entdeckt, ansonsten wäre ich £$P wahrscheinlich noch einmal ganz anders entgegengetreten. Jamaica steht ja eher auf einem dreistelligen Platz im HDI. Er, Lee Scratch Perry, ist ja nach all seinen Fahrten noch immer er selbst geblieben, wie es mir schien. Und dass er nun dort in den Bergen lebt, irgendwann auch dort sterben wird wahrscheinlich, das muss ihm doch wie ein Wunder erscheinen, oder? Wie dieses Wiedergeborensein, von dem er bisweilen spricht.

Bei der Heimkunft in Berlin: Immerhin Hauptstadt der Kastanienblüte. Und in den Straßen des Bergischen Viertels blüht der Rotdorn. Das weckt Erinnerungen an die Sommer auf Gut Ostergaard in Steinbergkirche, eingebettet in die Rapsfelder rings der Geltinger Bucht. Nachts dann die Nachtigall ab ein Uhr. Hat wohl noch immernoch keine gefunden. Wir zählen schon Mai! Im Aquarium des kleinen chinesischen Restaurant, das es seit mir unwirklich scheinenden 25 Jahren schon geben soll in meinem Viertel, dreht ein Schulbushaft (amerikanisches Modell) gefärbter Fisch seine Runden um eine gefühlvoll winkende Anemone, die wie ein Wischmopp ausschaut.

Wahrscheinlich, dachte ich bei mir, war der beste Satz, den Bret Easton Ellis bislang verfasst hatte, doch der letzte in Glamorama.

Und eigentlich war ich wie dieser Fisch.

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